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von Anna Krasnopërko
Präsentation von Michael Palomino (2001 / 2007)
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veröffentlicht in:
Druschba narodov ("Völkerfreundschaft"), Moskau, August 1989. Übersetzung aus dem Russischen: Uwe Gartenschlaeger, Joachimstr.11, 53113 Bonn. Druck: Haus Villigst, 1991, D-58239 Schwerte, Tel. 02304/755 230
Krasnopërko wird gesprochen: Krasnopjorka
Einleitung
Das vorliegende kleine Werk ist geschichtlich sehr wertvoll, was die Rahmenhandlung und die Schilderungen der Strukturen des Lebens der Juden zwischen den verschiedenen Fronten im Krieg anbetrifft. Es gilt jedoch, wesentliche Einschränkungen zu machen, die bis zur Perestroika unter Gorbatschow bis 1985 nicht gemacht wurden:
Die Autorin lässt die Unterscheidung zwischen deutscher Besatzungsmacht und den Kollaborateuren meist vermissen. Sie scheint im Feindbild gegen "die Deutschen" gefangen zu sein, das nur einmal differenziert wird. Gemäss der neueren Literatur sind vor allem Polizisten und Ghettowächter aus einheimischen Kräften rekrutiert worden, so dass die jüdische Bevölkerung der Hetze gnadenlos ausgeliefert war und laufend verraten wurde (Tec: Bewaffneter Widerstand, 1996, Chiari: Alltag hinter der Front, 1998).
Die Autorin gibt weiter an, sie hätte einige Namen erfinden müssen, weil sie sich nicht mehr an alle Namen erinnere. Leider macht sie aber nicht die Angabe, welche Namen echt und welche erfunden sind, und nur manchmal ist das Zitat fremder Aufzeichnungen angegeben.
Die Rahmenhandlungen und Schilderungen der Strukturen sind jedoch sehr wertvoll, insbesondere die Schilderungen deutscher und europäischer Juden in Minsk und die Schilderungen der Verhältnisse der Juden untereinander. "Gute Deutsche", "schlechte Deutsche", Verräter aus der einheimischen und der jüdischen Bevölkerung wie auch Provokationen durch kommunistische Äusserungen sind - in dem möglichen knapp bemessenen Mass des Werkes - detailliert geschildert. Der Höhepunkt der Grausamkeit wird in dem Moment erreicht, wo deutsche Juden Minsker Juden begraben müssen. Ab diesem Zeitpunkt kommt es zur Organisation von Fluchtoperationen mittels leicht fälschbarer Geburtsurkunden und Pässe durch Partisanen.
Gleichzeitig romantisiert die Autorin leider immer wieder den Kommunismus als "Rettung", obwohl auch Stalins Diktatur eine grausame Diktatur darstellte, vor wie nach dem Krieg.
Zur weiteren Recherche sei folgende weiterführende Literatur empfohlen:
Uwe Gartenschläger: Die Stadt Minsk während der deutschen Besetzung 1941-1944; Magisterarbeit, 1990, beim Verfasser erhältlich (sic)
Nechama Tec: Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg, 1996
Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front, 1998 (mit Schilderung der Kollaboration von Weissrussen und Polen)
Christian Gerlach: Kalkulierte Morde, 1999 (mit Schilderung der Kriegspläne und dem wirtschaftlichen Regime in Weissrussland)
Benjamin Pinkus: The Soviet Government and the Jews, 1984 (mit Schilderung der Zusammenhänge zwischen Zionismus, Holocaust und Stalins und Chruschtschews Terror gegen Juden in der Sowjetunion)
Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1998 (über Stalins kalkulierte Massenmorde durch Hungertod und das Lagersystem des Gulag)
Der Rote Holocaust und die Deutschen, Piper, München 1999 (Kommentierungen über das Schwarzbuch, s.o.).
Die Angaben jüdischer Opfer weichen in den Werken zum Teil in weitem Masse voneinander ab. Die Forschung ist diesbezüglich bis heute noch nicht abgeschlossen, weil Archive der "USA", Englands und der Ukraine bis heute noch nicht geöffnet bzw. noch nicht recherchiert sind. Chronologien von Tec, Pinkus, Chiari, Schwarzbuch und Gerlach können bei Michael Palomino auf Diskette bezogen werden.
Michael Palomino 2001
Einführung: Die jüdische Bevölkerung in Minsk (Angaben von Uwe Gartenschläger u.a.)
Vor dem deutschen Einmarsch gab es in Minsk eine der grössten jüdischen Gemeinden in der Sowjetunion. Sie stellte mit 100.000-120.000 Personen fast die Hälfte der Stadtbevölkerung.
Wie keine andere Bevölkerungsgruppe wurden die Jüdinnen und Juden Leidtragende der deutschen Besatzungspolitik. Zwar gelang einem sehr kleinen Teil der Anschluss an den Widerstand, die Wucht und Brutalität der deutschen Gewaltmassnahmen machte die überwältigende Mehrheit aber zu deren wehrlosen Opfern.
Es gelang der Besatzungsmacht, ca. 70-80.000 Juden im Minsker Ghetto im nordwestlichen Stadtzentrum zu internieren.
Das Ghettogebiet bestand aus einstöckigen Holzhäusern; nur vereinzelt existierten Steinbauten. Jedem Bewohner standen ungefähr 1,5 Quadratmeter zur Verfügung, wobei die Küche als Wohnraum mitgezählt wurde. Elektrizität war nicht vorhanden, Wasser musste aus Gemeinschaftsbrunnen herangeschafft werden. Latrinen mussten sich die Bewohner erst selber graben. Betten bauten sie sich notdürftig aus den Türen zerstörter Häuser. Hierher bezog man auch das knappe Heizmaterial. Dies war allerdings schnell verbraucht, und so fror man besonders im Winter 1942 bitterlich.
Neben der Kälte wurde der Hunger von Anfang an zum existenziellen Problem. Während im "Sonderghetto" der westeuropäischen Juden die tägliche Ration aus Wassersuppe mit 5 g Buchweizen und 150 g Buchweizenbrot bestand, gab es im übrigen Ghetto zeitweise keinerlei Lebensmittelzuteilungen. Im Winter 1942/43 ernährte man sich überwiegend von Kartoffelschalen. Krankheiten wie Skorbut, Beri-Beri und Typhus grassierten (S.84).
Im November 1941 trafen die ersten Transporte mit deutschen Jüdinnen und Juden in Minsk ein (ca. 7000). Ihnen wurde ein "Sonderghetto" zugewiesen. Um sie dort unterzubringen, hatten die Deutschen [und die Kollaborateure] vom 7.-11.November ca. 6000 einheimische Jüdinnen und Juden ermordet.
Ab Mai 1942 in Minsk eintreffende Juden wurden bis auf kleine Gruppen unmittelbar nach ihrer Ankunft ausserhalb des Ghettos ermordet (zwischen Mai und Oktober 13.500).
Es gab mehrere grosse Massenmordaktionen im Ghetto, beispielsweise im August und November 1941, im März und Juli 1942 und im Herbst 1943, als das Ghetto "aufgelöst" wurde.
Die meisten Ghettobewohner fielen entweder den harten Lebensbedingungen - besonders im strengen Winter 1941/42 - zum Opfer oder kamen bei den täglichen willkürlichen Erschiessungen und gelegentlichen Massenexekutionen um.
Ein eigenständiger jüdischer Widerstand, wie es ihn in West-Weissrussland gegeben hat, ist in Minsk nicht bekannt. Es gab aber eine jüdische Untergrundbewegung. Sie erreichte ihren Höhepunkt im Frühjahr 1942, als sie nach der Zerschlagung des gesamtstädtischen Widerstandes einen wichtigen Beitrag zu dessen Wiederaufbau lieferte. Danach verlor sie offenbar allmählich an Schlagkraft, und zwar nicht, weil es den Deutschen [und den Kollaborateuren] gelungen wäre, die nach streng konspirativer Methode aufgebauten Gruppen auffliegen zu lassen. Vielmehr ging der Untergrund des Ghettos als eigenständige Grösse in den furchtbaren Massakern der Jahre 1942/43 unter, vor denen sich nur wenige retten konnten.
Die erstaunliche Tatsache, dass das Minsker Ghetto länger als zwei Jahre existierte, ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass die Deutschen [und die Kollaborateure] bald feststellen mussten, wie angewiesen sie auf die jüdischen Arbeitskräfte waren.
Die Zahl der überlebenden deutschen Juden liegt bei ungefähr zehn.
[nicht mitgerechnet diejenigen Überlebenden, die durch Namenswechsel fliehen konnten].
Für die einheimischen Juden wird geschätzt, dass etwa 10 % aus Minsk überlebt haben. In erster Linie wird das an den Kontakten zum städtischen Untergrund und zum Widerstand in den umliegenden Wäldern gelegen haben. Zahlreiche Ghettobewoh- (S.85) ner wurden ausgeschleust, entflohen in die Wälder und schlossen sich Partisanengruppen an. Es gab 7 rein jüdische Partisanengruppen bei Minsk. Auch halfen Weissrussen zur Flucht oder versteckten jüdische Mitbewohner.
Angaben von Uwe Gartenschlaeger u.a.
Zwei Berichte von Deutschen aus dem Sonderghetto Minsk:
Heinz Rosenberg: Jahre des Schreckens. Teil 1: Von Hamburg nach Minsk. Seidl Verlag, Göttingen 1965.
Karl Loewenstein: Minsk - Im Lager der deutschen Juden. In: Aus Politik und Zeitgeschichte; Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" (Bonn), 7.November 1956, S.705-718
Biographie: Anna Dawidowna Krasnopërko
Anna Dawidowna Krasnopërko wurde am 10.September 1925 in Minsk als Tochter einer Ärztin und eines Chemikers jüdischen Glaubens geboren. In einer Flüchtlingskolonne wird sie am 1.Juli 1941 als knapp Sechzehnjährige in das Minsker Ghetto gebracht. Sie ist unter den Wenigen, denen es gelingt, aus dem Ghetto zu fliehen und in einer Partisanenbrigade gegen die deutschen Faschisten [und die verbündeten Faschisten und einheimischen Kollaborateure] zu kämpfen.
Nach dem Krieg studiert sie an der weissrussischen Lenin-Universität in Minsk und arbeitet zunächst als Journalistin (S.6). In der Zeitschrift "Pionier Belaruski" veröffentlicht sie zahlreiche Beiträge über die Kinderhelden im Grossen Vaterländischen Krieg. Nach ihrer Pensionierung beginnt sie mit der schriftstellerischen Arbeit. Sie schreibt zwei Bücher über Leben und Kampf der Partisanen und veröffentlicht die "Briefe meiner Erinnerung" an das Minsker Ghetto.
Zur Zeit entsteht ein Sammelband mit Kindererzählungen.
Alf Seippel - Minsk 1990 (S.7)
Briefe meiner Erinnerung
Meine Erinnerung, ich bin lange vor dir weggelaufen! Mehr als vierzig Jahre! Aber du warst stärker. Du zwingst mich, das Verdrängte wieder zum Leben zu erwecken. Für meinen Verrat an dir rächst du dich: Nicht alles aus der Vergangenheit bewahrtest du. So bin ich gezwungen, in meiner Erzählung einige Namen zu erfinden.
In diesem Buch wird das Überleben im Minsker Ghetto geschildert. Ich habe die Aufzeichnungen ehemaliger Ghettoinsassen verwendet, Aufzeichnungen meiner Bekannten, der Ärztin Berta Moiseevna Bruk und ihrer 17-jährigen Tochter Lydia, die später zu den Partisanen flohen.
Das Papier ist vergilbt, dunkel geworden, Bleistift-Notizen. Aber noch blutet es, steckt jede Seite dieser Aufzeichnungen voll Schmerz. Mögen er gelindert werden durch meine Erinnerungen.
Schlüssel für eine Ruine
Am 1.Juli 1941 kehrten wir nach Minsk zurück. Es war eine einzige Trümmerlandschaft, verbrannt und zerstört.
Wir irrten in der Stadt umher auf der Suche nach Bekannten und Nahrung. Wir trieben Sirup auf. Die Menschen nahmen, was sie kriegen konnten. In die Konditor-Fabrik waren die Deutschen noch nicht gekommen, hier schleppte man die süsse Kost in Eimern mit sich.
Wir hatten keinen Eimer. Inna und ich mussten Gläser benutzen. Wir waren glücklich, wenigstens mit irgendetwas die Grossmutter ernähren zu können. Wo ist Mama jetzt? Vor zwei Wochen fuhr sie auf Dienstreise. Wo kämpft Papa? Wo werden wir heute übernachten?
Von neuem gingen wir zu unserer Brandstätte. Ich brachte es nicht fertig, den Schlüssel wegzuwerfen, der nie mehr von Nutzen sein würde. In den Ohren hatte ich noch Vaters Worte: "Tochter, hier hast du den Wohnungsschlüssel, ich muss an die Front!"
"Warum, gibt es bereits eine Vorladung des Kriegskomitees"
"Bis jetzt nicht, aber ich muss hin."
Er küsste uns zum Abschied und ging.
Dann begann das, was selbst in der Erinnerung grausam bleibt: Bombardierungen, Feuer, der versperrte Gasschutzkeller, aus dem Grossmutter, Inna und ich nur durch ein Wunder entkamen. Aus der in eine Staubwolke eingehüllten Stadt brachte uns ein Nachbar auf die Mogilever Strasse.
"Geht nach Osten", riet er uns zum Abschied. "Ich gehe zu den Rotarmisten."
Wir gerieten in eine Flüchtlingskolonne - lauter hungrige., obdachlose Menschen. Grossmutter konnte nicht mehr laufen, das Herz war schwach. Inna und ich trugen sie, halfen ihr, so gut wir konnten. Flüchtlinge zogen über die Strasse, viele waren wie von Sinnen. Ich erinnere mich an gebrochene Beine, verweinte Augen, Kinderheulen. (S.8)
Und dazu diese endlosen Bombardierungen!
Wir kamen bis Dukora. Grossmutter konnte nicht mehr weiter. Entkräftet fielen wir ins Heu. Und wieder Bomben!
Als nächstes hörten wir das Getöse von Motorrädern, Schreie, fremde Stimmen.
Deutsche Kradfahrer in Dukora! Hatten sie wirklich schon Minsk besetzt?
Wir wurden aus der Tenne getrieben, auf die Strasse geführt. Dort waren schon eine Menge Flüchtlinge, diejenigen, die die Bombardierungen unverletzt überstanden hatten. Wir wurden zu einem Geschäft geführt. Die Deutschen brachten verschiedene Gegenstände, schwenkten sie vor uns, drückten sie uns mit Gewalt in die Hand. Da begriffen wir, wozu dies alles veranstaltet wurde: Es wurde gefilmt.
Dann beschimpften sie die Menschen: "Kommunisten! Juden!" Dann der grausame, schwere Weg zurück nach Minsk. Was erwartete uns? Wir wussten bereits, dass unser Haus abgebrannt war. Nur den Schlüssel hielt ich in den Händen.
Wir dachten an Mama. Vielleicht war sie aus Volkovysk zurückgekehrt? Vielleicht suchte sie uns bereits?
Und so kamen wir nach Minsk. Keine Mutter, kein Vater. Ich war verantwortlich für Grossmutter, für die Schwester.
Als Erstes suchten wir eine Zuflucht.
Für die Ungehorsamen - der Tod
Leider waren das keine Gerüchte: In Drosdy, vor den Toren von Minsk, errichteten die Deutschen ein Konzentrationslager. Dort befanden sich Kriegsgefangene und Menschen, die man in der Stadt verhaftet hatte. Sie suchten unter ihnen Kommandeure, Kommissare der Roten Armee, Kommunisten, Juden. Auf sie wartete die Erschiessung.
Überall Bekanntmachungen: Männer im Alter von 15 bis 45 Jahre sollen sich in der Kommandantur registrieren lassen. Bei Nichtbefolgung - der Tod.
Über die Sowjetskaja, nahe dem Grossen Platz, führten sie eine Kolonne Kriegsgefangener. Und plötzlich begann einer von ihnen, ein junger, grosser mit verbundenem Kopf, zu singen: "Wolken standen über der Stadt, die Luft roch nach Gewitter." Das Lied wurde aufgegriffen. Es erklang eine bekannte Melodie.
Was aber begann jetzt! Schüsse, Schreie! Erschossene auf dem Kopfsteinpflaster.
Für die Ungehorsamen - der Tod!
Die Pest
Aus der Vorkriegszeit erinnere ich mich noch an den Aufstieg der "braunen Pest". In Deutschland trugen die Burschen braune Hemden. Hier waren sie grau-grün-schwarz gekleidet. Besonders fürchteten wir diejenigen, die dunkelgrau-grüne Uniformen mit schwarzen Kragen trugen, auf denen in einem silberfarbenen Viereck zwei Buchstaben zickzackförmig (S.9) blitzten: "SS". Sie trugen dazu silberne, geflochtene Schulterklappen und auf dem Ärmel einen Adler. Der Gürtel war mit einer Schnalle versehen, auf der stand: "Gott mit uns". Sie hatten eine schwarze Paradeuniform, Kragen und Manschetten waren silbern eingefasst.
Ihr Emblem war furchtbar anzuschauen - Totenkopf und Knochen.
Die Feldgendarmerie trug hellgrau-grüne Uniformen. Auf der Brust hatten sie eine Kette mit Schild, das an einen Halbmond erinnert. Grau-grün-schwarze Pest!
Der Befehl zur Errichtung des Ghettos
Unseren Hunger linderten wir mit Obstkernen. Die Menschen fanden sie in irgendeinem Lager und fielen darüber her. Tata Drosdova aus der Samkovaja teilte mit uns. Anfangs strichen wir durch die Stadt auf der Suche nach einem Nachtlager.
Wir übernachteten in Ruinen und wuschen uns in der Svislotsch. Durch das Elend, den Dreck und die Obdachlosigkeit kamen Läuse. Wir kämpften gegen sie ebenso, wie gegen den Hunger.
Bald verboten die Deutschen das Herumgehen in der Stadt. Man munkelte, dass die Juden in einem bestimmten Bezirk angesiedelt werden sollten.
Auf dem Jubiläumsplatz blieben wir stehen. Die Häuser hier waren abgebrannt, überall waren alte Plakate zu sehen. Eins von ihnen verkündete, dass im weissrussischen Theater das Schauspiel "Die Letzten" läuft. Regisseur: Michail Sorov.
In dieses Theater bin ich mit meiner Freundin Nila Kunzevitsch fast jede Woche gegangen. Ihr Vetter war dort Bühnenbildner. Schwarzhaarig, mit ausdrucksvollem Gesicht glich er einem Schauspieler. Leichter Gang, überzeugender Bariton, aufmerksame Augen. Wo war er jetzt? Wahrscheinlich an der Front.
Und Nila hatte ebenso weiche Augen wie ihr Vetter. Wo war Nila, wo der Regisseur Sorov? Es wäre interessant zu wissen, ob er Jude oder Slawe ist. Vor dem Krieg hatte niemand von uns darüber nachgedacht. Die Menschen lebten freundlich und gut zusammen.
Neben dem Plakat heftete eine Mitteilung. Und ihr Sinn war fürchterlich! Inna zog an meinem Arm, aber ich las, gefesselt von der Bekanntmachung, lauf vor, dass Bürger jüdischer Herkunft sich beim Judenrat registrieren lassen müssen und in einem speziell für sie eingerichteten Gebiet, dem Ghetto, leben sollen.
"Juden", "Ghetto" - die Worte brannten, weckten Schmerz und Kränkung wie eine Ohrfeige.
"Was sind Juden?" fragte mich Inna.
Tränen bedeckten ihre Augen.
"Das ist ein böses, abscheuliches Wort. Die, die es auf Menschen anwenden, übergibt man dem Gericht und bestraft sie."
"Und die Deutschen werden auch dem Gericht übergeben?" fragte (S.11) meine Schwester weiter.
"Unbedingt."
[nicht erwähnt: die einheimischen Kollaborateure]
Am Nachbarhaus wieder diese Bekanntmachung: "Juden und Kommunisten wird befohlen..."
Die Schwester
Wie uns die Kräfte reichten, uns weiterzuschleppen, weiss ich nicht. Wir liessen die Grossmutter an einem sicheren Ort in den Ruinen zurück und gingen durch die Stadt. Wir suchten Mama, wir suchten Nahrung. Wir streiften durch den Stadtteil um die Podgorni-Gasse, wo wir vor dem Kriege lebten, wir gingen durch die Sowjetskaja, nahe beim Grossen Platz.
Da warf ein Deutscher einem Hund Brot zu. Der wollte es nicht fressen. Es zu erhaschen gelang uns nicht. Ein Mädchen kam uns zuvor.
In der Ferne sahen wir eine Unmenge Menschen, die man durch die Sowjetskaja jagte. Wieder Kriegsgefangene! Die Kolonnen näherten sich uns. Eine junge Frau warf sich vor einen Deutschen, der die Kolonne bewachte.
"Lieber Herr," - sie zeigte auf einen Gefangenen - "das ist mein Bruder!" Sie zeigte ein Papier, es musste wohl irgendein Dokument gewesen sein.
Erstaunlich, aber der Deutsche stiess den Gefangenen aus der Kolonne. Die junge Frau zog ihn in die Ruine des ehemaligen Kinos "Roter Stern".
"Dieses Mädchen", sagte ein älterer Mann, der danebensteht, "meine Hochachtung! Nicht zum ersten Mal rettet sie jemanden."
Mama kommt - [Einzug in Wohnungen von Kommunisten, die mit der Roten Armee ins Innere Russlands evakuiert worden sind]
Das war ein Wunder! Mama kam. Sie sah uns in der Strasse gegenüber unserem ehemaligen Haus. Sie war aus Volkovysk gekommen mit einem verwundeten Bein! Unglaublich! So eine war sie! Und gleich wurde uns leichter ums Herz.
Wir erzählten Mama, wie Papa zur Front ging, wie unser Nachbar mich, Inna und Grossmutter auf die Mogilever Strasse gebracht hatte, wie die Deutschen uns in Dukora einholten, wir erzählten über alles, was wir durchgemacht hatten.
Mam schlug vor, zur Samkovaja zu ihrem Bekannten Josef Simanovitsch zu gehen. Wir sagten, dass wir bereits bei ihm waren. Die Familie Simanovitsch wurde wahrscheinlich evakuiert, aber ihre Wohnung blieb unversehrt. Aber vielleicht könnten wir dort einen Unterschlupf finden? Und wenn nicht in dieser Wohnung, so vielleicht in einer anderen? Die Samkovaja-Strasse gehörte zum Ghetto.
Abschied von Tata - [ein Bekannter wird Kollaborateur]
Einwohner nichtjüdischer Nationalität, die auf dem Territorium des Ghettos wohnten, mussten in einen anderen Teil der (S.12) Stadt umziehen. Meine Freundin Tanetschka "Tata" Drosdova, die in der Samkovaja lebte, zog irgendwo in die Gruschevka. Ihrer Familie war es nicht gelungen, sich evakuieren zu lassen.
