(Red.) Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass man in den europäischen Medien echt negative Stories über Russland lesen kann. Dass dort zig Millionen Menschen durchaus zufrieden ihr Leben leben, passt nicht ins Bild des Westens, der für seine machtpolitisch motivierte Russlandfeindlichkeit ja Begründungen braucht. Stefano di Lorenzo, gebürtiger Italiener mit Sprachstudium in Deutschland, hat eben ein Jahr lang in Moskau gelebt und ärgert sich – zu Recht! – über all die üblen Geschichten, die man im Westen über Russland sehen, hören und lesen kann. Und er ist gerade wieder unterwegs – erneut nach Moskau, denn das Leben hat ihm dort durchaus zugesagt.(cm)

Heute sind sogenannte Faktenchecker in Mode. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht darin, die europäische und amerikanische Öffentlichkeit ununterbrochen darüber aufzuklären, dass Russland in der Unwahrheit lebt, in der totalen Lüge. Die Wahrheit sei in Russland unmöglich und werde sogar bestraft. Wir Westler hingegen können stolz darauf sein, dass wir uns bewusst für den Weg der Wahrheit entschieden haben. Und eben darin unterscheiden wir uns vom Rest der Welt, seien es Russen, Chinesen, Araber oder Iraner. Das sind zwar offensichtlich Vereinfachungen auf kindlichem Niveau, was dabei aber nicht stört, dass solche Narrativen tagein tagaus vor unseren Augen gespielt werden und dass eine Mehrheit der Leute auch fest daran glaubt. 

Doch selbst wir im Westen, die einzigen wahren Verehrer der Wahrheit auf der ganzen Welt, verbreiten Mythen und Halbwahrheiten über andere Länder, die sich nicht gerade wie Komplimente anhören. Hier wollen wir eine Reihe von Mythen, Klischees und Unwahrheiten anschauen, die täglich über Russland verbreitet werden, ohne dass westliche Experten und Besserwisser aller Art ihre Glaubwürdigkeit einbüßen oder ihre Gehälter eingestellt werden. In einer rationalen Diskussion sollte der Hinweis auf diese und andere Ungenauigkeiten nicht gleich mit dem Vorwurf einer angeblichen Kremlfreundlichkeit begrüßt werden. Denn wie Aristoteles schon sagte, liegt die Wahrheit oft in der Mitte. Etwas, was für uns im Westen immer schwieriger zu verstehen scheint.

Die Geschichte der Klischees über Russland ist lang. Und das Thema ist wichtig: Auch die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs hat ihm kürzlich einen Artikel gewidmet, ein ehemaliger russischer Kulturminister vor einigen Jahren sogar ein Buch. In einer Zeit, die Lichtjahre von unserer Ära des (falschen) Triumphs der politischen Korrektheit entfernt zu sein scheint, nannte der deutsche Ex-Kanzler Helmut Schmidt bekanntlich die Sowjetunion „Obervolta mit Atomraketen“. Eine herablassende Anspielung auf das bettelarme afrikanische Land Obervolta, das heute als Burkina Faso bekannt ist. Eine vor einigen Jahren veröffentlichte Geschichte Russlands, die von einem angesehenen ehemaligen BBC-Journalisten und Moskau-Korrespondenten, Martin Sixsmith, geschrieben wurde, trug den Titel „Russland: Der wilde Osten“. Diese und viele andere Klischees über Russland leben auch heute noch weiter. Offensichtlich gilt die politische Korrektheit, der Katechismus unserer Zeit, nicht für Russland. 

