aus:
Prestel-Museumsführer, Text von Denise Daenzer und Tina
Wodiunig: Indianermuseum der Stadt Zürich; Prestel-Verlag;
München, New York 1996; gefördert durch die
Cassinelli-Vogel-Stiftung, Zürich, MIGROS Kulturprozent,
Volkart-Stiftung, Winterthur; ISBN 3-7913-1635-4
<Kulturvielfalt
und Kulturverlust
[Die verschiedenen
geographischen und klimatischen Bedingungen]
Die Kultur der nordamerikanischen Indianer [Primärnationen]
hat weder gleichförmige Inhalte noch einheitliche Formen.
Ähnlich wie sich in Europa zwischen dem Nordkap und Sizilien
nach und nach verschiedene Lebens- und Ausdrucksweisen
herausgebildet haben, sind auch die nordamerikanischen
Indianerkulturen in ihrem Gehalt und ihrer Gestalt von sehr
unterschiedlicher Ausprägung. Das hat mit den
kontrastreichen topographischen, klimatischen und
wirtschaftlichen Existenzbedingungen der indianischen Völker
zwischen dem arktischen Norden und den südlichen
Wüstengebieten zu tun, aber auch mit den vielgestaltigen
geschichtlichen Prozessen, von denen das indianische Leben
bestimmt wurde. Um diesen verschiedenartigen Einflüssen
Rechnung zu tragen, unterscheidet die Ethnologie auf dem
nordamerikanischen Kontinent heute zehn Regionen: Arktis,
Subarktis, Nordwestküste, Kalifornien, Südwesten, Grosses
Becken, Plateau, Prärien und Plains, Südosten und Nordosten.
Karte
Nord-"Amerikas" mit der Einteilung in verschiedene
Kulturlandschaften der Primärnationen ("Indianer")
1. Südosten - 2. Südwesten - 3. Prärie und Plains - 4.
Grosses Becken - 5. Kalifornien - 6. Nordwestküste -
7. Plateau - 8. Nordosten - 9. Subarktische Region - 10.
Arktische Region
Auch bei der Museumsarbeit geht es immer wieder darum, die
vielfältigen Lebens- und Gestaltungsformen dieser
Kulturlandschaften sichtbar und auch spürbar zu machen,
ihren Entwicklungen nachzugehen, ihre Unterschiede und
Gemeinsamkeiten zu erkunden. Eine der wichtigsten
Gemeinsamkeiten nordamerikanischer Kulturen ist ihr
pragmatisches Verhältnis zum künstlerischen Schaffen, wobei
das Wort "Kunst" bezeichnenderweise in keiner indianischen
Sprache vorkommt. Denn die "Kunst" dieser Gesellschaften
diente - zumindest in vorkolumbianischen Zeiten - stets
einem konkreten Zweck. Eine "l'art pour l'art" [Kunst nur
der Kunst wegen] gab es damals nicht. Darüber hinaus hatten
und haben indianische Gebrauchsgegenstände neben ihrer
funktionalen Zweckbestimmung oft gleichzeitig eine Bedeutung
sozialer und religiöser Art. So sind handwerkliche
Tätigkeiten häufig von rituellen Handlungen begleitet oder
setzen sogar eine spirituelle Berufung voraus - was zum
Beispiel auch für die Arbeit des Jägers gilt. Das liegt in
der Vorstellung begründet, dass für bestimmte Fähigkeiten
und Fertigkeiten Voraussetzungen notwendig sind, die man in
sich trägt und nicht ohne weiteres erlernen kann.
[Die Kulturveränderungen
durch den weissen Imperialisten]
Mit dem Vorrücken der Weissen sind die indianischen Kulturen
zum Teil verdrängt, vernichtet oder stark verändert worden.
Vor allem auch durch bisher unbekannte Materialien wie
Metalle, Glasperlen oder farbige Stoffe, aber auch durch
neue Werkzeuge und Arbeitstechniken, die man von den Weissen
(S.6) übernommen hat, wandelten sich die Gestaltungsformen
in vielen Handwerks- und Lebensbereichen. Charakteristisch
dafür ist die Entwicklung der Silberschmiedekunst bei den
Navajo und Zuñi sowie der Übergang von den alten
Quillworktechniken (vgl. S. 85-93) zur Perlenstickerei, die
erst durch die Einfuhr europäischer Glasperlen [aus Europa]
möglich wurde. Obwohl sich dabei die klassischen Ornamente
der Quilltradition mehr und mehr mit europäischen Mustern
vermischt haben, wird heute gerade die Perlenstickerei als
"typisch indianisch" gehandelt.