Wir sassen auf den Stufen einer hohen Steintreppe. Gleich würde Tata von hier wegfahren. Würde es uns gelingen, uns wiederzutreffen?
Hellbraune, glatte Haare umgaben das runde, traurige Gesicht des Mädchens. Hasserfüllt erzählte sie von einem uns bekannten Jungen, der in den Dienst der Deutschen getreten war. Wir erinnerten uns an gemeinsame Bekannte.
Und dann erzählte ich von den Kriegsgefangenen, die "Wolken standen über der Stadt" gesungen hatten.
"Ich werde zurückkommen", sagte Tata, "aber Vater meint, dass wir nicht in der Stadt bleiben werden, sondern aufs Land gehen."
Die Trennung! Tata betrachtete die vertrauten Orte, die uns allen seit der Kindheit teuer waren. Was würde sie im neuen Zuhause erwarten?
Gelbe Flicken ["Judenfleck"]
Ein neuer Befehl wurde herausgegeben: Die Juden müssen runde gelbe Flicken tragen. Ihre Grösse und die Stelle, an der sie angenäht werden sollten, wurden angeordnet. Ein Flicken auf der Brust, einer auf dem Rücken. Auf Nichtbeachtung des Befehls stand die Todesstrafe.
Es gab schon einen Befehl, dass Ilja Muschkin zum Ältesten des Judenrates im Ghetto ernannt wurde.
Kontribution - für mich war das ein Wort aus Geschichtsbüchern. Aber plötzlich wurde die Kontribution Realität. Alle Juden sollten Gold, Silber und andere Wertgegenstände abgeben, um eine Kontribution zu zahlen.
Wir hatten nichts dergleichen. Unser einziger Reichtum war der Schlüssel zu unserer Wohnung. Ich warf ihn nicht weg, er erinnerte mich an das noch gar nicht so ferne Leben vor dem Krieg.
Treffen mit Asja
Auf Befehl der Deutschen versammelten sich alle arbeitsfähigen Juden nahe dem Judenrat. Dort wurden Kolonnen zusammengestellt, die zur Arbeit jenseits der Ghettogrenzen in die Stadt geschickt wurden.
Ich und Mama gingen dorthin. Wir trafen dort Asetschka Vorobejtschik und ihre Mama. Asja war meine Schulfreundin. Wir verabredeten uns zusammenzubleiben und baten darum, in eine Kolonne zu kommen, um nicht auseinandergerissen zu werden. Da waren bereits unsere Mädchen: vor allem die lustige Balja Grasova, die schöne Sofa Sagaltschik, die kluge Beba Zwejg. Aber, dass wir Asja trafen, war für uns sehr wichtig. (S.13)
Die alte Tjema
Wir wohnte in der Samkovaja im Haus der alten Tjema. Im Ghetto standen jedem Menschen zwei Quadratmeter Wohnraum zu. Aber gab es wirklich jemanden, der über zwei Meter verfügte?
Die alte Tjema war gross, abgezehrt, fast wie eine Mumie. Ihr Gesicht war mit Runzeln übersät. Sie lebte irgendwie ihr Leben, nach ihren eigenen Gesetzen. In Minuten der Verzweiflung sass sie gerade, unbeweglich und richtete ihre trüben, greisen Augen auf einen bestimmten Punkt.
Vielleicht betete sie in solchen Momenten. Wir verstanden: Wenn sie betete, dann für ihre Enkel, die an die Front, zur Roten Armee, gegangen waren.
Tjema trug immer einen schwarzen Rock und einen männlichen Überwurf von derselben Farbe.
Als wir uns in ihrem kleinen, zwei Wohnungen umfassenden Haus niederliessen, gab sie uns zwei Matratzen und etwas Bettwäsche. Es war einfach luxuriös. Tjema lebte mit uns in einem Raum. Sie schlief auf einem alten Bett.
In dem anderen Zimmer wohnte die Familie Golandov, die jungen Frauen Dina und Era mit ihrer Mutter. In diesem Zimmer stand ein Schrank. Er war immer geschlossen. In ihm wurden die Sachen von Tjemas Enkeln verwahrt. Die Alte glaubte fest, dass sie zurückkehren würden.
"So werden sie sich dann kleiden", sagte sie.
Tjema war reich! Vor dem Krieg war ich davon überzeugt, dass es bei uns keine reichen Menschen gibt. Aber Tjema war erstaunlicherweise reich. "Das Gold abgeben!" lautete einer der ersten Befehle der Okkupanten an die weissrussische und jüdische Bevölkerung.
Von dem Zeitpunkt an forderten die Deutschen beharrlich und unaufhörlich, das Gold abzugeben.
Sie [deutsche Besatzer und Kollaborateure] übergingen auch unser Haus nicht. Sie hielten Tjema fest. Sie hielten Pistolen vor das Gesicht der Alten und schrien:
"Gold! Gold!"
Tjema aber bewegte sich nicht von der Stelle.
Und dann glaubte ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Ich dachte, Tjema schläft, und ging auf Zehenspitzen in das Zimmer. Die Alte sass auf ihrem Bett und nähte in ihren Überhang Gold ein!
"Du hast nichts gesehen, Mädchen", sagte sie, "nichts gesehen und du weisst auch nichts."
Aber ich sah alles. In Tjemas Händen lagen goldene Münzen, die sie in ihrem Futter versteckte.
Das alles betäubte mich. Ich dachte immer, dass Gold Eigentum des Staates sei.
"Ich weiss, woran du denkst, Mädchen. Meine Enkel waren auch einst erstaunt, als ich ihnen die Zehner zeigte. Noch vor der Revolution hab ich mich mit der Kost nach der Decke gestreckt, gewirtschaftet und das Gold erworben. Für schwere Zeiten hab ich es versteckt." (S.14)
Tjema nähte vor meinen Augen noch ein zweites Fünfzehnkopekenstück ein. Dann zog sie sich den Überwurf an, streckte sich, befühlte mit den Fingern die Stelle, wo der Schatz versteckt war.
"Das werde ich den schlechten Menschen nicht geben! Sie werden schiessen - ich werde es nicht hergeben!"
Razzien
Im Ghetto begannen Razzien. Sie umstellten eine Strasse oder einen Bezirk und ergriffen die Menschen. Man trieb sie in Lastwagen und fuhr sie irgendwo hin. Einige kehrten nach den Razzien zurück (man hatte sie zur Arbeit gebracht), viele aber nicht.
Man erzählte sich, die Deutschen führten in der ganzen Stadt Razzien durch.
Die Peitsche
Ein muffiger, nasskalter Morgen.
Asja Vorobejtschik und mich ergriffen sie während einer Razzia. Der Überfall war wie immer unerwartet, plötzlich. Man warf uns in Autos, fuhr uns weg. Wohin brachte man uns? Würden wir das Licht noch einmal erblicken? Wir drückten uns fest die Hand. Öfters hatten wir uns abgesprochen: Wenn man uns zur Erschiessung bringt, lassen wir uns entweder fallen oder laufen weg.
Sie fuhren schnell. Luden uns aus, zählten durch. Wir schauten uns um und sahen: Wir waren im Hof des Regierungsgebäudes. Irgendwann hörte ich, dass der Architekt, nach dessen Entwürfen das Gebäude entworfen worden war, mit ihm nicht zufrieden gewesen war. Seiner Meinung nach war das Haus unschön. Schon früher waren wir anderer Meinung gewesen. Aber jetzt schauten wir auf und konnten uns nicht sattsehen. Doch plötzlich fiel es uns wieder ein. Jetzt sassen dort sie, die Bestien. Solche, wie jener Grosse mit den geröteten Augen. Er stand vor uns, schwenkte die Peitsche. Dann zeigte er auf Asja und mich und befahl irgendetwas, was wir nicht verstanden. Er schrie, schlug mit der Peitsche nach unseren Beinen. Wir erschreckten uns. Er lachte. Dann zeigte er auf eine Rolle Dachpappe, die auf dem Boden lag. Wir errieten, dass er uns befahl, sie aufzuheben. Aber es gelang nicht. Der Deutsche schlug uns auf die Hände. Es entstanden blutige Striemen, es schmerzte schrecklich. Was tun? Wie könnten wir, zwei schwache Mädchen, diese riesige Rolle aufheben?
Ich nahm die verfluchte Rolle vorne und versucht, sie auf die Schulter zu hieven. Asja versuchte, sie hinten hochzuheben. Aber es gelang nicht. Die Rolle kam nicht hoch.
Asja lag mit blutüberströmtem Gesicht am Boden. Ich warf mich auf sie.
"Zurück!"
Ich hörte nicht (S.15).
"Er hat mich... mit der Peitsche auf den Kopf", stöhnte Asja. Ich half ihr unter der Rolle hervor. Krämpfe schüttelten sie.
Sie hob ihre hellen Augen zu mir hoch. Wir schmiegten uns aneinander.
In der Nähe hörten wir das Zischen der Peitsche.
Seither erkrankte Asja an der Fallsucht.
Hypnose
Er wurde zu uns an einem kalten Herbsttag gebracht.
"Doktor, helfen Sie ihm!"
Mama beugte sich über den Menschen, der wild aussah. Sein Gesicht war von grossen, blauen Flecken gezeichnet, blutbefleckt. Die Hände zitterten. Seine Kleidung war fremdartig, die Jacke über den nackten Körper gezogen. Seine kurzen Hosen bedeckten kaum die Waden, er ging barfuss.
"Wer ist er" Woher kommt er?" fragte Mama.
Die Frauen, die ihn brachten, zuckten die Schultern.
"Wir wissen nichts. er kam in unser Haus gelaufen, aber wir konnten ihm nicht helfen. Vielleicht gelingt es Ihnen."
Wir legten den Unbekannten aufs Bett. Mama gab ihm Baldrian, versorgte die Wunden, beruhigte ihn auf eigenartige Weise:
"Sie haben schwere Lider. Sie wollen schlafen, schlafen, schlafen. Ihnen ist warm, ihre Arme und Beine werden warm. Sie werden ruhig, liegen Sie ruhig. Sie schlafen, schlafen, schlafen."
Der Mensch schlief wirklich ein. Wir fragten:
"Ist das Hypnose?"
Mama antwortete nicht. Sie war sehr erschöpft.
[Erste Massaker an weissrussischen Juden]
Der Mensch war aus einer nahegelegenen Siedlung angelaufen gekommen. Sie waren im Morgengrauen ergriffen worden. Man trieb sie wie eine Herde zusammen und dann die Schlucht herunter. Den Männern gaben sie Spaten und befahlen ihnen, eine Grube auszuheben. Frauen und Kinder standen in der Nähe.
Dann befahlen sie, sich auszuziehen. Er erinnerte sich, wie seine Frau Raja sich auszog, wie er sich auf sie warf, wie er mit dem Kolben einen Schlag erhielt und hinfiel. Als er den Kopf hob, sah er bereits die Beinchen seiner Kinder, der sechsjährigen Bebotschka und des dreijährigen Mischa.
Die Faschisten [und ihre Kollaborateure] stellten Männer, Frauen und Kinder an den Grubenrand.
Die Erschiessung begann. Er fiel. Auf ihn fielen Tote.
Er arbeitete sich irgendwie unter ihnen hervor. Als er oben war, begann er, Frau und Kinder zu rufen. Aber seine Stimme wurde nicht gehört.
Er versteckte sich in den Büschen. Plötzlich sah er, dass am Rande der Grube irgendwelche Wäsche herumlag. Er zog die Jacke und die Hosen über.
Er ging in Richtung Minsk. Er musste Gott sei dank nicht lange gehen. Gute Menschen nahmen ihn mit (S.16).
So etwas hörten wir zum ersten Mal. Und wir verstanden, dass auch uns bald ein ähnliches Schicksal erwartete.
Kartoffel-Grossmütterchen
Grossmutter war den ganzen Tag weg. Gegen Abend brachte sie einen Sack Kartoffeln.
Wo hatte sie ihn her? Sie sagte, dass sie bei den tatarischen Gemüsegärten gegraben habe. Aber dort war schon lange nichts mehr zu holen: keine Kartoffeln, keine Mohrrüben, keine Steckrüben.
Bei Mama kam ein Verdacht hoch, der unser aller Herzen schmerzen liess:
"Gott, sie wird doch nicht aus dem Ghetto gelangt sein und andere Leute gefragt haben?"
Wir alle weinten zusammen mit Grossmutter.
Aus den Aufzeichnungen Berta Moiseevna Bruks: [Juden aus der Region Minsk im Minsker Ghettos - bewohnte Keller - nächtliches Sprechverbot - Hunger]
"Nachdem der Befehl ergangen war, dass sich die Juden aus den Dörfern im Minsker Ghetto sammeln sollten, lebten die Menschen auch in den Kellern. Von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens waren laute Unterhaltungen nicht erlaubt. Wenn eine Patrouille durch die Strassen ging und in einem Haus ein Gespräch hörte, schoss sie durch die Fenster.
Wir hungerten fürchterlich.
Der Hunger begann, das Gedächtnis zu trüben und die Kräfte zu untergraben. Ljalenka und ich krochen unter dem Stacheldraht her und liefen, sobald der Deutsche oder Polizist in eine andere Richtung schaute, in die Stadt, Essen zu suchen. Was war das für ein Glück, wenn wir erfolgreich zurückkrochen mit unserer Beute!"
Die Galgen
Oktober
Mama kam aus der Stadt zurück. Sie hatte bekannte Ärzte gesucht. Man erzählte sich überall, dass die Stadt voll Galgen sei. Auf der Brust der Erhängten hingen Schilder mit der Aufschrift: "Wir kämpften gegen die deutsche Macht."
Mama arbeitete sich zurück durch die Ruinen. Es war ein Glück, dass sie nicht gefasst wurde, dass sie bei uns war.
Das Pogrom vom 7.November - [Flucht zur ehemaligen Nachbarin Tonja, keine Aufnahme]
Dina Goland brachte uns eine grausame Nachricht. Sie hatte gehört, dass die Deutschen die Nemigaja umstellt hatten. Alle begriffen: Ein Pogrom begann.
Finstere Zeiten atmeten aus diesem Wort "Pogrom". Wir kannten es aus Büchern, aus den Erzählungen der Grosseltern. Und jetzt lebte dieses unheilvolle Wort wieder auf.
"Wir müssen uns schnell verstecken", sagte Anna ängstlich. Mama sah sich nach allen Seiten um. (S.17)
"Wo ist Grossmutter?"
Sie war nicht da, war irgendwo hingegangen.
Mama holte die ganze Familie zusammen. Über das Flussufer schlichen wir uns zur Brücke. Ohne gelbe Flicken sahen wir in unseren Kopftüchern aus wie Dorfbewohner. Wir irrten durch die Torgovaja und die Bakunina nahe der Kirche.
"Gehen wir zu Tonja, vielleicht werden wir eingelassen", sagte ich zu Mama (Tonja war unsere ehemalige Nachbarin). Mama dachte nach.
"Sie leben in der schlimmsten Hölle, sind ganz eingeschüchtert!"
Ja wirklich, Tonja und ihre Mama Darja Stepanova lebten in der Schkolnaja nahe der Nemigaja. Als auf ihrer Seite, wo das Ghetto war, die Menschen umgebracht wurden, hat Tonjas Familie alles gesehen.
Wir konnten uns nirgends verstecken. Als ginge von uns eine ansteckende Krankheit aus, streiften wir in der Nähe des Ghettos umher. Wir rasteten bei der Banja, gingen hoch zum Krankenhaus und wieder in die Torgovaja und Bakunina.
Es regnete. Wir waren nass bis auf die Knochen. Wir zitterten, schlotterten vor Kälte.
"Gehen wir zu Tonja", bat ich.
Mama dachte an die herzensgute Darja Stepanovna und war einverstanden:
"Bitten wir darum, uns aufwärmen zu dürfen."
Wir eilten zu Tonjas Haus. Klopften an. Auf der Schwelle standen Darja Stepanovna und Tonja, Angst und Tränen in ihren Augen.
Tonjas Mama schlug schweigend die Tür vor unserer Nase zu. Lange klang uns dieses Krachen in den Ohren, das Herz schmerzte.
[Flucht zu Familie Feofilovitsch - Aufnahme und Verrat durch Nachbarn]
Wir gingen fast ans Ende der Stadt in die Gruschevka. Dort wohnten die Gurskijs. Vladimir Feofilovitsch war vor dem Krieg Mamas Arbeitskollege.
"Das sind aussergewöhnliche Menschen. Sie werden uns aufnehmen, ernähren und vielleicht auch verstecken", sagte Mama.
Wie warm, wie gut war es auf dem Ofen! Der satte Kater strich um unsere Beine oder wälzte sich auf dem Boden. Er schmeichelte sich bei uns ein.
"Selbst der Kater ist frei, aber wir..." sagte Inna, überhaupt nicht mehr kindlich.
Olga Alekseevna bewirtete uns mit Teigtaschen. Wir hatten schon Grützsuppe gegessen und jetzt noch dies!
Nina und Tasja, die Töchter von Olga Alekseevna und Vladimir Feofilovitsch, balgten mit dem Kater.
Vladimir Feofilovitsch kam auf Krücken herein, er brachte auf einem Teller Wunderdinge - grosse gelb-rote Birnen.
"Bedienen Sie sich! Das ist aus unserem Garten."
Mama schluchzte:
"Danke, danke für alles. Wir gehen jetzt."
"Nichts da, Rachel Aronovna, Ihr seid doch für uns eine gute Bekannte! Ja, und wohin wollt Ihr denn: Bald ist es Nacht! (S.18)
[Bild]: Minsk, Torgovaja
[Bild]: Minsk, Nemiga/Komsomolskaja (S.19)
Bleibt bei uns, und wir werden uns irgendetwas ausdenken."
Wir entschieden, dass wir diese herzensguten Menschen bis Morgen früh möglichst unauffällig verlassen müssten. Wir erbaten uns etwas Essen. Tagsüber gingen wir durch die Stadt, fanden in die Samkovaja. Vielleicht war unser Haus vom Pogrom nicht betroffen gewesen. Und was war mit Grossmutter geschehen?
Die Gurskijs liessen uns auch am 8.November nicht im Stich. Wir lebten bei ihnen zwei Tage.
Am 9. erwachten wir beim Morgengrauen durch ein Klopfen an der Tür.
"Olga, mach auf!"
Olga Alekseevna flüsterte uns zu:
"Fürchtet Euch nicht, es ist die Nachbarin. Schliesst den Vorhang und sitzt still."
Wir sassen auf dem Ofen hinter dem Vorhang und horchten.
"Olga, Oletschka, wenn das stimmt, dann kostet es uns den Kopf. Schau, Oletschka, schau! Weisst du, was das ist?"
"Worum geht's? Worüber sprichst du?"
"Oi, Oletschka, verstell' Dich nicht. Die Nachbarn schicken mich. Man sagt, ihr versteckt Menschen. Sie sahen, wie sie durch dein Tor gingen. Sie kamen rein, gingen aber nicht wieder. Man sagt, es seien Flüchtlinge aus dem Ghetto."
"Wer sagt das? Wer hat das gesehen?"
"Sie sahen es, Olga, sahen es."
[Flucht und eine Nacht im Gasschutzkeller]
"Ach, eine Abgesandte der Nachbarn." Vladimir Feofilovitsch schlug mit den Krücken auf den Boden. "Bei uns waren Bekannte, und sie sind wieder weg. Bei uns ist niemand. Wenn du willst, durchsucht das Haus."
"Aber nein, ich bin auch so überzeugt. Wer bin ich denn, ein Deutscher oder die Polizei? Seht nur selber nach. Mit uns nimmt es kein gutes Ende. Denkt nur an eure Kinder."
Die Nachbarin schlug die Tür hinter sich zu. Sie hatte nichts geglaubt. Im Haus breitete sich quälende Stille aus.
"Setzt euch. Fürchtet euch nicht." Vladimir Feofilovitsch zog den Vorhang zurück, "jetzt wird erst mal gefrühstückt."
"Nein, nein, wir gehen." Mama sprang vom Ofen.
Olga Alekseevna weinte leise.
"Wohin wollt ihr denn? Ins Verderben? Ich verstecke euch auf dem Dachboden oder im Keller."
"Ihr habt schon mehr getan als möglich war, Vladimir Feofilovitsch." Mama drängte zum Aufbruch. Olga Alekseevna wickelte mich und Inna in warme Schals ein.
Vladimir Feofilovitsch führte uns mit gebieterischem Gesicht und zusammengepressten Zähnen durch den Gemüsegarten in die Nachbarstrasse. Dann sagte er:
"Geht zu meinem Freund. Hier ist die Adresse. Sagt, ihr kommt von mir. Es ist nicht weit. Ich werde bald da sein."
Er eilte auf seinen Krücken neben uns her. Schweissperlen standen ihm im Gesicht. Das Gesicht war traurig.
"Erwartet mich dort!" (S.20)
Wir gingen nicht zu der Adresse, die uns Vladimir Feofilovitsch gegeben hatte. Wir wanderten immer den Augen nach, ernährten uns von dem Brot, das uns Olga Alekseevna in einem Bündel mitgegeben hatte.
Wir schlugen die Richtung zur Respublikanskaja ein. Vielleicht könnten wir sehen, was im Ghetto vor sich ging? Aber dort waren viele Deutsche! [und einheimische Kollaborateure!]
"Lasst uns zu unserer Podgorni-Gasse, in die Krasnoarmejskaja gehen", irgendwie wollte ich unbedingt dahin, wo wir vor dem Krieg lebten.
Mama war einverstanden. War es nicht ganz egal, wohin wir gingen?
Genau hier, auf dieser Brandstätte, stand unser Haus. In der zweiten Etage befand sich das Zimmer mit Veranda, in dem wir gelebt hatten. Fliederbüsche. Nichts war mehr da bis auf nackte Fliederbüsche. Genau an dem Platz, wo unsere und Nila Kunzevitschs Laube gestanden hatte. Wir liebten unseren Hof.
Wir gingen die Krasnoarmejskaja 'runter, durch die Lodotschnaja, die Koschevennaja.
Plötzlich erinnerte ich mich:
"Hier wohnt Maja!"
"Welche?", fragte Mama mit hoffnungsvollen Augen.
"Die Schöne! Die Turnerin! Du kennst doch ihre Mama. Sie ist wohl Epidemologin!"
"Gehen wir zu ihr! Sie ist gütig!"
Eine kleine Küche, zwei unbekannte Frauen.
"Zu wem wollen Sie?"
"Ist Maja da?"
"Majetschka? Ja... Maja, für dich."
Eine leichte Figur. Üppige, goldblonde Haare, strahlende Augen. Majetschka stürzte sich auf mich und rief glücklich:
"Mam, schau, wer gekommen ist!"
Plötzlich erstarrte sie.
In die Küche kam Majas Mama. Schlank, mit einer glatten Frisur. Sie kam auf meine Mama zu, drückte sie und versteinerte plötzlich auch.
"Wir kommen nur einen Sprung. Ich wollte Abschied von dir nehmen, Majetschka. Wir verlassen die Stadt." Ich murmelte noch etwas und ging mit Mama und Inna zur Tür.