Man muss Russland nicht lieben und pro-russisch sein, aber es ist notwendig, ein wahrheitsgetreues Bild von ihm zu haben — nicht zuletzt, um Probleme und Missverständnisse zu vermeiden. Auch Foreign Affairs schrieb: „Der Mythos, den die Amerikaner von Russland haben, ist auch eine Falle, die dazu führt, dass politische Entscheidungsträger den Kreml falsch verstehen und Gelegenheiten verpassen, das Regime zu schwächen oder Kompromisse zu finden. Um gefährliche Fehlinterpretationen zu minimieren, muss die US-Führung härter daran arbeiten, sich von diesen Mythen und Archetypen zu lösen. Ein besseres Verständnis der eigenen Mythen der Vereinigten Staaten — und der russischen — würde den US-Politikern mehr Flexibilität verleihen, strategisches Einfühlungsvermögen fördern und künftige Veränderungen in der russischen Politik vorwegnehmen“.

Also schauen wir jetzt, welches die gängigsten Mythen über Russland sind.

Mythos Nr. 1:
Die Russen sind von der Wahrheit und der Welt völlig isoliert, sie haben keinen Zugang zu wahrheitsgemäßen Informationen jeglicher Art.

Eine logische Folge dieser Annahme ist: Wenn sie nur die Wahrheit, unsere Wahrheit, kennen würden, würden die Russen Buße tun. Natürlich gibt es heute in Russland eine Zensur, wie es in einem Land, das sich im Krieg befindet, die Regel ist — siehe die Ukraine, wo die Medien gleichgeschaltet worden sind. Aber in Russland gibt es auch nicht nur das Staatsfernsehen, das von westlichen Beobachtern gerne so betrachtet wird, als wäre es das einzige Informationsmedium in Russland. Heute hat jeder ein Telefon, und Russland hat eine der höchsten Internetzugangsraten der Welt. Viele westliche Medien- und Social-Media-Seiten sind zwar blockiert und nur mit einem VPN zugänglich, einem in Russland zunehmend beliebten Dienst, mit dem man das Land des Internetzugangs wechseln kann. Aber eben nicht alles ist in Russland blockiert. Die Webseite der BBC zum Beispiel ja, die Seite der CNN, der New York Times oder der ARD nicht. Übrig bleiben WhatsApp, Telegram und YouTube, die in keiner Weise eingeschränkt sind und über die man auf alle Informationen und Kanäle zugreifen kann, die man sich wünschen könnte.

Mythos Nummer 2:
In Russland wird alles von einem einzigen Mann entschieden. 

Russland ist zweifelsohne ein autoritäres System. Aber Putins Macht ist nicht unbegrenzt. Selbst die britische Denkfabrik Chatham House hat darüber geschrieben: „Es ist verlockend zu glauben, dass Wladimir Putin alle wichtigen Entscheidungen in Russland allein trifft, dass Politiker und Bürokraten Putins Befehle in einem System, das als Machtvertikale bekannt ist, ohne Fehler ausführen und dass politische Institutionen wie die nationale Legislative und die regionalen Behörden lediglich dazu dienen, Putins Wünsche umzusetzen“. Man kann dem Chatham House kaum vorwerfen, pro-russische Sympathien zu hegen. 

Kurz gesagt, auch Russland hat ein komplexes Regierungssystem, in dem etliche Organe versuchen, ein Gleichgewicht und einen Kompromiss zwischen verschiedenen politischen Kräften zu finden. Putin fungiert dabei als eine Art Überwacher. Die Funktionsweise der russischen Politik auf eine Psychoanalyse Putins zu reduzieren, so faszinierend sie auch sein mag, ist Unsinn und Zeitverschwendung. 

Wie Foreign Affairs auch schrieb: „Der Mythos der Vereinigten Staaten über Russland — dass Russland eine böse und ehrgeizige Tyrannei ist — hat einen gewissen innenpolitischen Nutzen. Um nach innen gerichtete Amerikaner für die Außenwelt zu interessieren, muss Washington einen einzigen allmächtigen Bösewicht heraufbeschwören. Die Amerikaner wollen glauben, dass sie gegen einen Einzelnen kämpfen, der getötet werden kann, und nicht gegen ein ganzes Land, das unterworfen werden muss. In einer Krise nach der anderen werden Vergleiche mit Hitler herangezogen, um die demokratieliebenden, aber selbstgefälligen Amerikaner zum Handeln zu bewegen. Putin ist einfach der jüngste in einer langen Reihe autokratischer Führer — Saddam Hussein, Slobodan Milosevic, Muammar al-Qaddafi und Bashar al-Assad, um nur einige zu nennen —, die als alleinige Verhinderer von Demokratie und Fortschritt dargestellt werden“.