Dieser Wandel ist nicht zuletzt eine Folge der stetig
steigenden Nachfrage nach altem und neuem indianischen
Kunsthandwerk - sowohl für den touristischen Binnenmarkt als
auch für den internationalen Export. Diese wiederum hat dazu
beigetragen, dass neben dem legalen Markt ein immer
umfangreicherer illegaler Handel mit indianischen
Kulturgütern entstanden ist. Auf der anderen Seite führte
das erstarkte Selbstbewusstsein einer neuen Generation von
Indianerinnen und Indianern zu immer entschiedeneren
Forderungen nach der Rückgabe von Sammlungsobjekten an die
Vertreter der Herkunftskulturen. In diesem Zusammenhang
müssen sich viele ethnographische Museen - auch das Zürcher
Indianermuseum - sowohl mit dem Problem der Rechtmässigkeit
ihres Eigentums auseinandersetzen als auch mit der
Grundsatzfrage: wem gehört die Vergangenheit? Dabei geht es
nicht nur um das Ermitteln der Umstände, welche die Museen
in den Besitz ihrer Sammlungen gebracht haben, sondern vor
allem auch um die Frage, was für ein Verhältnis wir zu den
Dingen haben, die wir besitzen oder die uns vorübergehend
anvertraut sind.
Ein anderes Thema, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt,
ist die Frage nach dem Wertwandel und "Kulturverlust", den
ein Gegenstand dadurch erfährt, dass er aus seinem
ursprünglichen Lebenszusammenhang herausgenommen und in die
Vitrine eines Museums verfrachtet wurde. Diese Frage nach
dem einstigen Sinn und Zweck des ausgestellten Objekts, nach
den Hintergründen seiner Oberfläche, nach seinen früheren
materiellen, ästhetischen, emotionalen, sozialen oder auch
religiösen und mythischen Bezügen und Bedeutungen, die sich
vielleicht im Laufe der Zeit verändert haben oder vergessen
worden sind - diese Fragen muss das Museum immer wieder neu
formulieren und zu beantworten suchen.
Denise Daenzer, Tina Wodiunig> (S.7)
[Die im Museumsführer erwähnten Primärnationen sind:
Primärnation der Bella Coola: Schnitzerei
Primärnation der Blackfoot: Federschmuck
Primärnation der Cheyenne: Perlenstickerei
Primärnation der Dakota: Quillflechterei / Federschmuck /
Tabakpfeifen
Primärnation der Delaware: Quillflechterei
Primärnation der Haida: Schnitzerei
Primärnation der Hopi: Flechterei / Töpferei /
Kachina-Puppen
Primärnation der Hupa: Flechterei
Primärnation der Huronen: Tabakpfeifen
Primärnation der Irokesen: Perlenstickerei
Primärnation der Kwakiutl: Schnitzerei
Primärnation der Lakota: Federschmuck
Primärnation der Makah: Flechterei
Primärnation der Micmac: Quillflechterei
Primärnation der Mound: Tabakpfeifen
Primärnation der Navajo: Schmuck mit Silberschmuck und
Türkissteinen
Primärnation der Nootka: Flechterei / Schnitzerei
Primärnation der Pawnee: Federschmuck
Primärnation der Pima: Flechterei
Primärnation der Ojibwa: Quillflechterei und Perlenstickerei
Primärnation der Oglala: Quillflechterei und Perlenstickerei
/ Federn / Tabakpfeifen
Primärnation der Pueblos in San Ildefonso: Töpferei
Primärnation der Pueblos in Acoma: Töpferei
Primärnation der Seneca: Quillflechterei / Federschmuck /
Tabakpfeifen
Primärnation der Sioux: Quillflechterei und Pferlenstickerei
/ Federschmuck / Tabakpfeifen
Primärnation der Santée: Quillflechterei
Primärnation der Teton Sioux: Quillflechterei
Primärnation der Slave: Quillflechterei
Primärnation der San Carlos Apachen: Flechterei
Primärnation der Tlingit: Hornschnitzerei / normale
Holzschnitzerei
Primärnation der Tsimshian: Schnitzerei
Primärnation der Zuñi: Schmuck mit Silberschmuck und
Türkissteinen]
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