"Wartet, ich ziehe mir nur noch etwas an und begleite euch."
Maja lief hinter uns her.
"Seid nicht böse, ich bitte euch, seid nicht böse. Eine der Frauen, die ihr gesehen habt, ist eine Verwandte des Bürgermeisters."
Maja führte uns auf die andere Strassenseite. Sie brachte uns in den Gasschutzkeller.
"Bleibt erst mal hier. Wir bringen euch zu essen."
Sie lief nach Hause. Bald kam ihre Mutter. Sie gab uns heisse Suppe, umarmte jeden, weinte. Dann rannte sie wieder nach hause - es war bereits Ausgangssperre.
"Dank euch", flüsterte ihr Mama nach.
Nacht. Auf dem Dach polterte Blech. Überhaupt, wieviele nächtliche Geräusche es doch gibt und wie angsterregend sie (S.21) doch waren! Inna und ich drückten uns an Mama. Sie wärmte uns mit ihrem Atem.
In der Ostrovski-Strasse
Die Samkovaja war vom Pogrom nicht betroffen gewesen. Bislang jedenfalls. Grossmutter lebte. Von Zeit zu Zeit musste sie uns berühren. Sie konnte nicht glauben, dass wir zurückgekehrt waren.
Von Levi Markin - er war Augenzeuge der Ereignisse - erfuhren wir, was am 7.November in der Pogromzone vorgefallen war. Dem Jungen war es gelungen, aus der Hölle, der Ostrovski-Strasse, zu entwischen. Folgendes berichteten er und andere Überlebende:
Aus den Häusern an der Ostrovski-Strasse, unweit der Kirche, wurden alle Bewohner zusammengetrieben. Die Deutschen [und die Kollaborateure?] schlugen sie mit Kolben und Peitschen, trieben sie auf einen Haufen. Kinder trennte man von ihren Eltern. Eltern irrten durch die Menge und versuchten, ihre Kinder zu finden.
Eine Frau rief mit wilden Augen:
"Manetschka, Osja, Sjama!"
"Ich bin hier, Mama!"
Der Junge kämpfte sich zu seiner Mutter vor. Die Menschen wurden zusammengepfercht, erdrückten sich beinahe gegenseitig. Die Mutter streckte einen Arm über die Köpfe hinweg.
"Bestie", schrie sie einem Deutschen [oder einem Kollaborateur?] ins Gesicht.
Einer von ihnen schoss auf sie. Die Frau fiel hilflos jemandem in den Rücken. Sie konnte gar nicht richtig fallen. Sofort wurde es still.
"Sie haben sie ermordet! Ermordet!" hörte man die Menschen flüstern.
Bald kam Bewegung auf. Die Deutschen teilten die Menschen, reihten sie in eine Kolonne ein.
Die Frau lag mit blutigem Kopf auf dem Kopfsteinpflaster. Zu ihr liefen die kleine Tochter und der Sohn. Nun hatten sie eis doch noch gefunden!
Einer der Männer riss sie von der Toten weg. Nein, das war nicht ihr Vater. Der war bei der Roten Armee. Es war ihr Nachbar Simkin aus der Ostrovski-Strasse.
"Die Kinder Samuel Osers", sagte er jemandem aus der Kolonne.
Manja, Osja und Sjama waren in einer Kolonne mit Simkin. Die Kolonne bewegte sich die Ostrovski-Strasse hoch, auf die Brotfabrik zu.
Plötzlich kam ein Polizist [Kollaborateur] auf Simkin - der am Rande ging - zugelaufen. Er gab ihm eine Rolle und befahl ihm, sie auszuwickeln.
"Heute ist doch Feiertag", schrie der Polizist, "also feiert!" (S.22)
(Der 7. November ist in der Sowjetunion der Feiertag der Oktoberrevolution).
Simkin wickelte die Rolle aus. Es war eine rote Flagge. Vor Überraschung liess er sie fallen. Sjama hob die Flagge auf und hielt sie über der Kolonne.
Einige verzweifelte Schritte vorwärts. Sjama fiel auf das Kopfsteinpflaster, Kugeln durchsiebten ihn.
Deutsche und Polizisten [Kollaborateure] führten die Kolonne weiter, [gemäss der Erzählung] in den Tod.
Aus dem Tagebuch Ljala Bruks [über das Pogrom vom 7.November 1941]
In der Nacht vom 6. zum 7.November hörten wir ein Klopfen an der Tür und Rufe: "Aufmachen!" Das Pogrom begann. Die Deutschen [und die Kollaborateure] zerbrachen die Fensterläden, drangen ins Haus ein und befahlen, sich auf dem Hof zu versammeln. Wir gingen nach draussen: ich, Mama und unser kleiner Verwandter Tolik. Der Vater war diese Nacht in den ehemaligen "Oktoberwerken" geblieben, wo er einige Tage arbeitete.
Uns trieb man zur Chlebnaja. Hier wurden Kolonnen gebildet und die Menschen in geschlossene LKW verladen.
Wir sahen, wie einige Leute den deutschen Arbeitsausweis zeigten. Sie wurden aus der Kolonne aussortiert. Mutter zeigte eine Bescheinigung vor, dass sie Ärztin sei. Aber das half nichts. Wir waren dran, in die Wagen zu steigen. Mama machte einen letzten Versuch - sie zeigte wieder die Bescheinigung, diesmal einem Offizier. Der gab ein Zeichen, und ein Polizist führte uns auf den Hof der Brotfabrik. All dies geschah im Morgengrauen.
Dort zwang man uns niederzuknien. Wer nicht gehorchte, wurde erschossen.
Um vier Uhr wurde die Umzingelung aufgehoben und wir entlassen.
Am nächsten Morgen kam Papa angelaufen und musste sofort wieder zur Arbeit. Bald kamen Deutsche [und Kollaborateure?] und trieben uns aus dem Haus. Sie erlaubten uns, so viele Sachen mitzunehmen, wie wir tragen konnten. Dann trieb man uns zum Judenrat. Vom Regen durchnässt warteten wir dort darauf, dass uns ein neues Heim zugewiesen wurde. Aber es geschah nichts. Schliesslich gingen wir zum Krankenhaus.
Später fand Vater ein Zimmerchen, und wir zogen dorthin. Toljuschka (dessen Vater Russe war) brachte man aus der Stadt heraus zu Lena Sokolova, wo er sicher war.
Aus den Auszeichnungen Berta Moiseevna Bruks [über das Pogrom vom 7.November 1941]
Es will nicht in meinen Kopf gehen! Einen ganzen Bezirk zur Vernichtung vorzusehen. Alle Menschen zusammenzutreiben, die dort lebten, alle ohne Ausnahme, Alte und Kinder [ausser die Geflohenen und die Versteckten]. Man warf dort Menschen lebendig hinein. Dann wurden sie mit brennbarer Flüssigkeit überschüttet.
Die Gestapoleute, denen es nicht langweilig werden sollte, fuhren fort, in diese sich bewegenden Gruben zu schiessen [dabei brannte die Grube doch]. (S.23)
Nach dem Pogrom kam die Ärztin Libschiz ins Krankenhaus gelaufen, sie war die Frau eines Röntgenologen. Ihr war es gelungen, sich aus der Grube herauszuarbeiten [wo doch alles erschossen wurde, was sich bewegte, das geht nicht zusammen]. Sie hatte Brandwunden, war verstümmelt. Sie erzählte, dass die Menschen in die Gruben gestossen und dann angezündet worden waren.
Und ich erinnere mich daran, wie wir dieses Pogrom überlebten, wie ich den Deutschen [und den Kollaborateuren?] eine Bescheinigung zeigte, aus der hervorging, dass ich Ärztin bin, Abteilungsleiterin des Infektionskrankenhauses. Selbst später noch sagte der Kommandant des Ghettos, Hattenbach, dass die Mitarbeiter des Infektionskrankenhauses erst ganz zum Schluss vernichtet würden!
Ich erinnere mich, wie ich einige Kolbenhiebe abkriegte, als ich den Zettel zeigte. Später, als man mich mit meiner Tochter und dem dreijährigen Enkel in den LKW treiben wollte, befreite mich zum Glück ein Deutscher wegen der Bescheinigung.
Ich erinnere mich, wie uns "Begnadigten" befohlen wurde, auf dem nassen Kopfsteinpflaster zu knien und auf einen Punkt zu starren. Mein Enkel, der dreijährige Tolik, fragte immer wieder, ob er richtig stehe, und zitterte wie Espenlaub... Als wir abends heimkamen, fanden wir leere Wohnungen vor. Es war schon dunkel, als unsere Nachbarn, zwei Brüder, deren Familien ausgelöscht worden waren [oder die sich versteckt hielten?], von der Arbeit zurückkamen. Einer von ihnen schnitt sich die Venen auf [was noch nicht heisst, dass er gestorben ist], auf den anderen passte ich die ganze Nacht auf. Auch meine Tochter versuchte, ihn zu beruhigen. Morgens kam mein Mann Schenja, den sie tags zuvor zur Arbeit in die Stadt geholt hatten. Schenja schaute uns immer wieder an, er konnte es nicht glauben, dass wir lebten. Hier lagen doch Tote: Mutter und Kind!
Ist der Geburtsschein die Rettung? - [Namenwechsel als Mittel zur Rettung]
Mama dachte oft an ihre Freundin Katerina Loginovna Bessmertnaja. Und ich erinnerte mich oft an ihre Tochter Lidja. Ihre Familie, so hoffte ich, war evakuiert worden.
"Katerina Loginovna würde uns helfen", sagte Mama.
Von Mamas Freunden wohnten Maja Grigorevna Nejmark und Bella Moiseevna Dedovitsch im Ghetto.
Majas Onkel war ein guter und freigebiger Mensch. Das Haus, in dem sie vor dem Krieg wohnten, war unversehrt geblieben.
Majas Onkel tauschte Wertgegenstände in Lebensmittel um, um nicht verhungern zu müssen. Etwas teilte er mit uns. Maja Grigorevna lebte in der Chlebnyi-Gasse. Ein bemerkenswerter Name! Er duftete nach Brot. ("Clebnyi-Gasse" heisst "Brotgasse").
Bella Moiseevna war Lehrerin. Schon vor dem Krieg erkrankte sie an der Basedoschen Krankheit. Sie wurde selbst jetzt, in (S.24) der Hungersnot, nicht dünner und konnte sich nur mit Mühe fortbewegen.
Ihre Schüler vergassen sie nicht. Sie empfing Grüsse von Sascha Migotin, Kolja Malyschka und Katja Iorinaja. Die Kinder kamen zum Stacheldraht, um ihr einige eingewickelte Lebensmittel zu geben.
Bella Moiseevna sorgte sich um ihre Tochter Ella. Sie besorgte Ella einen Geburtsschein, sandte sie in ein Dorf bei Osipovitsch. Ella hatte jetzt einen anderen Namen.
Würde ihr der Geburtsschein helfen?
Ich erinnere mich, ich erinnere mich... - [das Leben vor dem Krieg]
Was hatten sie mit unserer Stadt gemacht! Ruinen, leere schwarze Fensterrahmen, umgeben von Brandgeruch. Mir schien, dass ich Verrat beginge, wenn ich vergessen würde, wie unser Minsk aussah, unsere Gasse, der Hof, die Einzimmerwohnung mit Veranda, die Gemeinschaftsküche, all die Menschen, mit denen ich meine Jugend verbrachte.
Und ich erinnerte mich, erinnerte mich, erlaubte mir nicht, zu vergessen: nicht das Haus, nicht den Hof. Und die Menschen - wer wo ist, ist ungewiss. Es gab nur Brandstätten.
Oft kam mir in den Sinn: Von der Podgorni-Gasse ging ich zur Musikschule am Freiheitsplatz. In den Händen hatte ich, wie meistens, die Notenmappe. In ihr waren die Etüden Tschornis [Cernys?] , die Preludien Bachs. Jetzt gehe ich in die Klasse. Maria Jakovlevna Schlopakova, meine Lehrerin, würde mich hören.
Leider kamen die Kolonnen nicht zur Podgorni-Gasse, zum Freiheitsplatz. Was für einen wunderbaren Namen der Platz hatte!
Das Pogrom vom 20.November
Die Nacht war kalt, liess einen nicht schlafen. Der Ofen war erkaltet, wärmte nicht. Die alte Tjema hatte kein Brennholz. Morgens glimmten einige Holzscheite. Aber die Wärme hielt sich nicht lange.
Es dämmerte. Ich ging auf den Hof, zog einen leichten Sommermantel an. Es fror, aber mir war nicht kalt.
Erst gestern hatten Mama und ich besprochen, was wir anziehen würden. Wir hatten nur einen Wintermantel für alle.
Ich lief zur höchsten Stelle der Samkovaja. Ich freute mich, dass ich nicht fror:
"Vielleicht kann man den Winter in Sommerkleidung überstehen!"
Aufmerksam schaute ich mir das gegenüberliegende Flussufer an. Auf dieser Seite des Ghettos war es scheinbar ruhig. Jedoch rechterhand, von der Nemiga aus gesehen, hörte man Getöse. Es wuchs an, kam näher - fahrende Autos. Aber da es nicht sicher war, dass sie zum Ghetto fuhren, beruhigte ich mich wieder. Ich ging zurück. Plötzlich traute ich meinen Augen nicht. Die Autos waren nah. Aus ihnen strömten Soldaten in deutschen Uniformen [darunter Kollaborateure?], sie umstellten den Bezirk. (S.25)
Mir gelang es, zu unserm Haus zu rennen, ich rief:
"Pogrom!"
Augenblicklich waren alle angezogen. Mama nahm Innotschka zu sich, ergriff aus irgendeinem Grunde einen Brotlaib und gab ihn mir. Dann half sie Grossmutter, ihr Kopftuch umzulegen, Schuhe anzuziehen.
Die einsichtige, besonnene Dina sagte:
"Das ist wohl die letzte Episode!"
(Dinas Lieblingsausdruck war: "Das Leben ist eine Kette von Episoden.")
Man trieb uns aus dem Haus. Auf dem Hof waren bereits viele Menschen. Offenbar hatte man sie schon aus den Nachbarhäusern zusammengetrieben. Der schöne Dvorkin war auch dabei. Seine hohe Figur und sein grauer Kopf waren von Ferne zu sehen. Daneben seine Tochter, die langbeinige Sinotschka.
Der Ingenieur Livschiz. Er kam zu uns, zog den Hut, wünschte uns Gesundheit. Erstaunlich, in einem solchen Moment!
Ich glaubte, man würde uns jetzt vor dem roten Ziegelhaus erschiessen. Mein Gott, sie erschiessen uns vor jenem Haus, in dem meine Freundin Tata vor nicht langer Zeit wohnte - Tanetschka Drosdova, die mit ihren Eltern von hier fortgezogen war.
Sie trieben uns wirklich zu der Wand. Die Deutschen [und Kollaborateure?] zählten die Menschen und teilten sie ein. Dass man bloss unsere Familie nicht trennt.
Sie sortierten. Deutlich höre ich zwei Worte: "Leben", "Tod". Das hiess, in die eine Kolonne stiessen sie die Menschen, denen es noch erlaubt war weiterzuleben. In die andere kommen die, die zur Erschiessung gebracht wurden. Wir kamen in letztere.
Die Menschen verstanden die Situation. Sie versuchten, von der Todeskolonne in die Lebenskolonnen zu laufen. Plötzlich trat ich auf etwas Weiches. Unter mir war das grauweisse Gesicht eines Mädchens. Ich erkannte sie. Es war unsere Nachbarin Sima Kotljarovna, eine Freundin Dinas.
Ich zerrte an ihr, bat:
"Steh auf!"
Dina sagte:
"Sie steht nicht auf: man hat sie ermordet. Sie wollte über den Draht klettern."
Bis dahin arbeitete mein Gehirn aussergewöhnlich genau, erstaunlich klar. Jetzt konnte ich nichts mehr verstehen:
"Ist sie tot?"
Soldaten umstellten uns.
Wohin führte man uns? Die Dimitrov-Strasse hoch. Vielleicht zum Jubiläumsplatz? Zum Judenrat?
Die Kolonne wurde auf jeder Seite eskortiert, jede zweite Reihe ein Begleiter. Unsere Reihe, in der Grossmutter, Mama, meine Schwester und ich gingen, war ohne Eskorte. Aber sie war vor uns und hinter uns. Die, die sich aus der Kolonne lösten, wurden sofort erschossen.
Ich erinnere mich, dass ich in den Händen das Brot hielt und anfing zu essen. Es ist unglaublich, aber ich wollte essen. Ich reichte das Brot Mama. Sie schaute mich erstaunt an. (S.26)
Doch wohin brachte man uns? Das war doch die Todeskolonne. Wirklich in den Tod? Nein, ich glaubte es nicht!
Vorne in der Kolonne war die Gestalt der alten Tjema zu sehen. Sie ging gerade, unbeugsam. Dvorkin führte seine lange Sinotschka an den Händen. Dina half ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Era, die irgendwie ihre vor Hunger aufgeschwemmten Beine voranschleppte.
In dieser Kolonne war auch der Ingenieur Livschiz, der ehemalige Student Senja Poplavskij, Sorja Strongina, die lustige Pionierleiterin, die Familie Nisovyi, ihre zehnjährigen Zwillinge Marlen und Stalina [Stalin lässt grüssen!]. Und sie alle glaubten wohl auch nicht an ihren Untergang.
"Ich möchte leben!" zerriss plötzlich die Stimme Innas die Stille.
Und wieder ist es still.
"Mama", so hörte ich meine Mama flüstern, sie wandte sich an unsere Grossmutter, "wir müssen die Kinder retten! Versuchen wir in diese Richtung zu laufen. Halt dich an mir fest!"
"Ich kann nicht, die Beine machen nicht mehr mit", antwortete Grossmutter. "Rette die Kinder, flieh mit ihnen!"
"Wie könnten wir ohne dich weglaufen?"
"Ich kann nicht mehr! Rette die Kinder!"
Mama befahl mir, die Flicken von der Brust zu reissen. Sie riss ihn sich selbst und Inna ab. Den Flicken vom Rücken abzureissen war nicht möglich, die nachfolgenden Bewacher würden es sehen.
Nein, man führte uns nicht zum Jubiläumsplatz. Man führte uns schon zur Ghettogrenze. Sie trieben uns durch die Opanskij-Strasse. Plötzlich kam uns auf der linken Strassenseite ein Pferdefuhrwerk entgegen. Es war schon dicht bei uns.
"Springt auf das Pferdefuhrwerk!" Mama stiess uns aus der Kolonne. Der Bauer schlug wie wild auf das Pferd ein. Hinter uns ging alles drunter und drüber, Schreie, Schüsse. Sie schossen hinter uns her. Aber wir waren schon weit von der Kolonne entfernt. Wir rissen den gelben Flicken vom Rücken.
"Lauft! Rettet euch!" schrie der Bauer.
Wir versteckten uns in irgendeinem zerstörten Haus. Mama war ausser sich:
"Und unser Grossmütterchen ist weitergegangen, einfach weiter, die arme."
Mamas Augen waren blind.
"Wohin bringt man sie? Meine liebe, mein Mütterchen."
Wir weinten alle. Verzweiflung ohne Ende.
[Flucht ohne Judenfleck in die Kirche - man hält die Flüchtenden für Christen - Anna holt in der einstigen Wohnung einen Mantel - die Mutter wird angeschossen]
Wir gingen durch Ruinen. Wohin gehen, wo unterkommen? Wir hielten am Freiheitsplatz. Wir sahen, wie sich die Menschen zur katholischen Kirche wandten. Ich erinnerte mich, wie wir Pioniere irgendwann antireligiöse Propaganda betrieben haben: Wir fingen die Gläubigen nach dem Gottesdienst ab und sagten ihnen, dass die Religion Opium fürs Volk ist.
Mutter sagte, dass wir in die Kirche gehen müssten. Man würde uns auch für Gläubige halten.
"Stehen wir ein bisschen, wärmen uns auf und gehen." (S.27)
In der Kirche knieten alle nieder. Mama befahl uns, auch niederzuknien. Aber ich stand da, konnte nicht knien. Mama schaute mich ruhig an, flüsterte:
"Errege keine Aufmerksamkeit! Man ergreift uns sonst."
Als das Gebet zu Ende war, verliessen wir die Kirche. Wohin jetzt? Zu weissrussischen Freunden? Gefährlich für sie und uns. Es gab nur einen Weg - zurück ins Ghetto.
Wir entschieden uns, aus Richtung Samkovaja ins Ghetto zu kommen. Wir gingen nahe an den Zaun. Nicht weit weg schritt eine Wache auf und ab [Wachen waren meistens weissrussische Kollaborateure]. Erstaunlich, aber sie trug einen Rotarmisten-Mantel. Wir baten die Wache um Erlaubnis, in unser Haus gehen zu dürfen, um einige Sachen zu holen.
"Ihr seid doch einer von uns, tragt einen Rotarmistenmantel", sagte ich.
Mam riss mich am Arm.
"Einer von euch?" rief plötzlich die Wache.
"Lasst uns durch", bat Mama, "wir müssen einen warmen Mantel haben. Wir nehmen ihn und gehen wieder."
Der Wächter schaute sich nach allen Seiten um. Ringsum nichts zu hören. Er schob mich voran.
"Geh! Und mach schnell! Und ihr dorthin, weiter weg von hier", befahl er Mama und Inna.
Ich rannte zum Haus, Das war bereits kein Haus mehr, sondern ein Friedhof. Vor wenigen Stunden lebten hier noch Menschen. Der niedrige Stuhl unserer Grossmutter, auf dem sie sich immer in der Nähe des Ofens wärmte. Tjemas Bett. Die Matratze neben dem Schrank, auf der Dina und Era geschlafen hatten. Wem hatten diese Menschen Böses getan? Wozu das alles?
Verbittert, schluchzend setzte ich mich auf einen Stuhl. Mit den Augen suchte ich den Mantel und den Beutel mit Essen. Warum sass ich hier? Ich musste schneller machen, schneller!
Und plötzlich, wie Gespenster, erschienen zwei Deutsche in grau-grünen Mänteln auf der Türschwelle. Auf den Schultern trugen sie sehr grosse Abzeichen. Der Patrouillendienst der Feldpolizei! Ich hatte nicht gehört, wie sie durch die offene Tür eingetreten waren. Ich schlotterte vor Angst, sah mit Grauen, dass sie Abzeichen mit Ketten und schwere Stiefel trugen. Die Stimme des Deutschen grub sich ins Gedächtnis ein:
"Wer bist du? Eine Jüdin?"
Die Deutschen warfen sich Blicke zu.
"Wo ist deine Mutter?"
"Dort!" Ich zeigte auf die Strasse, "und Schwester dort."
"Wo ist dein Vater?"
"In der Roten Armee."
Da habt ihr's, ihr Reptilien! Ich fürchte mich schon nicht mehr! Tötet mich! Ich bin eine Jüdin! Mein Vater ist in der Roten Armee! Tötet mich!
"Was machst du jetzt da?"
Ich antwortete, dass ich nach dem Pogrom gekommen bin, dass wir hier gewohnt hätten.