Mythos Nr. 3:
Russland ist ein armes Land, das nichts kann. 

In Europa und Amerika scheint immer noch der Mythos von einem Russland mit einer Dritte-Welt-Wirtschaft weit verbreitet zu sein, einem Land, in dem verzweifelte Menschen bereit sind, alles, was sie besitzen, für ein Stück Brot oder einen gebrauchten Mercedes zu verkaufen. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands soll dem Italiens entsprechen, heißt es oft, und die Bevölkerung Russlands ist mindestens doppelt so groß wie die Italiens. Die wirtschaftliche Realität hängt jedoch sehr stark vom Kosten- und Preisniveau in einem Land ab. Wenn die Löhne doppelt so hoch sind, die Preise aber dreimal so hoch, wer lebt dann besser? Deshalb wird das Bruttoinlandsprodukt gerne in Kaufkraftparität betrachtet. Legt man dieses Kriterium zugrunde, so konkurriert Russland heute mit Deutschland — nach den verschiedenen Berechnungen des IWF, der Weltbank und der CIA — um den Platz der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Betrachtet man hingegen das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, so rangiert Russland auf Platz 55. 

Es muss auch gesagt werden, dass in einem so großen Gebiet wie Russland die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zwangsläufig sehr groß sind. Und das Bruttoinlandsprodukt allein ist immer noch ein unvollkommenes Maß für den Entwicklungsstand eines Landes. Nach dem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen berechneten Index der menschlichen Entwicklung, der nicht nur das Einkommen pro Kopf, sondern auch die Lebenserwartung und das Bildungsniveau berücksichtigt, gehört Russland zur Gruppe der Länder mit einem sehr hohen Index der menschlichen Entwicklung. 

Mythos Nummer 4:
Russland will Europa angreifen. 

Die Ukraine kämpft, um Europa und unsere Werte zu verteidigen, so hört man es jeden zweiten Tag. Russland sei also eine bösartige und rückschrittliche Macht, die den Fortschritt und die Freiheit hasse, die wir im Westen und nur wir im Westen genießen. Daher könne Russland nur eine Bedrohung für Europa sein, das in seinem unendlichen Hunger nach Macht und Territorium gar nicht anders könne, als Europa zu bedrohen und vielleicht sogar in Europa einzumarschieren. Die französische Zeitschrift Le Monde Diplomatique schrieb vor einigen Wochen über den angeblichen „Imperialismus“ Russlands. Der legendäre russische Eroberungsimperialismus habe nichts furchtbar Russisches an sich, sondern sei ein Prozess der Zentralisierung und Konsolidierung einer Nation. Ähnliche Prozesse konnte man in allen europäischen Staaten im Laufe der Jahrhunderte beobachten. 

Wenn Russland ein Problem hat, dann ist es die Demographie. Die Geburtenrate ist niedrig, es gibt nicht genug Männer. Wenn der heutige demographische Trend so weitergeht, wird Russlands Problem nicht sein, neue Gebiete einzuverleiben, sondern sein Territorium mit genug Leuten zu besiedeln.

Mythos Nummer 5:
Russland will die Sowjetunion wiederaufbauen. 

Ein Korollar, eine logische Ableitung aus dem vorherigen Mythos. Putin wird oft zitiert, wenn er den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte geopolitische Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Daher sei es Putins und Russlands Wille, das verlorene Imperium wiederherzustellen. Das würde natürlich eine Invasion der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland und die Rückeroberung des gesamten sowjetischen Raums und seiner Satelliten bedeuten. Und nicht nur das: Russland wolle den liberalen Kapitalismus abschaffen und die Planwirtschaft wieder einführen.