"Armes Kind", sagte der Deutsche und fragte, wo ich deutsch (S.28) gelernt hätte.
Ich antwortete kurz, dass wir Deutsch in der Schule gelernt haben, dass ich gekommen war, Sachen zu holen. Der Deutsche warf mir fremde Sachen zu, befahl, sie mitzunehmen. Ich sagte, dass ich fremde Sachen nicht brauche.
Der Deutsche wollte wissen, wem die Hausapotheke an der Wand gehöre. Ich antwortete, das sei Mamas.
"Ist deine Mutter Ärztin?"
Ich nickte. Er schaute sich die Apotheke an.
"Arme Apotheke."
Der zweite Deutsche schwieg die ganze Zeit.
Von der Strasse drang Lärm herauf. Vor den Fenstern fand ein Handgemenge statt.
"Räuber", erklärte der Deutsche seinem Kollegen, und dass die gekommen seien, die Sachen der Toten zu rauben.
Mir erlaubte er, das unbedingt Notwendige an mich zu nehmen. Sollten sie mich wirklich gehen lassen? Ich konnte es gar nicht glauben. Ich warf mir den Mantel über, nahm den Essensbeutel und ging. Die Deutschen kamen mir nach. Ein Gedanke pulsierte in meinem Hirn:
"Jetzt wird geschossen."
Ich hörte einen Schuss. Er ertönte dort, wo Mama und Inna waren. Ich stürzte dorthin. Mama hielt sich ihren verwundeten Arm und beugte sich nieder; sie konnte nicht stehen. Wir hoben sie auf. Wir mussten uns jetzt retten!
Nach der Flucht - [Doktor Kulik organisiert ein neues Quartier - die Todeskolonne wurde gemäss Erzählungen in Tutschinka erschossen]
Wir lebten in einer Abteilung des Infektionskrankenhauses. Nach dem Zwischenfall im Ghetto waren wir zu einem Bekannten Mamas aus der Vorkriegszeit, Doktor Kulik, gegangen. Er machte Mama einen Verband. Gut, dass die Verletzung nicht ernsthaft war. Aber Mama war schwach vor Hunger, von all dem Durchlebten. Sie weinte die ganze Zeit um Grossmutter.
Keine Grossmutter mehr! Wir konnten nicht ohne Trauer an ihre klaren Augen, ihre grauen Haare, ihre Hände mit den aufgewölbten Venen denken. Die Hände eines arbeitenden Menschen. Ich hatte Angst um Mama, dass sie nicht ganz schwach würde, zusammenfiel.
"Wäre sie doch nur mit uns gelaufen", erinnerte sich Mama in ihrer Verzweiflung und weinte gramvoll, dünn, wie ein Kind. Aber Grossmutter mit ihren geschwollenen Beinen konnte nicht laufen. Überhaupt war unsere Flucht ein unglaublicher Zufall. Wenn dieses ländliche Fuhrwerk nicht gewesen wäre, wären wir wohl kaum gerettet worden.
Doktor Kulik suchte uns eine Zuflucht. In seiner Abteilung war es so gut, so warm. Aber zu ihm kamen dauernd irgendwelche Menschen. Es schien, dass wir ihn störten.
Doktor Kulik fand eine Zuflucht für uns in der Slobodskij-Gasse. Wir mussten einige Tage warten. Wir übernachteten in einem Geheimversteck, bei Mamas Freund Doktor Krasnoselskij. Er wohnte unweit des Jubiläumsmarkts, beim Judenrat. Nicht weit entfernt lebte der Regisseur Michail Sorov, der Stolz (S.29) des weissrussischen Theaters.
Immer noch hingen in der Stadt Ankündigungen für das Schauspiel "Das Letzte", das er am weissrussischen Theater inszeniert hatte. Ich war in der Premiere gewesen. Eine glückliche Erinnerung aus vergangenen Zeiten! Michail Sorov fragte Mama, Inna und mich, wie wir aus der Kolonne entkommen seien.
Bald wurde bekannt, wo unsere Kolonne erschossen worden war. Dort starb auch unsere Grossmutter: in Tutschinka.
"Facharbeiter"
Noch ein deutsches Wort klang allen im Ohr: "Facharbeiter". Es bedeutete "qualifizierter Arbeiter". Zu ihnen gehörten Schneider, Schuhmacher, Maurer, Schlosser usw. Mit einem Wort, Menschen, die über eine Berufsausbildung verfügten. Die Deutschen [und Kollaborateure] gaben ihnen auf der Arbeit ausreichend Verpflegung. Es gab Gerüchte, dass sie nicht erschossen würden. Menschen aus Intelligenzberufen begannen zu überlegen, über welche Fertigkeiten sie verfügten, um sich als Facharbeiter ausgeben zu können.
Romka - [ein Bub erwartet seine Mutter in der Arbeitskolonne und wird von Wachen verletzt]
Der kleine Romka kam zum Draht gelaufen. Er wartete auf die Kolonne, in der seine Mama sein sollte. Mama brachte irgend etwas zu essen mit. Romka hatte bereits Kohle im Ofen angezündet. Aber das machte ihn natürlich nicht satt.
Endlich, da war sie, Mamas Kolonne! Vorneweg die Tanten Faina und Julia. Und da kam Mama. Sie winkte von Ferne. Vielleicht hatte sie Brot? Romka hielt es nicht mehr aus, lief zu ihr von jenseits des Drahtes. Er war bereits nahe bei der Mama. Aber irgendjemand ergriff ihn von hinten.
"Nicht schiessen!" eine wilde Frauenstimme zerriss die Luft.
Die Stimme von Romkas Mutter.
Der Deutsche [oder Kollaborateur] schoss nicht. Er kugelte dem Jungen die Arme aus. Sie baumelten leblos, wie bei Puppen.
"Laufen wir zum Doktor, zu Siterman. Er wird etwas tun, helfen", sagte Tante Faina.
Der Professor war nicht zu Hause. Die Deutschen [oder Kollaborateure] hatten ihn zum Toilettenputzen getrieben.
Hauptsache nicht in Gefangenschaft - [nackte Kriegsgefangene ziehen durch Minsk]
Ende Januar.
Morgens sahen wir in den Kolonnen, die die Moskauer Strasse entlanggeführt wurden, etwas Unglaubliches. Es waren Kriegsgefangene. Sie waren nackt, barfuss. Die Faschisten führten sie durch den Frost, erschossen sie [die, die nicht mehr laufen konnten]. Man munkelte, auf der Sowjetskaja sei es ähnlich.
Wo war unser Papa? Hauptsache, nicht in Gefangenschaft! Hauptsache, nicht in Gefangenschaft! (S.30)
Gute Menschen
In der Slobodskij-Gasse lernten wir neue Mädchen kennen - Bronja und Lena Goldman. Ihre Mama Nechama Samojlovna hatte eine Freundin: Vanda Iosifovna Oparina. Sie waren von Kindesbeinen an befreundet.
Vanda Iosifovna und ihr Mann Filipp Timofeevitsch waren Brandgeschädigte. Sie besassen weder Wäsche noch Nahrung. Die auf dem Land lebende Schwester half ihnen. Vanda Iosifovna brachte von Zeit zu Zeit von dort Kartoffeln und Mehl mit.
Unter Lebensgefahr kam Bronja zu den Oparins. Die halfen, so gut es ging. Zur Zeit des ersten Pogroms versteckten sich Bronja und Lena bei ihnen.
Oparins waren schon mehr als einmal bei den Goldmans im Ghetto. Einmal hätte solch ein Besuch fast Vanda Iosifovnas Leben gekostet.
Ausserdem half den Goldmans noch ihre ehemalige Nachbarin, die alten Luisa, mit der sie vor dem Krieg in der Weissrussischen Strasse gewohnt hatten. Sie war Deutsche, hasste aber die Faschisten. Sie kam dorthin, wo die Kolonnen arbeiteten, sah Bronja, sprach mit den Wachen und übergab dem Mädchen unbemerkt einen Beutel mit Lebensmitteln.
Es war ein Glück, dass es so gute Menschen gab.
Das letzte Treffen [- Todesstrafe für eine jüdische Lehrerin, die am Stacheldraht ihre ehemaligen Schüler trifft]
Sie ermordeten Bella Moiseevna, Elinas Mama, unweit des Stacheldrahts. Sie hatte mit ihren Schülern gesprochen.
Die Kinder kamen ungeachtet der Gefahr, um sich mit ihrer Lehrerin zu treffen.
Gross, traurig, mit durch die Basedowsche Krankheit vorquellenden Augen, stand sie am Zaun mit den gelben Flicken an ihrer Kleidung. Und daneben ihre Kinder. Auf der anderen Seite des Zauns ihre ehemaligen Schüler: die Achtklässler Sascha Migotin, Kolja Malyschka, Katja Iorinaja. Ein Schuss unterbrach dieses Treffen.
Ein Polizist [Deutscher oder Kollaborateur] jagte ihre Schüler davon:
"War es das, was ihr wolltet?"
Kolja zeigte die Faust.
Bella Moiseevna starb für die Verletzung der Befehle. Einem Bürger jüdischer Nationalität war es verboten, Kontakte zur weissrussischen Bevölkerung zu unterhalten.
Sie hing im Stacheldraht, der ihre Kleidung zerfetzte, und es schien, als versuchte sie zum Schluss noch zu sagen:
"Wenn ich solche Schüler habe, war das Leben doch nicht umsonst."
Eine Tomate für Mama - [Kinderarbeit beim Kohle verladen - Todesstrafe für ein jüdisches Kind, das eine Tomate kauft]
Faina war vom Hunger völlig entkräftet. Wir kamen noch ganz gut mit der dünnen Gemüsesuppe aus, aber sie mit ihrem schwachen, kranken Herzen und der schweren Arbeit! Sie lag da, konnte nicht aufstehen. (S.31)
"Ich gehe für dich, Mama. Ich bringe dir Suppe", sagte ihr Sohn Mischa.
Die Mutter umarmte ihn dankbar und ängstlich. Natürlich fürchtete sie für ihn. Faina bat uns:
"Lasst ihn nicht allein, arbeitet zusammen. Dann bin ich ruhiger!"
Mischa war auch schon früher für sie zur Arbeit gegangen. Der Junge erhielt dafür einige Pfennige.
"Ich gehe zu den Markthändlern und kaufe dir irgendetwas, Mama!"
"Nein! Nein! Geh nicht von der Kolonne weg, Sohn. Schon gut, wir werden auch so fertig. Ich ruhe mich heute und morgen aus, vielleicht wird's dann besser."
Zur Arbeit gingen wir zusammen: Asja, Mischa und ich. Er lief, sprang, trällerte etwas. Ein leichter, schwarzhaariger Junge, ähnlich einem venezianischen Gondoliere.
Wir luden Kohle ab. Von Zeit zu Zeit schauten wir, wie es Mischa ging. Er war schwarz von Kohlenstaub. Nur die Augen funkelten. Wir arbeiteten lange, waren erschöpft. Als wir von der Arbeit kamen, standen wir Schlange nach der dünnen Gemüsesuppe. Mischa bekam einen Zuschlag - einen ganzen Napf. Er wollte ihn Mama bringen. Der Junge war zufrieden, summte wieder irgendeine Melodie.
Wir kehrten nach Hause zurück. Die Kolonne passierte die Mjasnikov-Strasse. Wir näherten uns einem Geschäft, vor dem ein kleiner Markt war. Mischa ging voraus. Ich sah seinen Nacken, seine schmalen, kindlichen Schultern, den Napf in der Hand.
Plötzlich rannte er aus der Kolonne, stürmte auf den Markt zu und streckte den Händlern seine Pfennige entgegen [müssen Kopeken sein, denn in Weissruthenien galt weiter der Rubel, der an den Reichsmarkkurs gekoppelt war]. Asja und ich warfen uns Blicke zu. Mischa stand auf einem verbotenen Ort, auf seinem Rücken loderte mit einem unguten, furchterregenden Feuer der gelbe Kreis. Wir riefen ihn, schauten uns um: dass bloss keine Wachen in der Nähe waren.
Nach einer Minute kehrte Mischa, der glückliche, in die Kolonne zurück. In der Hand - eine Tomate! Rot und gross. Wie verzaubert blicken wir sie an, empfanden den vergessenen, unglaublichen Geschmack. Erleichtert atmeten wir auf:
"Überstanden!"
Er zeigte stolz seine Tomate:
"Für Mama!"
Aber was war das? Vorne, nahe bei Mischa, tauchte etwas Schwarzes auf. Genau, jemand in schwarz! Ich verstand noch nicht, was vor sich ging, fühlte aber das Übel nahen.
"SS", flüsterte Asja ängstlich.
Mischa warf sich auf die Seite. Der SS-Mann ergriff ihn, trieb ihn in die Kolonne zurück, hielt eine Pistole gegen Mischas Nacken und schrie wutentbrannt:
"Vorwärts!"
Wieder warf sich Mischa zur Seite. Aber wieder trieb ihn der SS-Mann in die Kolonne. Er hielt die Pistole unerbittlich in Mischas Nacken. Ich fühlte, wie mir schlecht wurde, wie die Beine wegknickten. Ich stützte mich auf Asja. (S.32)
[Bild:] Deutsche Wehrmacht in Minsk 1941 (S.33)
Da war schon die Nemiga. Ich sah, wie dem Jungen die Beine versagten. Er fiel. In diesem Augenblick schien es mir, dass Mischa tot war. Der SS-Mann trat ihn mit den Füssen, zwang ihn aufzustehen, hielt ihm seine Pistole in den Nacken.
Ich hielt die Spannung nicht mehr aus, schrie irgendetwas. Ringsrum hörte ich überall Klagegeschrei.
Und plötzlich... ein Schuss. Mischa lag in einer Blutlache. Daneben kullerte der Napf, aus dem Gemüsesuppe floss und die hochrote, wie Blut aussehende Tomate. Die Tomate für Mama.
Durchsuchung - [eine Jüdin vom Judenrat durchsucht jüdische Wohnungen nach Gold]
Mirka aus dem Judenrat! Wie fürchteten wir diese scheussliche Mirka Markman, die in irgendeiner Verwaltung des Judenrates arbeitete. Und woher nahm man solche Menschen? Man sah ihr nichts an, sie war jung, flink. Aber ihr Name verbreitete Angst bei Alt und Jung. Ich war im Nachbarhaus, als sie dorthin kam zu einer Hausdurchsuchung.
"Gebt das Gold raus! Gold! Wozu versteckt ihr es?"
"Und wozu bemühst du dich so?" fragte sie der alte Tischler Sendor Gorelik. "Übernimmt dich nicht! Du wirst auch dort landen", und er zeigte mit dem Finger auf die Erde.
Mirka drehte sich tückisch zu ihm um. Der Alte schüttelte traurig den Kopf.
Sie durchwühlte den Schrank, das Bett, fing an zu drohen:
"Versteckt nichts, wir finden es!"
Beschämend, wie beschämend für solche Leute.
Verschlossene Türen
Uns war schwer ums Herz. Mama ging wieder in die Stadt, was für ein Risiko! Sie suchte Verbindungen, um aus dieser Hölle zu entkommen, sie erstand Lebensmittel. Uns fiel das Warten schwer.
"Ich fürchte schon nicht mehr um mich", sagte sie, "ich gehe raus, reisse den Flicken ab und fühle mich gleich leichter."
Wir hatten nur eine Hoffnung: Mamas helle Augen. Die Deutschen dachten, alle Juden hätten schwarze Augen. Aber die Polizei! (Die Polizei war aus einheimischen gebildet worden). [Die einheimische Polizei wusste, dass Juden auch helle Augen haben konnten].
Heute war Mama sehr traurig. Sie war zu ihrer Bekannten aus der Vorkriegszeit, der Krankenschwester Ljudmila Andreevna, gegangen, mit der sie lange Jahre zusammengearbeitet hatte. Sie lebte in der Pulichova, hatte einen Gemüsegarten. Unterwegs hatte Mama keinen ihrer Bekannten getroffen, obwohl dies möglich gewesen wäre. Es war der Bezirk, wo wir vor dem Krieg gelebt haben. Die Podgorni-Gasse, die Krasnoarmejskaja sind nicht weit von der Pulichova.
Mama klopfte. Auf der Schwelle stand Ljudmila Andreevna selbst. Sie schaute kurz und schloss dann schweigend die Tür.
"Und ich wollte so sehr", erzählte Mama, "dass sie den Bruder (S.34) unseres Vaters heiratet, der in Leningrad wohnt."
Ihre Sache - [eine illegale Geburt]
Die Konzevaja war wohl ungefähr 45 bis 50 Jahre alt. Sie war klein und traurig, mit grauem Kopf und aufmerksamen, grauen Augen.
Klara Jefimovna war von Beruf Gynäkologin. Im Ghetto war sie ohne Arbeit.
Wie auch wir arbeitete Klara Jefimovna als Handlangerin bei der Firma "Gotze-Lehmann" (Gotze und Lehmann waren die Inhaber des [arisierten?] Betriebs). Die Deutschen [und die Kollaborateure] machten der Konzevaja mehr zu schaffen, denn sie war schwach.
In der Stadt kannte man sie. Es kam vor, dass Frauen an den Zaun kamen, wenn keine Wachen in der Nähe waren, und darum baten, Doktor Konzevaja zu benachrichtigen oder ihr irgendetwas zu geben. Das waren ihre ehemaligen Patientinnen, Schwangere. Unter Lebensgefahr kamen sie her, um der guten Frau zu helfen.
Sie besuchten sie auch dort, wo wir arbeiten, in der Sverdlov-Strasse. Die Deutschen nannten die Strasse auf ihre Art - Siegesstrasse.
Wir waren erstaunt, dass dieses Mal ein Mann zu ihr kam. Wir sahen sein besorgtes Gesicht. Er sagte etwas zur Konzevaja, bat sie wohl um etwas. Klara Jefimovna flüsterte leise etwas. Der Mann verschwand.
Die Konzevaja kam zu uns.
"Mädchen, ich muss gehen, seiner Tochter helfen, ihr ist schlecht. Es sind meine Freunde."
"Und wenn man uns fragt?"
"Ich muss gehen!"
Morgens rief die für die Kolonne Verantwortliche, Eva Chasina, die Zahl "Vierzig". Die Wächterin zählte uns nicht einzeln durch.
Wir gingen in den Keller, die Schubkarren holen. Dort wartete Klara Jefimovna auf uns. Sie streckte uns Nadel und Faden entgegen. Asja versteckte sich mit ihr in einer Ecke und nähte ihr den gelben Flicken wieder an.
"Ein Mädchen wurde geboren", flüsterte die Konzevaja mit unverholenem Glück.
Wir gingen auf die Strasse, zogen die Schubkarren. Bald nach dem Platz sahen wir den Mann, der gestern bei ihr war. Er wollte sich vergewissern, dass mit der Ärztin alles in Ordnung ist. Mit kaum merklichem Kopfnicken verabschiedete er sich.
Bald würden wir alles erfahren.
Zur Konzevaja kam er Vater der Schwangeren. Ihr Mann war in der Roten Armee. Die Geburt war zu früh. Ins Krankenhaus konnte man sie nicht bringen. Der Vater wollte die Tochter schon lange zu seinem Schwager nach Hezvisch bringen, doch es gelang ihm nicht. Dann kam die Idee, die alte, bekannte Ärztin, die Freundin, zu fragen. Das Risiko beider Seiten (S.35) war klar, aber es gab keine andere Lösung.
Wir schauten auf Klara Jefimovna. Wie sie jünger geworden war, wie sich ihr Gesicht aufgeklärt hatte!
"Ich hab meine Sache getan!" sagte sie.
Der Grossvater des Neugeborenen tauchte noch einmal hier auf. Er suchte Klara Jefrimovna mit den Augen. Sich umsehend kam er zu uns:
"Sagt dem Doktor, bei uns ist alles gut. Dem Mädchen haben wir ihren Namen gegeben."
Wir konnten es niemandem sagen. Klara Jefimovna wurde während der Razzia erschossen.
Die Beerdigung - [des Vaters von Schenja Temkin im Frost nach einer weiteren Hausdurchsuchung des Judenrats]
Januar 1942.
Der Vater von Schenja Temkin starb. Wie sich Schenja um ihn gesorgt hatte! Wie er versuchte, ihn zu retten.
Überhaupt stützte sich die ganze Familie auf den Jungen. Er arbeitete sich durch den Stacheldraht und besorgte etwas Essbares in der Stadt. Er ernährte die Mutter und die jüngere Schwester Pivotschka. Die Schwester trug einen Zopf, doch der Magen war vor Hunger geschwollen.
Schenjas Vater würde vielleicht noch leben, doch es geschah etwas Unerwartetes.
In das Haus drangen eines Tages Gestapo und Polizei von der Ghettowache ein. Mit ihnen kamen Mirka Markman, Vater und Sohn Segalovitsch. Sie forderten Gold. Sie stiessen den Kranken vom Bett, begannen zu suchen.
Sie fanden nichts (Gold hatte es in diesem Haus nie gegeben!). Der wütende Gestapo-Mann stiess Schenins Vater mit einem eisernen Rohr, brach ihm ein Bein - er bekam eine Blutvergiftung.
Der Vater musste beerdigt werden. Schenja ging in die Stadt, um Bretter für den Sarg zu suchen. Er traf weissrussische Bekannte, die ihm mit Brettern halfen. Drei Tage grub er die gefrorene Erde.
Mensch bleiben - aus Hunger werden Kartoffeln roh gegessen
Wie gut, dass die Menschen selbst angesichts dieses bösen Schicksals ihre Güte nicht verloren. Wie wichtig war es, immer Mensch zu bleiben. Nehmen wir z.B. den Uhrmacher David Schachnovitsch Godar. Er ging durch die Kollektorskaja und sah, dass im Schnee ein junger Mann lag. Er hob ihn auf und trug ihn in sein Zimmer in der Schornaja.
Es war Schenja Temkin. Er wollte über die Einzäunung zu einem Bekannten gehen und Essen beschaffen, entkräftet vor Hunger war er hingefallen.
Der Hausherr schenkte ihm Tee und Zucker ein. Seine Frau sagte:
"Hier hast du Strümpfe, mehr haben wir nicht. Verkauf sie und kauf dir irgendwas dafür." (S.36)
Schenja tauschte für die Strümpfe Kartoffeln ein. Als er Heim kam, begann seine Mutter, sie so zu essen - roh.
Ein Verlust - [Judenrat Ilja Muschkin wird gehängt]
Der älteste des Judenrates, Ilja Muschkin, starb. Alle sagten, er sei ein guter Mensch gewesen: umsichtig, ehrlich, mutig. Er tat alles, um die Zahl der Opfer klein zu halten. Es war ein wirklicher Verlust.
Man erzählte sich, dass Muschkin Leute sogar aus dem Bunker befreite. Dort sassen gewöhnlich die zum Tode Verurteilten.
Ich sah Muschkin einige Male. Gross, schön und stattlich. In seinen Manieren drückte sich Würde und Zurückhaltung aus. Er strahlte Vertrauen aus.
Er wurde gehängt.
Den Platz Ilja Muschkins nahm irgendein Ioffe aus Polen ein. Wie würde er sich verhalten?
Über neue Gewohnheiten - [Schuhe am festen Ort für die Flucht]
Ich bin überzeugt, dass nicht nur ich dieses Gefühl hatte. Ich ertrug es nicht, wenn jemand hinter mir stand. Es war, als ereignete sich etwas Schreckliches, vor Aufregung lief es mir kalt den Rücken runter, mir wurde übel.
So ging es mir seit Mischas Ermordung. Noch jetzt hatte ich die Tomate vor Augen, die er seiner Mutter bringen wollte.
Es gab neue Gewohnheiten. Eine davon war die Folgende. Wenn wir uns schlafen legten, stellten wir die Schuhe an einen bestimmten Platz. Damit wir bei einem Zeichen keine Zeit verlören und sie sofort anziehen könnten. Um laufen zu können! Wohin?
Über das Wichtigste - [Beziehungen zum Untergrund - Angst im Betrieb vor Verrat oder Kollektivstrafe]
Mit uns in der Kolonne war Sarra Chazkelevna Levina. Sie war jung, lebhaft, mit einem reizenden, lebendigen Gesicht. Sie und ihr Mann stammten aus Wilna. Sie sprachen russisch mit leichtem polnischen Akzent. So sprach auch unsere Nachbarin, die Mutter meiner Freundin Nila Kunzevitsch.
Sarrotschkas Mann Boris Levin gefiel mir besonders. Er war Poet und Maler. Ein schöner, talentierter Mensch. Sie hatten eine Tochter, Aletschka.
Irgendwie schien mir, dass Sarrotschka mit dem Untergrund in der Stadt in Verbindung stand. Früher arbeitete sie mit uns. Aber jetzt schloss sie sich manchmal der Kolonnen der Firma "Gotze-Lehmann" an. Ich bemerkte, dass sie während der Arbeitszeit mehr als einmal verschwand. Könnten unter ihren weissrussischen Freunden solche mit Verbindungen zum Untergrund sein? In ihrem Wesen war etwas Unabhängiges, Verwegenes.
Und ringsrum herrschte Angst - die Menschen fürchten alles. Etwas musste getan, ein Ausweg gesucht werden. Mit wem von unseren Bekannten aus der Stadt konnte man noch Kontakt (S.37) aufnehmen? Mamas Gang zu ihrer Vorkriegsbekannten, der Krankenschwester Ljudmilla Andreevna, erbrachte nichts.
Wir musste näher mit Sarrotschka bekannt werden.
Lehmann [der Schreihals - Otto, der Menschenfreund und Vorarbeiter der Baustelle]
Mein Rücken, die Hände und der Hals schmerzten, die Beine versagten. Wieviel Schubkarren mit Steinen, Lehm, Zement hatte ich bewegt! Anfangs zählte ich: fünf, zehn, zwanzig. Dann gab ich es auf. Heute hatten wir Glück. Seit dem Morgen ruhten wir uns schon zweimal aus. Das entschied unser Chef Otto, der uns kommandierte. Nein, Otto war nicht aus braunem Blut. Selbst äusserlich ähnelte er ihnen nicht. Seine Augen waren gut und irgendwie traurig. Er erlaubte immer ein Erholungspause, wenn Lehmann, einer der Besitzer der Firma, in der wir arbeiteten, nicht in der Nähe war.
Lehmann ging über die Baustelle, guckte in jede Ecke und schrie laut. Sein durchdringender, kehliger Schrei war von weit her zu hören. Wir versteckten uns vor ihm. Nie hörte ich eine so eklige Stimme. Sie machte ebensoviel Angst, wie der Pfiff der Peitsche, von der sich der Unternehmer nie trennte.
Lehmann schlug mit voller Wucht zu. Er kam dicht heran und schlug zu, wie mit einem Säbel. Gleichsam als ob er ein Spiel mit dem Springseil versucht, mit erfolglosem Ausgang - einem Schlag auf die Beine. Und dann lachte er zufrieden. Durch sein Lachen wurde einem Angst und Bange.
Uns erschreckte schon sein Aussehen. Er hatte rote Haare, ein rotes Gesicht mit breiter Nase, bleichen Augenbrauen und grünen, giftigen Augen. Einschüchternd auch sein Schuhwerk: hohe braune Ledergamaschen und Metallschnallen.
Ich hasste ihn. Er schlug vor kurzem Mama. Es schien mir, dass er in diesem Augenblick auch mich schlug. Er schlug und lächelte glücklich.
Zusammen mit der schönen, wohlgestalteten Gita Jefimovna Mazkevitsch, einer Ärztin, zog Mama eine Schubkarre. Lehmann machte das Spass: zwei Ärztinnen in einem Gespann. Er folgte ihnen aufmerksam, in der Hand die Peitsche.
Asja und ich gingen neben Mama und Gita Jefimovna. Ich versuchte, Mama zu retten und ergriff die Peitsche iim Flug. Ich fürchtete sie schon nicht mehr. Ich weinte und schrie mit aller Kraft auf deutsch:
"Schlage Mutter nicht! Sie ist doch ein Mensch!"
Erstaunlich, doch Lehmann hörte auf zu schlagen. Er schaute Mama an, schaute mich an. Dann wendete er seinen Blick Otto zu.
Der schaute ihn vorwurfsvoll an.
Kreischend schrie Lehmann: "Verfluchte Juden!" Und er ging.
Otto [der deutsche Vorarbeiter schenkt Juden deutsches Graubrot - deutsche und andere europäische Juden in Minsk im "Sonderghetto"]
Otto sah gut, mitfühlend aus. Er war bereits nicht mehr der Jüngste, um die 40. Er war offensichtlich in die Jüdin Edith (S.38) verliebt.
Mit uns arbeiteten zwei Jüdinnen aus Deutschland - Edith und Linda, die im Sonderghetto wohnten. Das Sonderghetto war der Platz, an dem die Juden angesiedelt wurden, die aus verschiedenen Städten Deutschlands und anderer Staaten Westeuropas hierher gebracht worden waren. Bei uns nannte man sie "deutsche" oder auch "Hamburger" Juden. (Die Juden aus Hamburg waren als erste in Minsk eingetroffen). Das Sonderghetto befand sich in unserem Ghetto, aber abgesondert, eingezäunt mit Stacheldraht.
Edith und Linda stützten sich gegenseitig. Linda war ein kleines, schwaches Geschöpf. Wie ein Schatten hing sie an Edith. Selbst in dieser Situation sah Edith weiblich aus, strahlte Würde aus. Ein schwerer Dutt [ein schwerer Haarknoten] hellen Haares, ein hoher, dünner Hals, hellgraue Augen mit langen Wimpern. Ihr Gang war leicht, wie der einer Ballerina. Vielleicht war sie wirklich eine Ballerina?
Asja und ich beobachteten Otto und Edith. Der Deutsche sprach bereitwillig mit ihr. Oft bemerkten wir, wie Edith und Linda deutsches Graubrot assen. Das gab ihnen natürlich Otto.
Unsere Blicke trafen sich mit Ottos. Er sagte Edith etwas, wandte sich dann an mich.
Es stellte sich heraus, dass Edith anfangen wollte, russische zu sprechen. Ich fasste es nicht: Lernen in einer Zeit, in der man nicht wusste, ob man in einigen Minuten noch leben würde? Edith begann ein Gespräch:
"Ja ponimaju sljova: kleb, dom, gorjod" (russ.: "Ich kenne einige Wörter: Brot, Haus, Stadt"; z.T. falsch ausgesprochen).
Aha! Sie kannte schon einige Wörter!
"Bitte!" sagte ich ängstlich auf deutsch.
"Hübsches Kind", sagte Otto.
Edith erklärte, dass Otto über mich sprach, dass ich ihn an seine Tochter Magda erinnere.
Irgendwie seltsam: Irgendwo in Deutschland gab es ein Mädchen, eine Deutsche, die mir ähnlich sah!
"Denk dran, an der Mogilever Strasse!"
Auf der Sverdlov-Strasse, vor der Grossküche, sah ich plötzlich Nila Kunzevitsch, meine liebe Freundin. Ein zartrosa Gesicht, Grübchen auf den Wangen, lange, kastanienbraune Zöpfe.
Gemeinsam hatten wir uns einmal im Gasschutzkeller versteckt. Dort war auch eine Gruppe Liliputaner aus dem Zirkus. Nila und ich mussten sehr lachen, als Inna eine Liliputanerin interessiert fragte:
"Mädchen, du bist doch noch klein, warum trägst du dann Schuhe mit hohen Absätzen?" (S.39)
Überhaupt hatten wir unser ganzes Leben gemeinsam verbracht. Gemeinsame Bücher, gemeinsame Lieder, die Blumenbeete vor den Fenstern waren die gleichen. Zusammen pflanzten wir sie.
Nilas Vater war Kommunist. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, ob sie evakuiert worden waren. Also nicht. [Im Juni 1941 waren die meisten kommunistischen Funktionäre mit der Roten Armee nach Osten abgezogen].
Glücklich umarmten wir uns. Ich mit meinen verwünschten Aufnähern - den gelben Flicken. Das war gefährlich für Nila.
"Wo bist du? Wo sind die Deinigen?"
"Wir sind schon nicht mehr in Minsk", sagte sie, "hier ist es für Papa nicht sicher. Viele kennen ihn. Und wie geht's deiner Familie? Was werdet ihr tun? Dreh dich nicht um! Hinter dir ist ein Deutscher!"
Nila sprach schnell, hastig:
"Auf alle Fälle, denk dran: Wir sind fürs erste in Volma, an der Mogilever Strasse."
Schnell verabschiedeten wir uns.
"Denk dran, an der Mogilever Strasse!"
Hattenbach [ein Ghettokommandant, will 5000 Juden aus dem Ghetto der Besatzungsmacht ausliefern - die jüdischen Verstecke im Ghetto]
Einer der Kommandanten des Ghettos hiess Hattenbach. Bei uns hiess er "Hausherr". Hausherr des Ghettos. Eine quadratische Figur in einem grünen Mantel. Ein quadratisches rotes Gesicht.
Sobald sein Auto auf dem Territorium des Ghettos hielt, wussten wir, dass mit seiner Ankunft eine Razzia beginnen würde.
Daher hielt das Ghetto den Atem an, wurde es totenstill, als Hattenbachs Wagen am letzten Februartag auf dem Jubiläumsplatz vor dem Judenrat hielt. Das Gerücht darüber verbreitete sich blitzschnell.
Hattenbach sagte im Judenrat:
"5000 Seelen! Für eine Spezialarbeit."
Einige dachten, dass die Deutschen tatsächlich einige Leute für eine Spezialarbeit brauchten.
Die meisten Menschen aber handelten vorsichtig, gruben irgendwelche Verstecke, geheime Gänge. Tag und Nacht. An den unterschiedlichsten Stellen: in den Kellern, unter dem Ofen. Dort versteckten sie auch Nahrung und Wasser.
Unser Zufluchtsort war ein gewöhnlicher Keller. Seinen Eingang tarnten wir.
Die zwei vorigen Pogrome - die vom 7. und 20. November 1941 - begannen jeweils bei Morgengrauen.
Der erste März verlief ruhig. In der Nacht zum zweiten schliefen wir nicht. Wir sassen an den Fenstern. Die Mutigeren gingen auf die Strasse, hörten sich um, befragten einander. Wie gewöhnlich gingen die Deutschen und die Polizisten am Stacheldraht auf und ab. Vielleicht ging es vorüber?
Es war Zeit, zur Kolonne, zur Arbeit zu gehen. Die Spannung fiel. Hoffnung machte sich breit. (S.40)
Das Pogrom vom 2.März [1942 - Vorarbeiter Otto rettet seine jüdische Arbeitskolonne]
Ungefähr um 12 Uhr kamen meine weissrussischen Freundinnen Nata und Nina auf der Sverdlov-Strasse auf mich zugelaufen.
"Geht nicht ins Ghetto. Dort ist ein Pogrom!"
Sofort fiel mir die Ankunft Hattenbachs beim Judenrat wieder ein! Seine Worte: "5000 Seelen!" [ob es auch wirklich 5000 waren, bleibt unbestätigt]. Daher waren heute so viele Kolonnen nicht zur Arbeit in der Stadt erschienen. Unsere Kolonne hatte Glück gehabt - sie war eine der ersten, die noch vor der Neueinteilung das Ghetto verliess. Aber Mama und Innotschka waren dort!
"Ich laufe hin."
"Wohin willst du?" hielten mich die Mädchen auf. "Ihnen hilfst du nicht und du selber kommst nur um."
Nata und Nina standen traurig neben mir. Wie konnten sie mir helfen? Mich zu sich zu nehmen war gefährlich.
Wir standen und weinten.
"Lebt Asja?" fragte Nata.
"Ja, sie ist nur sehr krank. Sie leidet unter Anfällen, seitdem der Deutsche ihr mit der Peitsche auf den Kopf geschlagen hat. Ihr geht's heute schlechter. Geht nach Hause! Danke für alles!"
Die Beine versagten den Gehorsam. Ich schleppte mich lange dahin. Asja sass auf einer Treppenstufe, die Augen geschlossen. Ihr war schlecht.
Es fiel schwer, über die Neuigkeiten zu reden, die Nata und Nina gebracht hatten. Asja hatte im Ghetto ihre Mutter zurückgelassen. Der Vater war schon bei einer Razzia in den ersten Tagen umgekommen. Asjas Eltern waren Juristen. Die Familie Vorobejtschikov war in der Stadt sehr geachtet.
Ich erzählte allen die schlechte Neuigkeit. Vielleicht würden alle auseinanderrennen? Sich bei Bekannten verstecken? Aber wohin laufen?
Ich ging zu Edith und Linda.
"In Ghetto eine Aktion", sagte ich auf deutsch.
"Aber im Sonderghetto auch?" fragte Linda.
Ich schaute Edith schweigend an.
"Man muss Otto sagen. Ins Ghetto darf man nicht gehen. Alle werden erschossen!" rief ich auf deutsch.
Otto fragen? Was konnte er tun, besonders jetzt, wo Lehmann aus Deutschland zurück war.
Edith schwieg.
Ich sorgte mich nicht in erster Linie um mich. Ich dachte nur an Mama und Inna. Ich stellte mir vor, wie sie sich im Versteck drängten, wie sie dort sassen, gequält, verschreckt. Vielleicht gab es sie schon nicht mehr?
Die Zeit blieb scheinbar stehen. Ich fürchtete zu fragen: Und wenn der Arbeitstag zu Ende ist und man uns dorthin, ins Ghetto, bringt?
Niemand rannte weg, versteckte sich in der Stadt. Ja, und wo sollte man sich auch verstecken ohne Pass!
Edith erklärte, dass Lehmann noch nicht aus Deutschland (S.41)
[Auszug aus: Karl Loewenstein: Minsk - Im Lager der deutschen Juden]:
Erinnerungen an eine der Judenmordaktionen im Minsker Ghetto (2.März 1942)
Die Marschkolonnen, die an uns vorbeigeführt wurden, ... gingen eng zusammengepfercht, mit winzigen schlurfenden Schritten an uns vorüber. Dieser Todesmarsch war grauenvoll anzusehen, so grauenvoll, dass wir alle uns damals ein schnelles Ende herbeisehnten. (S.715)
Dieses Blutbad hat sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingegraben, und besonders an jedem 2.März habe ich mit Grauen an diesen Tag denken müssen. Der Weg der armen Opfer zum Richterplatz war mit Leichen besät. ... Die russische Bevölkerung hat tagelang arbeiten müssen, um alle Leichen zusammenzutragen. (S.716)
Lichtes Gedenken
auf ewige Jahre
der fünftausend Juden - der Heiligen/Märtyrer (hebr.)
die ermordet worden sind
durch die Hände der
blutigsten Feinde (hebr.)
der Menschheit -
der faschistisch-deutschen
Mörder - Verbrecher
[vergessen: die Kollaborateure, ohne die die Pogrome
und Erkennungen nicht möglich gewesen wären]
ALICHTIKER ANDENK
AF EJWIKE JARN
DI FINF TOISNT
JIDN - KADOISCHIM
WAS SAJNEN DERMARDET GEWARN
DURCH DI HENT VON DI
BLUTIKSTE SANIM
VON DER MENSCHHAJT -
DI FASCHISTISCH-DAITSCHISCHE
MERDER - TALIANIM
[Text in Hebräisch] (S.42)
[Bild:] Gedenk-Obelisk für die Ermordung von Jüdinnen und Juden in Minsk am 2.März 1942
in (russischer und ) jiddischer Sprache mit hebräischen Buchstaben (von rechts nach links zu lesen) (S.43)
zurück sei. Gab es doch noch Hoffnung? Was konnte Otto tun? Um fünf Uhr erklärte Otto, dass die Kolonne nicht in die Stadt zurück gehen würde.
Abends brachte er uns Brot.
Die Nacht verbrachten wir in einem Keller.
[Am nächsten Tag]
Der 3.März, morgens.
Wir arbeiteten, zogen die Schubkarre. Wie geht es dort den Meinigen? Vielleicht gab es sie schon nicht mehr? Asja hatte wieder einen epileptischen Anfall. Otto gab ihr frei. Die Arme sass auf den Treppenstufen, dachte an ihre Mama.
Ich zog die Schubkarre mit Julia Gorfinkel. Sie hatte schon keine Eltern mehr, sie waren ermordet worden.
Vor Erschöpfung konnten wir kaum unsere Beine bewegen.
Währenddessen besprach Otto etwas mit Edith. Wir beteten für die beiden. Auf eigene Gefahr hatte er die Kolonne nicht ins Ghetto entlassen.
Wie würde er sein Verhalten erklären, wenn man ihn danach fragte?
Heute war er ganz anders. Er wirkte nervös: Legt das nicht dahin, bringt es nicht dorthin. Wir verstanden, er war in einer schrecklichen Verfassung.
Das Ende des Arbeitstages. Otto richtete die Kolonne aus, führte sie ins Ghetto.
Ringsum Blutlachen im Schnee - Spuren des Pogroms.
Menschen rannten uns entgegen. Inna und eine fremde Frau umarmten mich. Mein Gott, kannte ich Mama etwa nicht mehr? Sie lebte! Nur hatte ich Mama wirklich nicht erkannt! Ein grau-gelbes Gesicht, graue Haare, ein langer, langer Mantel. Ja, es war Mama, schrecklich abgemagert, daher wirkte der Mantel auch so lang, er baumelte an ihr wie am Kleiderhaken.
"Ihr lebt, lebt!", weinte ich vor Glück.
Ich bemerkte Otto neben mir.
"Mama, er hat uns alle gerettet."
Wir schauten ihm nach. Er wandte sich mit Edith und Linda dem Sonderghetto zu. Ich fragte, ob dort auch ein Pogrom war.
"Nein", antwortete Mama, "man liess sie noch in Ruhe."
Auch Julia umarmte Mama. Und wo war Asja? Lebte ihre Mama noch?
"Ich hab' sie gesucht, aber nicht gefunden. Alle, die am Leben blieben, kamen hierher", sagte Mama.
Wir gehen zur Obuvnaja, zu Asja. Die Tür war aufgerissen, sie sass auf dem Bett, blass, versteinert. Asja war allein übriggeblieben.
Alle, die sich versteckt hatten, lebten.
Mama erzählte:
"Morgens begann die Panik. Sie hielten die Arbeitskolonnen zurück. Wir begriffen, dass eure Kolonne schon früher das Tor passiert hatte. Danach begann eine Schiesserei. Das Ghetto wurde umstellt. Uns gelang es, in den Keller zu steigen. Innotschka trieb mich voran, sorgte sich um mich. Die Beine, Schultern und Arme starben uns ab. Und ich dachte an dich, (S.44) an Papa, an Grossmutter. Und dann,..." Mama verstummte.
"Sie schossen in unseren Keller", fuhr unsere Nachbarin, die Ärztin Gita Jefimovna, mit zusammengepressten Lippen fort, "und sie schossen lange."
"Fanden sie den Eingang?"
Sie fanden ihn. Sie stiegen nur nicht hinab, sondern schossen von der Treppe aus. Gut, dass der Keller so lang ist, wir drängten uns in die letzte Ecke. Plötzlich hörten wir: "An, da ist keiner. Niemand schreit. Ach, das Loch sollte man sprengen!"
"Ich dachte, sie werfen eine Granate", ergänzte Gita Jefimovna. "Wie sehr wünschte ich, mich aufrichten und auf diese Unmenschen werfen zu können. Ich dachte nur: Wenn ich mich aufrichte, sehen sie alle."
Was für eine schöne Frau war Gita Jefimovna. Hoch gewachsen, schlank. Hellblaue Augen. Kastanienbraune Haare, zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden.
"Wisst ihr", sagte Mama plötzlich, "gestern hatte ich Geburtstag."
"Nun seht", ich umarmte Mama, "wir haben an deinem Geburtstag gesiegt - wir sind am Leben geblieben."
"Ich möchte dich malen!"
Daran gewöhntest du dich nie! Man konnte nicht mehr in die spiegelnden Augen Sarrotschka Levins schauen. Sie waren wie tot. Vor einigen Tagen lebten ihr Mann und ihre Tochter noch. Sie wurden während des Pogroms vom 2.März getötet. Aletschka im Ghetto. Und Levin während der Arbeit in der Stadt. Es hiess, er starb heldenhaft. Irgendein Deutscher [oder Kollaborateur?] trennte ihn als Facharbeiter von den anderen (Levin war Kunstmaler und arbeitete als Anstreicher). Aber er blieb bei den Genossen. Sie warfen sich gemeinsam auf die Deutschen [oder Kollaborateure?].
Die Leute nahmen an, dass er und seine Freunde mit dem Untergrund in Verbindung standen.
ich kann sein Gesicht nicht vergessen, es war schön und klug. Asja und ich standen neben ihm in der Kolonne.
"Hört, haben wir es nicht vergessen?"
Z-pad pyschtschau Palessa
Z-pad Nemana, Soza...
Ich wurde hochgehoben wie auf Flügeln, ich stimmte mit ein:
Z-pad Pcitschy, Dnjapra i Zachodjaj Dzviny... (weissrussisches Volkslied).
Jemand fasste mich am Ellenbogen.
"Ich will dich malen, Mädchen. So, wie du jetzt bist."
Es war Boris Levin. (S.45)
Konfekt und Kugeln - [angeblich lebendig begrabene Waisenkinder]
Nach dem 2.März fürchtete ich mich schon davor, zum Judenrat zu gehen. Dort in der Nähe, in der Ratomskaja, erschossen die Deutschen alle die Menschen, die sie aus den Verstecken und den Kolonnen, die nicht mehr das Ghetto verlassen konnten, zusammengetrieben hatten. Dort ereignete sich noch ein Verbrechen - die Ermordung der Insassen des Waisenhauses.
Man erzählte sich, dass vorher noch einer der Führer im Ghetto gewesen war und die zukünftigen Opfer mit Konfekt bewirtet hatte.