Die Sowjetunion war ein historisches Experiment, das durch mehrere Umstände begünstigt wurde, vor allem durch den Zusammenbruch des Zarenreichs während des Ersten Weltkriegs und nicht zuletzt durch die großzügige Finanzhilfe der damaligen deutschen Regierung für die bolschewistischen Revolutionäre. (Auch die Schweiz hat ihren Beitrag geleistet, indem sie geholfen hat, den im Schweizer Exil lebenden Lenin in einem versiegelten Güterwagen nach Russland zu schmuggeln. Red.) Nachdem der bolschewistische Kommunismus überraschend den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg überlebte und triumphierend aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, wurde er innerhalb zweier Generationen von den „animalischen Geistern“ der wirtschaftlichen Bedürfnisse des alltäglichen Lebens auf den Kopf gestellt. Insgesamt dauerte das sowjetische Experiment nicht einmal 75 Jahre. Heute mögen viele Russen eine Art jugendliche Nostalgie für die imperiale Pracht der Sowjetära empfinden, aber nur wenige haben Nostalgie für die wirtschaftliche Realität jener Zeit. Die Wählerunterstützung für die Kommunistische Partei ist gering und nimmt von Jahr zu Jahr ab.

Mythos Nummer 6:
Vor dem Maidan kontrollierte Russland die Ukraine. 

Die Maidan-Revolution — mit großzügiger „Hilfe“ aus Europa und den USA — markierte einen entscheidenden Wendepunkt nicht nur in der Geschichte der Ukraine, sondern in der Geschichte Europas. Für viele in der Ukraine war die Revolution der eigentliche Moment der Geburt der Nation. Die autobiografische Erzählung der Ukraine sah die Einführung des Diskurses eines russischen Kolonialismus in der Ukraine. Andere, nicht nur in der vom Feuer der Revolution entflammten Ukraine, sondern auch in Europa, sprachen von einem tausendjährigen Krieg (sic!zwischen Russland und der Ukraine. Die russische Kontrolle der Ukraine soll bis zum Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch gedauert haben. Die Ukraine hat jedoch mindestens seit 1991, als sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Staat anerkannt wurde, unabhängig von Russland gehandelt. Zwischen 1991 und 2013 gab es mehrere Differenzen und Streit zwischen Russland und der Ukraine. Die Ukraine (oder genauer gesagt, die ukrainischen Regierungen), in der die Mehrheit der Bevölkerung Russisch sprach, entschied sich bewusst für eine Politik der Ukrainisierung, die als „Rückkehr zur Muttersprache“ präsentiert wurde. Bereits in den 1990er Jahren war von einem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine die Rede. Im Jahr 2004 fand die erste antirussische Revolution, die so genannte Orange Revolution, statt. Der Sieger, der pro-amerikanische Juschtschenko, regierte fünf Jahre lang, von 2005 bis 2010, und trug in seiner antirussischen Funktion zur unaufhaltsamen Annäherung der Ukraine an die Europäische Union und die NATO bei. Einer seiner letzten Amtshandlungen vor der Übergabe an den siegreichen Janukowitsch im Jahr 2010 war ein Dekret, mit dem die ukrainischen Nationalisten und Nazi-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch zu Nationalhelden ernannt wurden. Janukowitsch selbst kann kaum als prorussischer Präsident bezeichnet werden, geschweige denn als Marionette Moskaus. Denn selbst Janukowitsch hatte sich bis kurz vor dem Putsch von 2014 für die Integration der Ukraine in die Europäische Union eingesetzt

Mythos Nummer 7:
Russland versteht nur die Sprache der Gewalt. 