Die Gestapo-Leute warfen die Kinder lebendig in Gruben und schütteten Erde darüber. Die Erde stöhnte und bewegte sich. So etwas Grausames kann man sich nicht vorstellen. Als ich zum Judenrat ging, schien mir, dass das Stöhnen noch zu hören war.
Aus dem Tagebuch Ljala Bruks - [Typhus im Ghetto]
Die Stadt war schrecklich. In der Kälte war es noch schrecklicher. Wir wohnten im Krankenhaus, in dem Krankenzimmer, wo Mama arbeitete. Dort waren Scharlachkranke. Später war das ganze Krankenhaus mit Typhuskranken belegt.
Am 26.März erkrankte Mama. Nach einigen Tagen lag auch ich nieder. Wir hatten Fleckentyphus in schwerer Form. Ich wurde wieder gesund, wenn ich auch stark abmagerte.
Auf das eine Unglück folgte das nächste, unser Papa erlebte den 16. April nicht mehr. Er war ein so guter, lieber Mensch. Nie werde ich vergessen, wie die Leute Lebensmittelpäckchen ins Krankenhaus brachten. Uns brachte man nichts. Und dann:
"Bruk! Ein Brotlaib und drei Stück Zucker."
Dazu ein Zettel von Jaschka Tschernij, meinem Schulkameraden. Danke, teurer Freund.
Als Vater noch lebte, besuchte er heimlich Tolik. Es zeigte sich, dass Tolik nicht bei Lena Sokolova lebte, sondern bei einer anderen Nachbarin - Galja Tumilovitsch.
Wir kannten sie vorher nicht. Sie lebte mit ihrem Mann, Kinder hatten sie nicht, daher nahmen sie unseren Tolik auf. So erhielten wir im Krankenhaus einen Zettel von ihr und stellten den Kontakt her. Galjas Mann war Fahrer. Als wir aus dem Krankenhaus kamen, übergaben sie uns Lebensmittel.
Aus den Aufzeichnungen Berta Moiseevna Bruks - [Partisanen sind "Volksrächer"]
Die Schergen [Deutsche oder Kollaborateure?] drangen in unser Krankenhaus ein uns erschlugen alle Kranken aus dem 31.Zimmer [warum genau dieses Zimmer, bleibt ungeklärt]. Unter ihnen war mein Mann. So wurde das Leben Schenas ausgelöscht, der jeden Tag seine Papier erhalten sollte, um aus der Stadt fliehen (S.46) und sich den Reihen der Volksrächer (Partisanen) anschliessen zu können. Ich wusste nicht, dass ich für immer meinen besten Freund verloren hatte, dass Ljalenka keinen Vater mehr hatte. Vor mir hielten sie das geheim. Aber ich hörte Ljalenkas Weinen, die in einem Bett in der Nähe gelegen hatte.
Als ich etwas stärker geworden war und wieder aufstehen konnte, erzählte mir Ljalenka alles. Ich konnte noch nicht mal weinen, konnte einfach nicht fassen, was in der Nähe vorgefallen war, ich lag nur da, vom Hunger entkräftet.
Zu uns ins Krankenhaus kam Tasja, die Schwester Galja Tumilovitschs, die nach dem ersten Pogrom Toljuschka zu sich genommen hatte.
Tasja brachte einige Rüben, Kartoffeln und einen Brotlaib mit. Von da an half sie uns, wo sie konnte.
In der Nähe - [Suche nach Kontakten zum Untergrund - Nina verspricht einen Pass für die Flucht]
Man führte uns in einer Kolonne. Wir gingen am Gefängnis in der Volodarskij-Strasse vorbei. Dort sassen die, die Widerstand gegen die Faschisten geleistet hatten. Gab es unter ihnen vielleicht auch Bekannte von mir? Im Geiste dankte ich den Gefangenen. Ich wusste, was sie erwartete, und das Herz zersprang vor Schmerz.
Oft hatte ich schon überlegt, wie ich Kontakt zum Untergrund, zu den Partisanen bekommen konnte. Sowohl Mama als auch ich entfernten uns von der Arbeit, rissen die Flicken ab, irrten durch die Stadt in der Hoffnung, Bekannte zu treffen.
Von dem Moment an, wo Lehmann kam, wurde das Entfernen von der Arbeit gefährlich.
Heute war ich in einer Kolonne ohne Asja und Julia. Asja hatte eine schwere Angina, Julia hustete Blut. Elendes Wetter, immer hatte man nasse Füsse. Die Mädchen waren ernstlich krank, sie konnten nicht zur Arbeit gehen.
Was tun? Wie einen Ausweg finden? Wahrscheinlich gab es auch im Ghetto Untergrundkämpfer. Wie konnte man zu ihnen Kontakt aufnehmen?
Wir hatten doch so viele Bekannte in der Stadt! Wenn man nur irgendjemanden treffen könnte! Die Leute waren jetzt nicht sehr gesprächig.
Unerwartet sah ich an der Ecke der Urizkij-Strasse eine junge Frau auf dem Bürgersteig. Sie wandte sich an mich.
"Nina", ich erkannte Nina Lipnizkaja, mit der ich mal im Pionierlager Talke gewesen war.
"Ich suche dich schon lange", flüsterte Nina, neben mich tretend.
Gut, dass Otto uns heute ins Ghetto zurückbrachte! Er tat so, als ob er nichts bemerkte. Und Nina kam noch näher.
"Leben Mutter und Schwester?"
"Noch leben sie. Und wie geht's dir?" (S.47)
"Stelle keine Fragen! Vielleicht kann ich dir helfen, einen Pass zu bekommen. Mit dem haust du aus dem Ghetto ab."
Nina zuckte die Schultern.
Schnell gab sie mir ein Paket.
"Hier ist Brot und ein wenig Speck."
Mit Liebe, mit unbeschreiblicher Wehmut schaute ich Nina an. Ich fürchtete, sie zum letzten Mal zu sehen. In meiner Lage konnte jedes Treffen das letzte sein.
Wir gingen nebeneinander her. Wir näherten uns dem Ghettotor. Sich zu unterhalten war hier gefährlich.
"Nina", sagte ich kaum hörbar, "wie gut, dass wir zusammen sind. Dank dir. Auf Wiedersehen!"
Nina schmiegte sich an mich.
"Auf Wiedersehen. Ich versuche, dir zu helfen."
Sie trennte sich von der Kolonne. Ich sah sie schon nicht mehr in der Menge.
Ich erinnerte mich an das Pionierlager in Talke. Dort waren wir mal mit einem Lied aufgetreten: "Wir gingen durch den Kanonendonner, wir schauten dem Tod in die Augen."
Wir schauten auch jetzt dem Tod in die Augen. Und wir waren zusammen, dicht beieinander.
Kartoffeln, Brot, Medikamente [und Schokolade als Gaben von Efim Abramovitsch]
Jetzt konnte man es noch eine gewisse Zeit aushalten. Mama ging zu Efim Abramovitsch Davidovskij, der in der Radomskaja wohnte. Er war ein ehemaliger Patient Mamas. Sein Haus war nicht niedergebrannt worden. Und er tauschte Kleidung gegen Lebensmittel.
Efim Abramovitsch freute sich über Mamas Kommen. Er teilte mit ihr alles, was er hatte. Mama brachte von ihm wahre Schätze mit: Brot, Mehl, Kartoffeln! Er gab ihr irgendwelche Medikamente aus seiner Hausapotheke. Die Menschen kamen oft zu uns, um Hilfe zu suchen. Aber wie konnte man ohne Medikamente helfen? Mama brachte auch noch eine Überraschung von Davidovskijs mit. Wir naschten sie - es war echte Schokolade!
Rafalok - [der Judenrat überlebt durch Kollaboration und Verrat an den Juden]
Wieder sahen wir Mirka Markman vom Judenrat.
"Wie geht's?" erkundigte sich streitsüchtig der ehemalige Student Rafalok Novodvorez.
Wir wussten, dass dieser Junge mit seinen Zigeuneraugen ihr gut gefiel.
"Könnte nicht besser sein", lächelte Mirka.
"Und was machst du?"
"Ich arbeite als Milizionär", antwortete Mirka halb ernsthaft, halb belustigt. "Hast du vor dem Krieg weibliche Milizionäre gesehen? Nein. Nun, jetzt siehst du welche."
"Und wo arbeiten die Deinigen?"
"Die Meinigen? Rate mal! Sie haben schmutzige Hände, aber genug zu essen." (S.48)
[Bild:] Minsk 1944
Volodarskaja / Ecke Marxstrasse
[nach deutscher (1941) und russischer Bombardierung (1944)] (S.49)
"Aber deine Hände sind sauber?"
Mirka erkannte zuerst nicht, worauf Rafalok anspielte. Lächelnd zeigte sie ihre jugendlichen Hände. Scheinen sauber zu sein, schau nur. Und dann verstand sie, worum es ging:
"Sonst geht's dir gut? Jetzt aber zurück in die Kolonne! Und lass dich nicht erwischen!"
"Du sagst: Ich bin Kostja Damjanov"
Es schien, Ruta hatte sich das schon lange ausgedacht. Ihre Nachbarin Scheva Ozer sagte, dass Ruta am Vortag das Kindermatrosenkostüm sorgfältig gebügelt hatte. Scheva wunderte sich: Wozu?
Das Haus, in dem Ruta vor dem Krieg gewohnt hatte, war nicht niedergebrannt, und sie nahm ihre Papiere und einige Wäsche mit ins Ghetto. Den Matrosenanzug auch. Seit dem Abend hatte sie das Kostüm einige Male Kostja anprobiert, nähte es etwas um, weil das Hemd und die Hose an dem Jungen baumelte. Dann lehrte sie ihn immer wieder:
"Du sagst: Ich bin Kostja Damjanov. Mein Vater ist Bulgare" [also ein Verbündeter der deutschen Seite].
Morgens zog Ruta ihrem Sohn den Matrosenanzug an und ging zum Stacheldraht.
Scheva stand nicht weit weg und hörte und sah alles.
Als die Wache vorbeigegangen war, machte Ruta ein Loch in den Zaun und liess den Jungen durch die Umgrenzung frei.
"Bleib hier stehen, mein Sohn, geh nicht weg."
Sie wartete, bis der Polizist sich umwandte und zu ihnen kam, ja sie rief ihn sogar:
"Hierher! Hierher!"
Der Polizist wunderte sich:
"Was ist das für ein Zirkus? Warum ist er hier?"
"Hör mich an, hör zu. Mein Mann ist Bulgare. Er heisst Kostja Damjanov. Hier ist sein Geburtsschein." Ruta reicht ein Dokument durch den Zaun.
Der Polizist drehte den Geburtsschein in der Hand, wandte sich an den Jungen:
"Wer bist du?"
"Ich bin Kostja Damjanov. Papa ist Bulgare", stammelte der Junge erschrocken.
"Ach, auswendig gelernt! Wie alt bis du Schlaukopf?"
"Er ist sechs, sechs Jahre. Dort steht alles." Stumm schaute Ruta auf den Polizist.
"Und wie heisst du?"
"Ruth Stoljarskaja. Ruta."
Der Polizist straffte seine Schultern.
"Hier steht der Name. Und wo ist sein Vater, dein Bulgare?"
"Im Irak."
"Verbannt?" grinste der Polizist spöttisch.
"Nein, nein. Eine Woche vor Kriegsausbruch fuhr er auf Dienstreise."
"Wer will das hören? Fass' dich kürzer! Ich vertrödle hier meine Zeit mit dir."
"Führt den Jungen in die Stadt. Ins Waisenhaus. Hier (S.50), nehmt." Ruta nahm einen Ring vom Finger. "Gold, der Verlobungsring."
Der Polizist packte ihn, pfiff anerkennend.
"Was hast du noch bei dir?"
"Nichts..."
Der Junge begriff, was vor sich ging.
"Mama, ich gehe nicht mit ihm!"
"Geh, Kostja, geh, Sohn!"
Der Polizist stiess den Jungen von der Einfriedung weg.
"Gehn' wir."
Ruta erschrak plötzlich:
"Du tötest ihn doch nicht? Bringst ihn nicht um?"
Sie kletterte durch das Loch in der Umzäunung, lief ihnen nach.
Um die Ecke kamen Deutsche und Polizisten. Einer von ihnen legte ein MG an.
Ruta wankte, fiel, kroch auf den Händen vorwärts.
Was ist das für einer - [ein deutscher "Fritz", der Juden Brot schenkt und russisch spricht]
Was brauchte er? Man könnte sich vorstellen, dass ihm eine von uns gefiel, aber er verhielt sich zu allen gleich: zu Asja, zu Julia, zu mir. Woher kannte er unsere Namen? Sobald er erschien, sagte er:
"Guten Tag, Mädchen."
Und nannte uns alle beim Namen.
Wir betrachteten ihn mit Erstaunen und Furcht. Die graugrüne Kleidung strömte augenblicklich Kälte und Angst aus. Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn, wer unsere Eltern waren, wo sie vor dem Krieg gearbeitet hatten, ob sie lebten. Schnell war er wieder verschwunden, liess auf der Treppe, auf der wir uns in den Pausen erholten, einen Laib Graubrot, in drei Teile geteilt, und drei Seifenwürfel zurück. Wir wagten lange nicht, diesen Reichtum zu berühren, wurden aber dann mutiger und nahmen alles. Was war das für ein Mensch, wozu brauchte er uns?
Als er wieder kam, wurden wir mutiger. Wir sahen seine hellen Haare, seine feine Nase, sein geteiltes Kinn. Er interessierte sich wieder, wo wir im Ghetto wohnten, wer unsere Nachbarn waren. Wir kamen zu dem Schluss, dass es nicht sein konnte, dass er aus purer Neugierde mit uns die Zeit vertrödelte. Vielleicht suchte er die auf, die ihm nützlich sein konnten?
Wir nannten ihn, wie alle Deutschen, Fritz. Oder Grau-Grünen. Es war bereits sein drittes Erscheinen. Wir erkannten nicht sofort, warum er diesmal nicht in grau-grüner, sondern in schwarzer Uniform kam.
Wir verabredeten, ihm nichts zu sagen. Aber er fragte nach dem Allersimpelsten: Auf welchem Weg führte man uns zum Ghetto? Immer durch die Respublikanskaja? Oder einen anderen Weg?
Asja erklärte Fritz, dass es immer durch die Respublikanskaja geht. (S.51)
"Sag nichts", empörte sich Julia. "Wir haben doch verabredet..."
"Warum? Erzähl nur, Asja, fürchte dich nicht" (auf Russisch).
Wir waren überrascht. Das hiess, er sprach Russisch!
Wer war er? Russe oder Deutscher? Wir stellten verworrene Vermutungen an.
Wieder lag auf der Treppe ein in drei Teile geteilter, duftender Laib Graubrot und drei Stücke Seife.
Noemi [als "persönliche Putzfrau" von Eisenbahnerchef Minz - die misslungene Rettung durch Slava]
Wenn sie an einem vorbeiging, verfolgten sie Männer und Frauen mit Blicken.
"Sie hat das Gesicht der biblischen Suleika", sagte der Lehrer Lev Abramovitsch Mirskij. "Die jungen Frauen blühen trotz Krieg auf."
Unsere Suleika hiess Noemi. Und dieser melodische Name passte sehr gut zu ihr. Sie hatte braune, klare Augen, wallende, dunkelrote Haare, eine hohe, leichte Figur.
Wir wurden mit Noemi bekannt, als wir uns nach dem Pogrom des 20. November hier, in der Slobodskij-Gasse, niederliessen. Sie wohnte in der Nähe, in der Kollektorskaja.
Lev Abramovitsch hatte recht, als er sagte, dass die jungen Frauen aufblühten. Aber Scheva Oser, Noemis Nachbarin, sagte, dass sie in Armut aufblühen, sie riet, den Kopf mit einem Tuch zu verhüllen, die Augen nicht zu heben, sich zu krümmen, sich vor den Deutschen zu verstecken, um sich nicht anzubieten.
Aber sie entdeckten trotz allem Noemi.
Wir säuberten eine Baracke, in der deutsche Eisenbahner wohnten, sie lag an der Moskauer Strasse, an der Westbrücke. Wir, das waren Asja, Noemi und ich. Wir gingen zur Arbeit mit der Kolonne, die an der Baustelle eines Hauses an der Sverdlov-Strasse arbeitete. Dann führte uns ein deutscher Eisenbahner gesondert zur Baracke.
Die Baracke putzten noch zwei weissrussische junge Frauen: Tanja und Ljuda. Erstaunlich, aber der deutsche Eisenbahner verbot uns nicht, mit ihnen zu sprechen. Anfangs mieden wir die Mädchen. Ljuda und Tanja fürchteten sich auch, mit uns zu reden. Aber dann wurden wir freier, begannen uns die Eimer und Lappen zuzureichen, ja sogar das Essen zu teilen. Irgendwie kam der Chef, Herr Minz, in unsere Baracke. Er schaute lange und mürrisch auf Noemi. Und plötzlich war er wieder da und nahm sie mit sich.
Minz bestimmte Noemi zu seiner persönlichen Putzfrau. Das war sehr gefährlich für sie. Einige Male hielt er die junge Frau schon zurück, führte sie nicht mit unserer Kolonne ins Ghetto zurück.
In Noemis Umgebung passierte etwas Unverständliches. Sie (S.52) kam wieder nicht mit uns nach Hause. Mama sorgte sich, ging zu ihr in die Kollektorskaja. Noemi war zu Hause nicht zu finden. In dem Zimmer, wo sie lebte, sass ein Polizist.
Was Noemi erzählte, war überraschend. Es war das erste weibliche Geheimnis, was mir anvertraut wurde. Es stellte sich raus, dass der Polizist, den Mama gesehen hatte, gar kein Polizist war. Es war der ehemalige Klassenkamerad Noemis, Slava Rakizkij. Sie liebten einander schon lange. Er bemühte sich, Noemi zu retten, zu diesem Zweck hatte er auch die Polizeiuniform beschafft.
Slava sorgte sich um Noemi. Und zu Recht! Normalerweise passte Slava sie an der Respublikanskaja ab, wenn man die Kolonne ins Ghetto führte. Sie schauten sich an, und schon wurde ihnen leichter. Und jetzt diese Geschichte mit Minz, über die sie ihm nichts erzählen konnte. Da kam er, als er Noemi in der Kolonne nicht treffen konnte, zu ihr nach Hause.
Noemi bat Slava, nichts zu riskieren. Aber er beruhigte sie, sagte, dass für sie bald ein Pass beschafft würde, sie dann zusammen Minsk verlassen würden.
Ich war Zeuge des letzten, fürchterlichen Wiedersehens Noemis und Slavas. Unsere Kolonne kam von der Arbeit zurück.
Schon war das Eingangstor sichtbar, die das Herz verbrennende Inschrift auf ihm: "Eintritt verboten! Zutritt verboten!"
Plötzlich hielt Noemi mich an der Hand, flüsterte:
"Da ist Slava in einer Polizeiuniform."
Er näherte sich uns, teilte die Kolonne und es gelang ihm, Noemi etwas zuzustecken. In diesem Moment warf sich ein Polizist auf sie, riss ihr das Päckchen aus der Hand und zerriss es.
"Ein Pass", schrie er, "ein Pass!"
Slava hatte alles in seiner Macht stehende getan, um Noemi zu befreien, aber offenbar fahndeten sie schon nach ihm.
Jetzt führte man beide ab: Noemi und Slava. Ins Gefängnis oder sofort zur Erschiessung?
[Das Gefängnis von Minsk war immer überfüllt. Regelmässig wurden die Häftlinge gruppenweise erschossen, um Räumungen vorzunehmen].
Du kannst ohne Flicken gehen - [Vorarbeiter Otto erlaubt Menschenwürde]
Otto hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Anja Botvinnik. Anja war Lehrerin. Ein rötlicher Typ, mit bemerkenswerter blassrosa Gesichtsfarbe, grauen Augen, ruhig und zurückhaltend. In den guten Vorkriegszeiten unterrichtete Anja Mathematik und Deutsch. Anja war unsere Dolmetscherin.
Sie kannte Otto schon länger als wir. Damals erhielt er seine erste Arbeitskolonne und interessierte sich dafür, wer Deutsch versteht. Anja wollte sich nicht zu erkennen geben. Aber die Frauen zeigten auf sie. Otto sprach mit ihr und wunderte sich:
"Wahrscheinlich hattest du reiche Eltern, die dir Sprachen beibrachten?" (S.53)
"Aber nein, meine Eltern waren einfache Arbeiter. Der Staat lehrte uns alles, noch dazu kostenlos. Und dann wurde ich selbst Lehrerin."
Ottos Verhältnis zu Anja war von Verehrung bestimmt. Er brachte ihr Kaffee. Irgendwie kriegte er mit, dass sie hastig ihren gelben Kreis annähte (sie war vor kurzem in die Stadt gegangen), er ging zu ihr und sagte:
"Auf der Arbeit kannst du ohne Flicken gehen. Nähe ihn später an, wenn du ins Ghetto gehst."
Otto war ein wunderbarer Mensch! Davon waren wir überzeugt. Von Anja wussten wir, dass sein Familienname Schmidt war, dass er Bauingenieur war, dass er Adamski und Lehmann, die Chefs der Firma "Gotze-Lehmann", für die wir unsere Rücken krumm machen mussten, hasste.
Arme Chanka
Arme Chanka! Zerschlagene Seele! Sie ist erst achtzehn! Dieser Unmensch stellte ihr lange nach. Kein Wunder, dass sie ihm gefiel. Allein ihr Zopf! Lang, schwarz. Und sie selbst - ein zitterndes Vögelchen. Zutrauliche blaue Augen, Grübchen am Kinn.
Barbar! Er nötigte sie, nahm sie mit Gewalt.
Er nützte seine Macht als Polizeiwächter aus. Ghettopolizei [einheimische Kollaborateure]! Genau dieselben Früchtchen, wie die jenseits des Zauns.
Er betrog Chanka. Er sagte, er könne sie vor der Razzia in der Seljonaja warnen, wollte wissen, wo sie wohne, er verstecke sie dann im Judenrat. Nur aus diesem Grunde solle sie zu ihm kommen. Halt nur so kommen, siech etwas unterhalten ... Und Chanka glaubte ihm. Kam zur verabredeten Stunde.
[Ob nun Vergewaltigung oder ein Mord stattgefunden haben, bleibt ungeklärt].
Ingrid [rettet Anna bei einer Razzia ins "Sonderghetto" - Anna bei deutschen Juden]
"Renn, sie fangen die jungen Leute!" schrie Mama und stiess mich auf die gegenüberliegende Seite. Ich lief und sah, dass auch von dieser Seite eine Reihe grüner Soldatenmäntel näher rückte.
Links lagen die Höfe und Häuser der Obuvnaja. Rechts - der Drahtzaun des Sonderghettos.
Man hörte bereits deutsche Kommandos, die Schreie von Menschen.
Alles aus! Eine Falle! Kein Ausweg!
"Mädchen! Mädchen!" (auf Deutsch). Plötzlich ist eine Stimme aus Richtung des Sonderghettos zu hören. Ich drehte mich um und sah hinter dem Zaun ein Mädchen. "Hierher, schneller!" flüsterte sie und machte in die Umzäunung einen Durchgang.
Ich kletterte auf das Territorium des Sonderghettos. Dort blieb ich stehen, als wäre die Gefahr schon vorüber, schaute zurück, suchte Mama mit den Augen. Sie war nicht zu sehen. (S.54)
"Schneller, schneller, komm ins Haus." Das Mädchen zog mich am Arm. Und wir rannten ins Haus.
Ich kam kaum zu Atem, warf mich ans Fenster, dachte besorgt:
"Und wenn das wieder ein Pogrom ist?"
"Mutti, Vati, dieses Mädchen ist aus dem Ghetto."
Unbekannte Menschen starrten mich an. Dann fragten sie irgendetwas. Ich verstand nicht. Ich atmete oft und abgehackt.
Eine Frau reichte mir einen Stuhl, brachte mir ein Glas Wasser.
Erschöpft liess ich mich auf den Stuhl fallen und schaute mich um. In dem Moment kam mir der Gedanke, dass die ehemaligen Bewohner des Hauses ermordet worden sein müssen, und dass diese neuen Bewohner erst vor kurzem eingezogen waren. Ein Schrank, eine Kommode, ein Lederdiwan mit hoher Lehne. Solcherart Möbel waren beinahe in jedem Vorkriegshaus zu finden. Was aber zog den Blick an? Koffer! Nicht unsrige, ausländische. Es waren vier, die nebeneinander standen. Und auf dem Tisch stand ein erstaunliches Ding. Vielleicht ein Kästchen, vielleicht eine Schatulle mit mosaischen Inschriften. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden. (Es handelt sich um eine Spieluhr, wie unten klar wird). Die Klänge des Türkischen Marsches setzten mich in Erstaunen.
"Mozart... Mozart...", flüsterte ich. Die Hausfrau lächelte zurückhaltend. Nun ja! Das waren wohl die Eltern des Mädchens, das mich gerettet hatte! Der grosse, hagere Vater und die kleine schlanke Mutter.
Mozart, die guten Augen dieser Menschen! Eine andere Welt, dachte ich, eine ganz andere Welt! Dann fiel mir ein: das waren Überreste jener Vorkriegswelt.
Die zauberhafte Musik verstummte.
"Danke, danke", sagte ich auf deutsch und wandte mich zur Tür.
"Nein, nein!... Ich sehe nach", hielt mich die Frau zurück. Aber das Mädchen kam ihr zuvor.
"Ingrid! Ingrid!"
So hiess also meine Retterin. Was für ein schöner Name!
Ingrid kehrte schnell zurück. Ein blasses, erschrockenes Gesicht. Sie erzählte ihren Eltern etwas. Ich lauschte und verstand: Hinter der Umzäunung lag ein ermordeter Junge.
"Mit Flicken?" fragte ich auf deutsch. (Wenn er mit Flicken war, dann war er aus unserem Ghetto.)
Ingrid nickte bestätigend mit dem Kopf.
Ich begriff, dass meine Anwesenheit für die Hausherren gefährlich war. Wieder wandte ich mich zur Tür. Der Vater des Mädchens hielt mich zurück. Ich bemerkte, was für ein gelbes, gequältes Gesicht er hatte. Plötzlich schüttelte er sich vor Husten. Er hielt ein Tüchlein an die Lippen - es war voll Blut.
Wie lange war ich schon hier? Der Hausherr verliess das Haus. Mir kam es fast wie eine Ewigkeit vor, bis er zurückkehrte (S.55) und sagte, dass ich gehen könne.
"Danke, danke", flüsterte ich auf deutsch und lief zum Zaun. Ingrid liess mich durch das Loch kriechen.
Ich ging zu uns in die Slobodskaja. Meine Gedanken gerieten durcheinander: Wie geht es dort Mama und Inna? Haben sie meine Freundinnen Bronja und Lenotschka Goldmann auch nicht erwischt? Wer sind sie, meine Retter aus dem Sonderghetto? Von woher hat man sie verschleppt? Was für eine Krankheit hat Ingrids Vater - wahrscheinlich Schwindsucht.
Im Ghetto, so zeigte sich, war keiner meiner Bekannten umgekommen.
Nächtliches Pogrom - [der Schrank vor der Tür als Rettung - die Besetzer klauen Wäsche - deutsche Juden mit gelbem Stern müssen ermordete Minsker Juden mit gelbem Fleck begraben]
31.März 1942.
Wir wachten durch eine Schiesserei ganz in der Nähe auf. Vor dieser Nacht hatte kein weiteres Pogrom stattgefunden. Was war das also?
"Partisanen!" Chaim Pulman eilte zur Tür. "Ich gehe mit ihnen!"
Es gelang uns nicht, zur Besinnung zu kommen. Chaim ergriff ein Brecheisen, stürzte aus dem Haus. In dem Moment wurde er erschossen. Wir begriffen: Chaim wurde ermordet [ohne nachzusehen] es fand also wieder ein Pogrom oder eine Razzia statt.
Wie ein Herde drängten wir uns in dem kleinen Zimmer zusammen. Die Tür verbarrikadierten wir mit dem Schrank. Wir schielten zum Fenster und sassen da, den Atem angehalten.
Die Stimmen von Deutschen und [einheimischen] Polizisten waren nahe. Wir bewegten uns vom Fenster weg, aber so, dass der Hof sichtbar blieb. Im Lichte des Mondes und einer Strassenlaterne sahen wir, wie aus dem gegenüberliegenden Haus (es gehörte zur Kollektornaja) Menschen herausgezerrt wurden. Die Frauen trugen die Kinder auf ihren Armen. Durch Kolbenstösse wurden alle an die Mauer getrieben. Deutlich waren Kommandos zu hören:
"An die Wand! Von der Wand weg!"
Die Menschen drehten entweder ihr Gesicht oder ihren Rücken der Wand zu.
"Schneller! Schneller!"
Die Menschen drehten sich immer schneller, wie Kreisel. Sie konnten nicht mehr, fielen hin.
"Stillgestanden!"
Alle blieben stehen.
Schüsse fielen. Vor Grauen schmiegte ich mich an Mama und Inna. Etwas verschwamm vor meinen Augen, meine Beine fühlten sich an wie Watte.
Aus der Ferne erklang ein Krachen. Nein, es kam nicht aus der Ferne. Sie schlugen gegen unsere Tür. Deutlich war ein Gespräch zu hören:
"Es scheint, wir waren hier noch nicht. Aber wo sind die hin? Vielleicht hat Sofronov sie schon rausgetrieben? Kriechen wir in den Keller."
Wir verstummten, hielten den Atem an. Wir fürchteten um (S.57) Pavlik. Die Mutter hielt das Gesicht des Dreijährigen an ihre Brust, damit er nicht weint oder schreit.
Es schien, als ob die Polizisten in den Keller herabgestiegen seien, denn wir hörten:
"Leer! Keiner da."
Sie waren bereits vor dem Schrank, der uns verbarg. Sie öffneten ihn, wühlten in der Kleidung.
"Nimm, für deine Raisa."
"Hihihi, es ist zu gross. Ich nehme lieber das. Und du, warum nimmst du nichts?"
"Meine tragen nichts Jüdisches."
Sie gingen. Und plötzlich ein Schuss. In den Schrank. Es gibt Dinge, für die gibt es keine Erklärung: Keiner von uns hatte gestöhnt, keiner geschrien. Selbst Pavlik nicht.
Die Polizisten gingen. Aber wir blieben in unserem Versteck. Es dämmerte.
Auf der Strasse, an der Wand, lagen Erschossene. Wir sahen auch einige Juden aus dem Sonderghetto darunter. Sie waren durch die Kleidung von unseren zu unterscheiden. Einer hatte auf der Brust einen gelben Stern - den Davidstern, das jüdische Zeichen. Die Deutschen [und Kollaborateure?] zwangen die Juden aus dem Sonderghetto, ihre Leidensgenossen zu beerdigen. Wahrscheinlich trug man sie jetzt zum Friedhof. Aber was war das? Die Erschossenen wurden aufgestapelt.
Der mit dem gelben Stern trat zur Seite. Er war ganz nahe an unserem Fenster. Er ruderte mit den Armen, weinte, ihm wurde schlecht. Ein Polizist stiess ihn mit dem Kolben auf einen Stapel zu, befahl ihm, die Ermordeten zu tragen.
Im Ghetto begann eine Welle von nächtlichen Pogromen. Eines fand in unserer Nachbarschaft, in unserer Slobodskij-Gasse statt.
Die Nächte wurden genauso furchtbar wie die Tage.
Als er nach Hause kam - [Razzia im Hause der Temkins]
An diesem Tag herrschte im Hause der Temkins Freude. Schenja hatte ein Stück Speck und Eier nach Hause mitgebracht. Überhaupt lief der Junge in letzter Zeit öfters unbemerkt in die Stadt. Weder Mut noch Leichtsinn trieben ihn. Aber allein der Ausdruck in den Augen, diese Tollkühnheit! Die Augen waren grau, funkelnd. Und diese Entschlossenheit im Gesicht. Tagsüber herrschte Freude, aber nachts...
Das Haus Schenjas stand gegenüber der Umzäunung. Der Schlaf im Ghetto war leicht, man hörte auf jedes Geräusch. Schenja sah als erster die Deutschen [und Kollaborateure?], die das Haus umstellten.
"Versteckt euch! Lauft!" schrie er, warf das Fenster ein und sprang runter in die Schornaja, auf das Gitter zu.
Als er nach Hause zurückkam, fand er nur die Mutter. Sie (S.58) hatte sich unterm Bett versteckt, und sie hatten sie nicht gefunden. Alle im Haus waren erschossen worden. Die Schwester Schenjas, Rivotschka, hatten sie in der Obuvnaja gefunden. Sie versuchte wegzulaufen. Sie wurde von einem Bajonett aufgespiesst.
Flecktyphus [wird verheimlicht, damit das Ghetto nicht vernichtet wird]
In unserem Ghetto herrschte Flecktyphus. Mama ging ins Infektionskrankenhaus, beteiligte sich an der Bekämpfung der Typhusepidemie.
Eigentlich war sie Neuropathologin [Nervenärztin], aber im Ghetto galt sie als Therapeutin, als Kinderärztin, als Wunderärztin und als Hilfsarbeiterin.
Erst hinterher erzählte mir Mutter über die Epidemie. Sie hatte grosse Angst, dass die Deutschen es nicht erfuhren. Sie hätten das Ghetto vernichten können. Die Ärzte, das gesamte medizinische Personal, schwieg. Sie taten so, als ob die Leute wegen anderer Krankheiten im Infektionskrankenhaus lägen.
Bis jetzt... [lebt Ingrid noch - deutsche Juden müssen Beerdigungskommandos bilden, um Minsker Juden zu begraben]
Ich ging nicht das erste Mal am Zaun des Sonderghettos entlang. Ich wollte sehr gerne meine Retterin Ingrid sehen. Vielleicht kamen sie oder einer ihrer Elternteile hierher? Ich dachte oft an sie. Die Spieluhr, Mozart! Ihre Tapferkeit! Ihnen verdankte ich mein Leben.
"Wenn ich Ingrid sehe, gebe ich ihr dieses Lehrbuch der deutschen Sprache für Schüler der siebten Klasse," dachte ich. Ich fand es in einer Wohnung in der Slobodskij-Gasse. Eines der Kinder hatte damit wohl vor dem Krieg gelernt.
Lange ging ich beim Sonderghetto auf und ab, aber Ingrid sah ich nicht. Sie waren noch nicht ergriffen oder erschossen worden. Aus ihnen wurden Beerdigungskommandos gebildet, denen man befahl, die Erschossenen nach den Pogromen einzusammeln und zu beerdigen. Aber bis jetzt waren sie selbst nicht erschossen worden. Bis jetzt...
Mord bei Musik [unter den Augen des Judenrats]
Noch ein sadistischer Einfall! Auf dem Platz vor dem Judenrat erklang Musik. Die Deutschen [und Kollaborateure?] sammelten alle zum Appell. Vor der Versammlung traten sie mit Reden auf, verlasen Befehle. Aber auch folgendes kam vor: Man brachte die Leute her und schoss auf sie, einfach so.
Asja und ich gingen morgens nicht mehr zum Judenrat, wo sich die Leute für die Arbeit verrammelten und die Appelle durchgeführt wurden. Wir schlossen uns der Kolonne am Tor an, in der Respublikanskaja. Das war sehr gefährlich, wir riskierten unser Leben. Aber beim Appell mit Musik war es einfach nur grausam. (S.58)
Missgeburten: [jüdische Kollaborateure im Judenrat]
Die Leute sprachen hasserfüllt über die Missgeburten aus dem Judenrat und der Ghettopolizei: Rosenblat, Epstejn, Vajnstejn, Segalovitsch, Tulskij, Pischelevskij. Rosenblat und Epstejn stammten aus Polen.
Auch viele von denen, die gezwungen wurden, im Judenrat zu arbeiten, verachteten diese Schurken. Mehr als einmal bemerkten wir beim Abschicken der Arbeitskolonnen, wie sie Anordnungen der Speichellecker der Deutschen abänderten. Man sah, welchen Hass und Widerwillen diese Menschen den Verrätern gegenüber empfanden.
Zoress: [eine Wahrsagerin verkauft Unglück]
Ich stand wieder vor dem Zaun des Sonderghettos. Wieder suchte ich Ingrid. In der Nähe ragte etwas hervor. Ich traute meinen Augen nicht: Eine Spekulantin hatte sich ins Ghetto geschlichen und tauschte Lebensmittel gegen andere Dinge.
"Was verkaufst du, Mädchen?" fragte die Spekulantin in einem Gemisch aus Deutsch und Russisch.
"Zoress", hörte ich eine bekannte Stimme antworten.
Zoress - so heisst auf jüdisch [hebräisch?] "Unglück". Ich schaute hin und sah Ingrid. Helle, kastanienfarbene Haare, ein warmer, freundlicher Ausdruck.
"Ingrid! Ingrid!" schrie ich und streckte dem Mädchen mein Lehrbuch entgegen.
Man durfte sich nicht lange am Stacheldraht aufhalten, nannte Ingrid nur meinen Namen und verabredete mit ihr, dass wir uns morgen hier treffen, wenn ich von der Arbeit zurückkomme.
[Tod von Ingrids Vater - Erinnerung an Frankfurt]
Ingrid Vater war gestorben.
Ja, Ingrid sagte die Wahrheit: Sie konnte nur Unglück verkaufen. Ihr Vater war Lehrer gewesen. Bevor den Juden aus Frankfurt am Main befohlen worden war, aus der Stadt zu fahren, war er noch einmal zu seiner Schule gegangen, um Abschied zu nehmen. Nur von der Schule, nicht von den Menschen. Zu ihm gesellten sich Schüler, deutsche Jungen. In dem Moment begannen SA-ler, ihn zu schlagen.
Ich dachte an das letzte Treffen von Elinas Mama, Bella Moiseevna, mit ihren Schülern.
Auf dem Bürgersteig gehen verboten!
Matejka Schuster wurde dafür umgebracht, dass er auf dem Bürgersteig ging. Sie ergriffen ihn und töteten ihn. Das nannte sich "Erschiessung wegen Befehlsverweigerung". Im Ghetto war alles verboten: Essen kaufen, laut reden, auf dem Bürgersteig gehen. Darüber brüllten die Deutschen [und die Kollaborateure] sehr oft auf ihren Appellen Befehle. (S.59)
Matejka Schuster war Mathematiker, Schachspieler, hatte helle Haare.
Rotes Sternchen
Noch ein Treffen mit Ingrid. Wir standen uns am Grenzzaun gegenüber, in der Nähe waren andere Menschen, aber sie zog mich aus irgendeinem Grunde zur Seite. In der Hand hatte sie einen fünfzackigen roten Stern! Woher hatte sie ihn? Ingrid sagte: vom Vater. Aber woher der ihn hatte, wusste sie nicht. Vielleicht war er Kommunist? Bei dieser Frage zuckte Ingrid mit den Schultern. Thälmann-Anhänger? Ja, ja, Thälmann liebte er.
Warm fühlte ich den vertrauten fünfzackigen Stern in der Handfläche, den ein Mädchen aus Frankfurt am Main so vertrauensvoll mit mir teilte.
[bedenkliche Kommunismusverherrlichung]
So etwas sahen wir noch nie: [Vorarbeiter Otto gibt einem Deutschen eine Ohrfeige]
So etwas sahen wir noch nie.
Otto schickte Anja Botvinnik in die Kanzlei, ein bestimmtes Papier zu bringen. Er befahl ihr, den Flicken abzunehmen und zeigte, wohin sie gehen sollte:
"Das liegt an einer Ecke. Da hast du einen Ausweis."
Anja ging durch die Sovetskaja, mutig und selbstbewusst. Plötzlich schrie jemand in der Nähe:
"Wo treibst du dich denn rum? Ich hab dich mehr als einmal in der Kolonne gesehen!" [in Weissrussisch]
Polizei! [einheimische Kollaborateure]. Anja erklärte, dass sie den Befehl erhalten hatte, ein bestimmtes Papier zu holen.
"Du lügst! Das kann nicht sein! Ich bring' dich ins Gefängnis!"
Anja antwortete:
"Frag den Deutschen, er hat mich geschickt!"
"O.k., ich hab' eine halbe Stunde Zeit. Gehen wir!"
Der Polizist brachte Anja in die Sverdlov-Strasse. Anja lief sofort zu Otto.
"Was ist los, Annchen?" fragte Otto.
Anja erzählte.
Wir trauten unseren Augen nicht: Otto gab dem Polizisten eine Ohrfeige! Der entschuldigte sich. Aber Otto deutete auf Anja.
"Bitte sie um Verzeihung!"
So etwas sahen wir noch nie!
Walter: [der rätselhafte deutsche Besucher, der immer Brot schenkt]
Der Grau-grün-schwarze kam zum vierten Mal. Wie sollte man das verstehen? Wir betrachteten erstaunt die Fotografie. Solche Aufnahmen wurden einst, vor dem Krieg, im Fotoatelier neben dem Kino "Roter Stern!" gemacht. Unser Lieblingskino! Und unten hingen Fotos von jungen Männern und Frauen.
"Erkennt ihr ihn?" fragte der Deutsche, indem er auf einen (S.60)
[Bild:] Im Minsker Ghetto werden [weiss]russische Juden gezwungen, vor Schaulustigen im Schnee zu "hüpfen" (S.61)
von ihnen zeigte.
Wir schauten genau hin und waren erstaunt: Das war doch sein Gesicht, das des Grau-grün-schwarzen!
"Und wie heissen Sie?"
"Walter."
"Ein deutscher Name."
"Ja, deutsch."
"Und in Wirklichkeit?"
"Walter."
Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich erzählte Mama und Innotschka davon. Was bedeutete das alles?
Ordynskij: [der Arzt vergiftet sich angeblich]
Mama ging wieder in die Stadt zu Freunden. Ungeduldig erwarteten wir ihre Rückkehr. Sie kam mit schrecklichen Neuigkeiten.
Professor Ordynskij, mit dem sie früher zusammengearbeitet hatte, hatte sich an die Deutschen mit der Bitte gewandt, seiner Frau, einer Jüdin, zu erlauben, jenseits der Ghettogrenzen zu leben.
Die Deutschen erlaubten es. Aber unter der Bedingungen, dass deutsche Ärzte sie sterilisieren.
Ordynskij vergiftete sich.
Der Italiener - [ungarische, rumänische und italienische Soldaten in Minsk]
Eine Frau schleppte einen Zuber. Der Zuber war schwer und gross. Die Frau konnte kaum ein Bein vor das andere setzen. Ein Soldat holte sie ein. Er kam näher und näher. Vor Angst verlangsamte sie ihre Schritte. Der Soldat holte sie ein, nahm den Zuber. Die Frau lief weg.
Der Soldat in der unbekannten Uniform schrie ihr nach:
"Ich bin nicks Deutsch. Ich bin Italiano. Italia - verstehen?"
Die Frau kam zurück. Der Italiener half ihr, den Zuber zu tragen.
Warum war ein Italiener in Minsk? Bisher waren hier keine gewesen. Nur Ungarn und, so sagte man, Rumänen. Und jetzt kamen Italiener. Aber sie benahmen sich anständig.
Bedi-Greta - [streng-preussische deutsche Herrscherin in Minsk]
Vorher sah ich nie eine deutsche Frau im Ghetto. Aber dann wählte eines Tages eine von ihnen aus den Kolonnen für sich eine weibliche Arbeitskraft aus.
"Du", sie tippte mir auf die Brust.
Asja und ich wurden von der Kolonne getrennt. Ich durfte nicht mehr in der Kolonne arbeiten, die Otto leitete? Für alles, was er für uns tat, waren wir ihm so dankbar.
Und diese dicke, rote Frau, was war das für eine? Mir schien, die Veränderung in meinem Leben würde zu nichts Gutem führen. (S.62)
Frau Bedi-Greta - so hiess die Deutsche. Möglich, dass ihr Name anders geschrieben wurde, aber er klang so.
Warum wohnte sie hier, in diesem Steinbau in der Mebelnaja?
Wir wussten nichts über sie.
Wir putzten den Boden, die Wand, die Fenster. Wir verrückten die Möbel, die riesigen Fikusse [?], wir säuberten die Teppiche. Wer war diese Frau? Die Gattin irgendeines Vorgesetzten? Oder vielleicht selbst Vorgesetzte?
Obwohl sie eine weibliche Stimme hatte, war sie genauso durchdringend wie Lehmanns. Gut, dass ich bei ihr nur wenige Tage arbeitete.
Gott sei Dank kam ich wieder in Ottos Kolonne zurück.
Herr Adamski - [Schläge wegen ein paar Kohlenstücken]
Wie weinte Bronja Goldman! Wie weinte sie!
Sie arbeitete jetzt bei der Ausladung von Kohle für die Eisenbahn. Sie versteckte etwas in ihrem Schoss, um zu Hause den Ofen zu heizen.
Genau an dem Tag machte Adamski [ein Deutscher] eine Durchsuchung. Dabei fand er die Kohle. Bronja wurde dafür grausam geschlagen Wie ein Wilder schlug er zu.
Woher hat ein Deutscher so einen Namen - Adamski? War unter seinen Vorfahren ein Pole gewesen? Aber die Deutschen hassten doch die Polen!
Aus irgendeinem Grund suchte er sich als Putzfrau eine junge Frau aus dem Ghetto aus.
Es hiess, diese Bestie Adamski hätte ein gutes Verhältnis zu ihr. Alles war möglich.
Wilde Kräuter vom Grab
Mama und Inna gingen zum Friedhof. Sie pflückten dort wilde Kräuter. Mama zerbröselte sie, legte sie in eine Pfanne, erwärmte sie.
Fima besorgte irgendwoher Sacharin. Wir tranken das Aufgebrühte mit Sacharin. Wie lecker.
Das Pogrom vom 28.Juli [1942 - Kartoffelschalenpfannkuchen - Walter in SS-Uniform]
Ich beeilte mich, ging nicht die Pfannkuchen essen. Ich dachte an unser tägliches Essen: kleingehacktes und in der Pfanne erwärmtes Unkraut oder Brennessel, Pfannkuchen aus Kartoffelschalen.