Die Aufregung um das Interview des amerikanischen Journalisten Tucker Carlson mit dem russischen Präsidenten Putin hat die Frage neu aufgeworfen, ob man mit Russland reden kann. Im Westen ist man zu der Überzeugung gelangt, dass jede Form des Dialogs mit Russland zwangsläufig unmöglich sein muss. Russland sei als autoritäres und illiberales Regime bar jeder Vernunft und verstehe nur die Sprache der Gewalt. Doch die monatelangen Verhandlungen, die dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 vorausgingen, belegen das Gegenteil zu belegen. Russland suchte die diplomatische Lösung. Der Westen wollte aber mit Putin nicht verhandeln. Auch die Minsker Vereinbarungen, die Russland unterzeichnete, sorgten zumindest dafür, dass die Intensität des Konflikts im Donbass sieben Jahre lang stark abnahm. Man denke auch an die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in den ersten Tagen unmittelbar nach der Invasion, als eine Einigung zwischen den beiden Ländern bereits in greifbarer Nähe war: Die Ukraine hätte ihre Gebiete — mit Ausnahme der Krim und wahrscheinlich Teilen des Donbass — im Gegenzug für Neutralität behalten können. Leider scheiterten diese Vereinbarungen nicht zuletzt an der Einmischung des Westens, und nicht wegen eines Russlands, das beschlossen hatte, auf Kosten der Diplomatie alles auf den Krieg zu setzen.

Mythos Nummer 8:
Russland leugnet die Existenz der ukrainischen Nation. 

Im August 2021 veröffentlichte der russische Präsident Putin einen langen historischen Essay mit dem Titel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“. Wenn Putin sagte, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, bedeutete das nach Ansicht von Kritikern, dass er die Existenz des ukrainischen Volkes völlig leugnete. Dies erscheint jedoch als eine erzwungene Interpretation. Das Narrativ, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, muss nicht bedeuten, dass es keine Ukrainer gibt. Es bedeutet, dass Russen und Ukrainer gemeinsame Ursprünge und sehr enge familiäre, soziale, historische und kulturelle Bindungen haben. Eine Tatsache, die für jeden, der ein wenig über Russland, die Ukraine und ihre Geschichte weiß, unbestreitbar scheint. Bis vor hundert Jahren nannten zum Beispiel die Ukrainer selbst ihre Sprache „ruska mowa“, „rusische Sprache“, mit nur einem „s“ also. Die russische und die ukrainische Identitäten waren also fluide, nicht starre Kategorien eines urvölkischen Geistes der Nationen. 

In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine wird die ukrainische Sprache auch heute noch als Fremdsprache unterrichtet. Die Russen sind sich der Besonderheiten der ukrainischen Identität sehr bewusst, und niemand hat die Absicht, sie auszuradieren. Und die ukrainische Identität bleibt in jedem Fall ein komplexes Phänomen: Das „Ukrainertum“ von L’wiw ist nicht dasselbe wie das „Ukrainertum“ in Odessa oder Charkiw.

Mythos Nummer 9:
Russland ist ein Land mit patriarchalischer und sexistischer Kultur, Frauen werden diskriminiert und leiden unausstehlich darunter. 

In den letzten Jahren sind westliche Medien nie müde geworden, das Klischee vom russischen Präsidenten Putin als unverbesserlichem Macho zu wiederholen. Das Symbol eines von Männern dominierten Landes und einer rückschrittlichen Kultur, die allergisch auf Feminismus reagiert. Zwar scheint die Politik in Russland vor allem eine Männerdomäne zu sein. Doch ist es falsch, dies zu verallgemeinern und von einer weit verbreiteten Diskriminierung von Frauen in Russland zu sprechen. Auch am Arbeitsplatz. In Deutschland und in vielen anderen westlichen Ländern scheint das Thema Frauen in Führungspositionen heute eines der drängendsten zu sein. In Russland ist das kein Problem. Laut einer Studie des amerikanischen Beratungsunternehmens Grant Thornton International gab es in Russland schon 2015 mehr Frauen in Führungspositionen als in jedem anderen Land der Welt, der Anteil der Frauen betrug 45%. Unter den westlichen Ländern lag Finnland mit 40% an erster Stelle. Amerika kam auf 22%, Deutschland auf 15%. 

Seit der bolschewistischen Revolution wurden Männer und Frauen in Russland als gleichberechtigt angesehen, Frauen wurden ermutigt, sich zu emanzipieren und wie die Männer in den Fabriken zu arbeiten oder Ingenieur zu werden!

Allerdings muss man zugeben, dass vielen Frauen in Russland ihr Land noch nicht feministisch genug ist. Anscheinend würden viele es lieber sehen, beruflich oder gesellschaftlich den Männern noch gleichgestellter zu sein, aber weiterhin als Frauen gesehen zu werden, das heißt im Alltag verwöhnt und umworben, z. B. wenn es darum geht, für ein Abendessen oder eine Auslandsreise zu bezahlen.

Mythos Nummer 10:
Russen hassen den Westen. 

Zum Abschluss noch einer der hartnäckigsten Mythen. Der heutige Konflikt in der Ukraine zwischen Russland und dem Westen sei das Ergebnis des angeborenen Hasses Russlands auf Freiheit und Demokratie, deren ultimativer Ausdruck und Verkörperung der Westen sei. Das böse Russland sei also ein Feind der Freiheit, eines der Grundprinzipien unserer Zivilisation. Sicherlich hat die antiwestliche Rhetorik in den letzten zwei Jahren zugenommen, Russland ist sich bewusst, dass es in der Ukraine nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen ein Bündnis westlicher Staaten kämpft. Doch die antiwestliche Rhetorik in Russland ist immer noch weit weg von der gegenwärtig stark verbreiteten antirussischen Rhetorik im Westen, die in den letzten Jahren wahre McCarthy’sche Züge angenommen hat. Bis in die letzte Zeit des Krieges in der Ukraine bestanden Putin und viele andere russische Politiker und Experten darauf, westliche Politiker als „unsere westlichen Partner“ zu bezeichnen. Nicht ohne eine gewisse Ironie, aber dennoch ein interessantes Phänomen, das eine Offenheit für den Dialog zum Ausdruck brachte. Sicherlich nicht die Art, in der sich der Feind einer Zivilisation äußern würde! Der Konflikt zwischen dem Westen und Russland ist kein Konflikt der Zivilisationen. Viele Russen bewundern den Westen und lieben die europäische und amerikanische Kultur immer noch. Auch wenn sie vielleicht angefangen haben, den Westen weniger zu respektieren. Denn Respekt als Gefühl muss immer auf einer gewissen Gegenseitigkeit beruhen.

(Red.) Siehe dazu auch «Achtung! Hinter diesem Bär steckt Putin!» von Christian Müller, geschrieben im Jahr 2018 und publiziert auf Infosperber, wobei dort, warum auch immer, jetzt die Bilder fehlen. Immer noch zu sehen ist ein Video «Mascha und der Bär».

PS vom Freitag, 16. Februar 2024, 20 Uhr: Wie man hat lesen können, ist der russische Oppositionelle Aleksei Navalny in der Haft verstorben. Und natürlich weiss US-Präsident Joe Biden bereits, dass Putin ihn hat ermorden lassen: Siehe die NYT.

Als Navalny vor ein paar Jahren vergiftet wurde, hat Putin erlaubt, ihn nach Deutschland in eine Spezialklinik zu fliegen, um ihn zu retten, was dann auch gelang. Hält Biden Putin wirklich für so dumm, Navalny ausgerechnet kurz vor den Wahlen umzubringen? Ähnliche Kommentare wird es aber auch in anderen Medien geben. Dass Navalny jener Mann war, der öffentlich sagte, die muslimischen Einwanderer seien wie Kakerlaken und gegen diese sei es empfehlenswert, die Pistole einzusetzen, wird wohl niemand mehr erwähnen (siehe hier). (cm)