Ich beeilte mich. Heute hatte ich mit Asja vereinbart, dass wir uns der Kolonne an der Respublikanskaja anschliessen würden. Ich machte einige Schritte die Obuvnaja entlang, fühlte mich irgendwie unsicher. Die Unsicherheit wurde zur Furcht, die Furcht zu Angst.
Ich traf Leute, blutend, die Kleidung hing ihnen in Fetzen herunter.
Eine Frau mit blutendem Arm blieb stehen, atmete schwer.
"Was geht dort vor?" stürzte ich mich auf sie. "Eine Razzia? (S.63) Ein Pogrom?"
"Ich weiss nicht. Sie fangen Leute. Treiben sie in Autos. Ich konnte mich gerade noch losreissen."
Das war ein Pogrom! Mein erster Gedanke galt Mama und Inna. Gelang es ihnen, sich zu verstecken?
Und ich? Was sollte ich tun? Ich rannte in irgendeinen Hof. Kein Zaun hier. Er war wohl zu Brennholz zerlegt worden. Ich versteckte mich hinter dem Tor. In der Nähe, in der Respublikanskaja, liefen Leute.
Ich verschmolz fast mit dem Tor. Wenn sie unten meine Füsse sahen, war es aus mit mir. Vielleicht waren sie durch das Gras unsichtbar?
Es gab keinen Ausweg. Ein Haus war ganz nah, aber dort war es ganz still. Offenbar hatten sich seine Bewohner schon versteckt.
Ich hörte das Gebell von Hunden, die auf Menschen losgelassen wurden.
Dann sah ich in der Nähe einen Deutschen in SS-Uniform. Er fragte einen Polizisten etwas. Der Polizist zeigte ihm den Weg. Der Deutsche drehte sich um. Ich glaubte meinen Augen kaum: Walter!
Was machte er hier? In SS-Uniform! Mit Schäferhund! Er würde sich doch nicht am Pogrom beteiligen? Aber warum war er allein und tat nichts? Warum lief er in die Richtung, wo wir wohnten?
Und was, wenn ich rufe:
"Walter! Rette mich!"
Aber ich rief nicht. Der Schrei blieb im Halse stecken. Er war doch Deutscher!
Die Maschinen dröhnten. Fuhren sie ab oder kamen sie an?
Ich sah, wie Deutsche und Polizei die Obuvnaja hochliefen, nach rechts. Durch Höfe kriechend, versteckt, lief ich nach Hause. Ich strauchelte über Ermordete, fiel, stand auf, rannte wie er. Ich verstand nicht, wie ich nach hause kam. Ich erinnerte mich an die warmen Arme Mamas. Mama hatte Inna bereits ins Versteck geschickt, sie wartete und plötzlich kam ich angelaufen.
Das Versteck. Kein Gesicht sichtbar, keine Stimme zu hören. Enge, Kälte, Angst schmiedeten uns zusammen. Wir schmiegten uns an Mama. Sie wärmte uns mit ihrem Atem.
Drei Tage wütete das Pogrom. Drei Tage Dunkelheit und Finsternis.
Otto rettet Anja [als "Spezialistin" vor dem Pogrom]
Am 28.Juli gelang es unserer Arbeitskolonne, vor Beginn des Pogroms, die Grenzen des Ghettos zu passieren.
Anja Botvinnik war an diesem Tag in die Mebelnaja, zu Bedi-Greta, geschickt worden. Um zwölf Uhr erschienen dort Kinder, die sich vor dem Pogrom gerettet hatten. Von ihnen erfuhren sie, was im Ghetto vor sich ging.
Anja erzählte mir später:
"Alle Arbeiter wurden in Kolonnen aufgestellt. Das heisst (S.64), sie führten uns zum Ghetto! Ich schaute mich um, erwägte, wohin ich fliehen kann. Der Friedhof war nahe. Vielleicht konnte man sich hinter einem Grabstein verstecken. Aber auch dort waren Schüsse und Schreie zu hören.
Wir waren bereits dicht beim Ghetto, in der Schornaja. Die Kolonnen hielten. SS-Leute näherten sich. Wir hörten die Worte: "Facharbeiter", "Ungelernte". Das hiess, für "Facharbeiter" gab es Hoffnung auf Befreiung. Und für "Ungelernte" keine. Unsere Kolonne bestand nur aus "Ungelernten". In der Schornaja wie in der Respublikanskaja standen Autos bereit. Ich zitterte und weinte nur.
Und dann hörte ich Ottos Stimme. Er erklärte den SS-Männern, dass ich bei ihm arbeite. Ich wurde aus der Kolonne gestossen und dorthin gebracht, wo die "Spezialisten" standen. Es waren ganz wenig Leute.
Und die Leute aus den Ungelernten-Kolonnen wurden bereits in die Wagen gestopft. Die, die Widerstand leisteten, wurden erschossen.
Wir standen, warteten, versteinert vor Angst. Otto sprach mit den deutschen Wachen. Aus den Gesprächen entnahm ich, dass wir nicht ermordet werden würden.
In der Schornaja lagen Tote. Das waren die, die versucht hatten zu fliehen.
Man befahl uns, die Toten zum Friedhof zu tragen. Ich konnte nicht. Mir war übel."
Aus dem Tagebuch Ljala Bruks: [ein Wachsoldat rettet Juden vor dem Pogrom]
"Ich ging mit den Mädchen zur Arbeit. Sie gaben uns Schaufeln in die Hand und zwangen uns, die Eisenbahndämme zu reparieren. Mit uns arbeiteten Kriegsgefangene. Die Arbeit war mörderisch, besonders für mich nach der Typhuserkrankung.
Am 28.Juli hörten wir bei der Arbeit Schüsse - im Ghetto fand ein Pogrom statt. Zurückzukehren war nicht möglich. Vorsichtig baten wir den Wachsoldaten zu warten, uns nicht ins Ghetto zurückzuführen. Er führte uns in ein zerstörtes Gebäude und ging selbst nach Hause. Wir übernachteten im Dachstuhl, stumm, wir hatten Angst, dass uns die Polizei erwischt.
Drei Tage war ich nicht zu Hause, und ich dachte bereits, dass ich Mama verloren hatte. Am vierten Tag, als ich ins Ghetto zurückkehrte, sah ich, dass dort, wo wir wohnten, alles zerstört war ausser dem Infektionskrankenhaus. Da war ich froh, Mama lebte."
Julia gibt es nicht mehr - [Kolchose Lekkerta als Hinrichtungsplatz]
Die fürchterlichen Tage des Pogroms überstand Asja im Versteck in der Obuvnaja. Aber Julia Gorfinkel war umgebracht worden.
Ich erinnerte mich: Vor kurzem, als die Kolonne ins Ghetto zurückkehrte, rief jemand Julia vom Bürgersteig aus. Sie (S.65) drehte sich um.
"Tante Manja!" rief Julia.
Die Frau wischte sich Tränen ab, nickte Julia zu, wagte aber fürs erste nicht, näher an die Kolonne zu kommen.
"Wie geht's Grossmutter?" fragte Julia.
Das Gesicht der Frau verdunkelte sich, sie wedelte mit den Armen, verliess den Bürgersteig und kam zu uns.
"Sie wurden alle getötet", hörten wir. "Sie wurden in der Kolchose Lekkerta zusammengetrieben und erschossen. Nein, Kindchen, du hast keine Grossmutter mehr."
Juli wurde bleich.
Dann erzählte sie. Diese Tante Manja war aus Tschausy. Sie war die Nachbarin und Freundin von Julias Grossmutter, Julia selbst fuhr oft im Sommer nach Tschausy. Und die Kolchose Lekkerta war nahe. Auf ihr arbeiteten viele Juden. Daher war sie wohl jetzt zum Ort des Strafgerichts geworden.
Und jetzt gibt es auch Julia nicht mehr!
[Wo Julia ist, bleibt ungeklärt: getötet, geflüchtet, in einem Versteck, bei Partisanen möglich].
Vielleicht: [Walter könnte ein sowjetischer Spion sein]
Ich erzählte Asja, dass ich Walter im Ghetto sah.
Sie war überzeugt davon, dass er ein sowjetischer Spion oder Partisan war, der jemanden befreien wollte. Vielleicht fragte er daher nach unseren Verwandten, Nachbarn und Bekannten. Wer weiss, vielleicht hatte Asja Recht?
Aus dem Tagebuch Asja Bruks - [Asja in einer Ziegelfabrik - Fluchtpläne aus dem Ghetto ohne Realisierung]
"Wir wurden jetzt zur Arbeit in eine Ziegelfabrik gebracht - wir trugen Ziegel. Mit mir zusammen Salja Babadsjan. Salja war nach dem Pogrom vom 28. Juli allein zurückgeblieben, fast ohne Kleidung. Ich hatte Kleidung zum Wechseln, und so teilten wir.
Mit uns arbeiteten weissrussische Burschen. Sie holten die Ziegel aus den Öfen, und wir trugen sie zu den Autos.
In freien Minuten versammelten wir uns alle und unterhielten uns. Ich lernte einen jungen Mann kennen, der Mischa hiess. Wir arbeiteten schwer, zu essen bekamen wir morgens 200 g Brot und mittags eine Kelle dünne Suppe. Die Burschen wurden besser ernährt. Und Mischa gab mir oft seine Ration. Wir begannen, einen Plan auszuarbeiten, wie man aus dem Ghetto ausbrechen könne. Mischa und seine Freunde sicherten uns ihre Hilfe zu. Aber es ergab sich nichts."
Klassenkameraden - [bestrafter Widerstand]
Folgendes Schicksal hatten die Freunde Mara Entinas, die sie von der Schule kannte.
Sema Marschak. SS-Leute hielten ihn auf der Strasse an.
"Warum gehst du ohne Flicken?"
Und Sema war eigensinnig, er wollte ihn nicht tragen. Sooft er gebeten wurde, er steckte ihn nicht an, nähte ihn nicht (S.66) an. So bewahrte er seine Menschenwürde.
Die SS-Leute befahlen ihm, eine Grube zu graben.
"Wozu?" protestierte Sema.
Sie drohten ihm mit der Pistole.
Dann gruben sie Sema lebendig ein.
[Beobachter und Ort bleiben ungeklärt].
Dodik Gerzik. Mara sagt, dass die Menschen den Namen dieses Jungen mit Stolz und Dankbarkeit aussprechen sollen. Ein wunderbarer, mutiger Junge!
"Er glaubte sehr an mich", erzählte Mara. "Wir kannten uns doch noch aus der Schule! Von ihm hörte ich Meldungen von der Front, Mitteilungen des Sovinformbüros. In letzter Zeit kehrte Dodik nach der Arbeit oft nicht ins Ghetto zurück. Mit Freunden hörte er über einen Empfänger Radio Moskau.
Und dann gab es Dodik nicht mehr - er war ergriffen worden, wurde gefoltert und gehängt.
[Beobachter bleibt ungeklärt].
Befreiung [durch Dokumente aus dem Ghetto]
Vasil Ivanovitsch Vasilev holte seine Familie aus dem Ghetto - seine Frau Frida Abramovna und die Tochter Florotschka.
Wo er war, bevor er im Ghetto auftauchte, woher er wusste, dass seine Familie hier ist, wussten wir nicht.
Darüber, wie er seine Familie rettete, erzählte mir Fima Osinovskij, ein ehemaliger Schüler Frida Abramovnas. Er half ihr sehr.
Vasil Ivanovitsch kam ins Ghetto - er heftete sich einen gelben Kreis an und schloss sich einer Kolonne an, die ins Ghetto zurückkehrte. Später, in der Dämmerung, vor der Sperrstunde, reichte er die kleine Flora mit Hilfe Fimas und seines Freundes, die an den verschiedenen Seiten der Schornaja Wache standen, durch ein Loch im Zaun.
Vasil Ivanovitsch selbst blieb die Nacht über im Ghetto. Morgens ging er mit Frida Abramovna in der Arbeitskolonne in die Stadt.
Für Frida Abramovna hatte er Dokumente vorbereitet.
Aus dem Tagebuch Ljala Bruks - [die Flucht mit gefälschten Geburtsurkunden und gefälschten Pässen]
"Galja Tumilovitsch erzählte Mama, dass sie uns helfen könnte, wenn wir Dokumente besässen. (Mama war bereits einige Male zu ihr gegangen.) Ich begann, irgendwelche Papiere zu suchen.
Man gab mir (und Dank dafür) eine unbrauchbare, gefälschte Geburtsurkunde. Dann gab man Mama einen gefälschten Pass.
Am verabredeten Tag kam Galja Tumilovitsch mit ihrer jüngeren Schwester, die in meinem Alter war, zum Zaun. Ich grub ein Loch unter ihm her. Sie halfen mir, auf die andere Seite zu kommen. Ich ging in die Stadt, und ich dachte, dass jedes Treffen für mich das Ende bedeutete. Wir gingen zu Galja, und ich lebte dort einige Tage. Bald kam Mama nach."
Aus den Aufzeichnungen Berta Moiseevna Bruks (S.67) - [Flucht aus dem Ghetto]
Ich erinnere mich an die Worte Ljalenkas: "Mama, wie sehnt sich das Herz dorthin, wie unausstehlich ist es hier. Gehen wir hier weg!"
An einem festgelegten Tag ging Ljalenka zum Zaun, wo auf der gegenüberliegenden Seite Tasja wartete. Als niemand hinsah, gab Tasja uns einige Lebensmittel. Mir ging es allmählich besser, und ich begann, die notwendigen Papiere zu suchen.
Man brachte sie mir. Nur die Gültigkeitsdauer war abgelaufen. Wir hatten Angst, aber wir wagten es.
Zuerst flüchtete Ljalenka: Sie grub ein Loch unter dem Zaun her und kroch durch. Ich blieb, schaute ihr nach und ging Patrouille. Die Angst zerriss einem fast das Herz. Ich weiss nicht, wie lang ich so stand. Ich fürchtete immer, dass sie Ljala zurückhielten und folterten.
Für mich begannen schwarze Tage. Wir hatten abgesprochen, dass ich das Ghetto verlassen sollte, nachdem ich eine Nachricht von Ljala erhalten hatte. Aber sie liess nichts von sich hören. So entschied ich mich, allein zu gehen.
Mir als Ärztin gelang es, einen Ausweis für die Stadt zu bekommen. Ich musste Medikamente für das Krankenhaus bekommen. Mit diesem Ausweis hatte ich bereits zwei Frauen aus dem Ghetto befreit.
Meine Schwester Anja brachte mich bis zur Grenze. Im letzten Moment sagte ich ihr, sie solle keine Nachricht von mir abwarten. Ljala und ich hatten verabredet, uns bei Tumilovitsch zu treffen. Ich ging dorthin."
Warum traf ich Nina nicht?
Warum traf ich Nina Lipnizkaja nicht mehr? Wenn bei ihr alles in Ordnung gewesen wäre, wäre sie bestimmt bei der Kolonne erschienen oder hätte zumindest aus der Ferne zugeschaut.
Das bedeutete, es war etwas passiert. Vielleicht hatte man sie bei einer Razzia ergriffen? Oder sie nach Deutschland verschleppt? Weissrussische junge Frauen in Ninas Alter wurden nach Deutschland verschleppt! Nein, ich mochte daran nicht einmal denken.
Aber alles war nicht so, wie es sein sollte.
Fotokarte: [Flucht aus dem Ghetto zum Fotograf ]
Für die Geburtsurkunde brauchte man kein Foto. Aber für einen Pass musste man unbedingt eins haben. Was, wenn Nina Lipnizkaja oder jemand anderes mir plötzlich einen Pass beschaffen könnten? Ich musste mich fotografieren lassen.
Ein Fotograph war in der Mjasnikov-Strasse, nahe bei der Schornaja, wo wir jetzt lebten. Hier war auch ein Loch im Zaun, das Fima Osinovskij früher angelegt hatte. Ein lustiger, ein wenig krummbeiniger, kurzsichtiger Junge. Wir sorgten uns immer wegen seiner Brille. Dass diese Bestien sie nicht zufällig kaputt schlagen. Ohne Brille war er völlig hilflos. (S.68)
Ich entschied mich. Fima stand Wache. Schnell verliess ich das Territorium des Ghettos, rannte auf die andere Seite der Schornaja. Innerlich zitterte alles, aber die Beine trugen mich weiter. Ich war bereits in der Obuvnaja. Da kamen mir zwei Polizisten entgegen. Ich nahm einen unbeteiligten Ausdruck an und flocht meinen langen Zopf. Glück gehabt!
Da war auch schon die Mjasnikov-Strasse. Beim Fotographen war eine Schlange. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Wieder nahm ich einen unbeteiligten Blick an. Ich begegnete den Blicken der Leute. Ich sagte mir selber, dass die hellen Augen helfen würden.
Die Reihe war an mir. Ich zog den Kragen zurecht, legte beide Zöpfe nach vorne. Der Fotograph, ein junger Mann mit dünnen Lippen, durchbohrte mich mit seinem Blick. Er fotografierte.
"Komm am Mittwoch!"
Was für ein Glück, ohne den verfluchten gelben Kreis zu gehen, ja und erste auf dem Bürgersteig!
[Der Fotograf ist ein Spitzel der deutschen Seite - Flucht ins Ghetto]
Ich konnte den Mittwoch kaum erwarten. Wir kamen in der Kolonne von der Arbeit. In der Mjasnikov-Strasse riss ich den Flicken ab, entfernte mich unmerklich von der Kolonne und eilte zum Fotographen, dass er bloss nicht geschlossen hatte. Aber ich sah, dass an der Tür Leute standen. Das hiess, er arbeitete.
Ich nahm die Fotografien an mich. Ich strömte Furcht und Unruhe aus. Ich drehte eine Fotografie um und lese auf der anderen Seite: "Jüdin". Ich erstarrte zu Stein. Alles verloren! Das hiess, sie hatten es bemerkt, hatten mich aufgespürt. Ich stahl mich zur Tür, rannte auf die Strasse und sah mich um. Niemand! Ich wandte mich in die Obuvnaja, eilte in den Hof, der der Fabrik gegenüber lag. Ein blondes Mädchen sass am Fenster und sah mich interessiert an. Ein überflüssiger Zeuge.
Ich versteckte mich in der Toilette. Durch eine Lücke sah ich einen Polizisten [Einheimischer?]. Er kam auf den Hof, zerrte an der Haustür. Er fragte:
"Ist hier eine junge Frau reingerannt?"
Eine erschrockene Frauenstimme antwortete:
"Nein, ich hab' niemanden gesehen."
Er schimpfte auf Deutsch und ging auf die Strasse. Ich wartete und wartete und wartete. Am Ende schmiegte ich mich an die Wand und verliess den Hof.
Es fiel mir schwer, den Hügel der Obuvnaja raufzulaufen!
Ein Schuss! Die Kugel pfiff an mir vorbei. Ein Schrei:
"Stehenbleiben!"
Die Schornaja! Das Steinhaus. Neben ihm war der Draht zerrissen - einige Tage zuvor war ein Auto da reingefahren. Das war ganz in der Nähe von unserem Haus. Ich erinnere mich nicht, wie ich in das Steinhaus flog. Davor Pfiffe, Schreie. Durch die Höfe rannte ich weiter. Ich presste die Fotos in meinen Händen, bis es weh tat. Bis zu uns waren es nur noch wenige Schritte. (S.69)
Hunger - [Kreide als Speise]
Eine furchtbare Sache, der Hunger. Immer wollte man essen. Der Kopf spielte verrückt, man wankte vor Schwäche.
Wir dachten an Brot - tagsüber und im Traum. Wir assen Stücke Papier, kratzten die Kreide vom Ofen. Inna schien einmal das Bewusstsein zu verlieren. Ich fürchtete, dass Mama es bemerkte. Aber sie sah alles. Sie gab uns ihr Brot, sie teilte ihren Anteil mit Innotschka. Hatte ich wirklich so hungrige Augen?
Vita [verschenkt abgespartes Essen]
Vor dem Hunger rettete uns meine Freundin Vita Rabinovitsch. Sie schob uns Brot zu oder Mehl. Von ihrer Familie hatte sie es abgespart.
Wir kannten sie noch nicht sehr lange. Äusserlich wirkte Vita sehr anziehend. Sie stotterte ein wenig. Aber mir schien, das passte sogar zu ihr. Selbständig, freigebig und aussergewöhnlich mutig war sie. Ihr Vater und ihre ältere Schwester Zilja wurden ermordet. Aber wie sie durchhielt! Nur der Schmerz in den Augen. Wahrscheinlich hatte sich dieser Schmerz für immer in ihren Augen eingenistet.
Vita heisst auf Lateinisch "Leben". Was für ein Schicksal war dem Mädchen mit diesem Namen nur bestimmt?
Für die Zukunft: [die polnische Jüdin Nina Schnajder verweigert das Horst-Wessel-Lied]
Nina Schnajder war vor den Deutschen aus der Gegend um Warschau geflohen. Dort lernte sie in der Gesangsklasse des Konservatoriums. Sie kam fast bis Wilna, und dann verschlug sie der Krieg nach Minsk. Sie hatte weder Haus noch Hof. Ihr einziger Reichtum war ihre Stimme. Ein wundervoller, schöner Sopran. Doch wer brauchte ihn im Krieg, und erst recht hinter dem Stacheldraht?
Wir lernten uns in der Kolonne kennen. Gross gewachsen, dünn, die Haare blendend rot, wulstige Lippen, ein irgendwie tollkühner Blick aus grauen Augen. Sie war wohl ungefähr 22 Jahre alt. Allein, ohne irgendwelche Hilfe, in der Fremde, hinter Stacheldraht. Sie konnte Polnisch und Deutsch und kannte auch die russische Sprache nicht schlecht.
Zusammen putzten wir die Baracke der deutschen Eisenbahner. Sie [deutsche Abteilungsleiter] erfuhren, dass sie am Konservatorium gelernt hatte und befahlen ihr, ein Lied zu singen. Nina sang etwas auf Polnisch. Die Deutschen unterbrachen sie:
"Nein, nicht das", und erinnerten sie an eine Melodie.
Die junge Frau griff sie zuerst auf, dann schwieg sie. Die Deutschen zwangen sie, das "Horst-Wessel-Lied" zu singen, den Marsch der Nazis.
Der Deutsche befahl ihr wieder zu singen. Nina schwieg. Dann ergriff einer einen Eimer Wasser und schüttete ihn der jun- (S.70) gen Frau über den Kopf.
Abends, vor der Sperrstunde, rannte ich zu Nina.
Und da hörte ich ihre Stimme. Die Tonleiter erklang.
"Sie singt nicht nur selbst, sondern unterrichtet auch die Nachbarstochter. Wozu?" Grossmutter Bljuma zuckte die Schultern.
Aber Nina wusste wofür. Für die Zukunft.
Das Furchtbare vergessen: [Flucht in die Körperpflege - Erinnerung an Liebschaften vor dem Krieg]
Danke, Ingrid! Oft trug ich die blaue Bluse, die du mir schenktest. Komisch, aber auch unter diesen Bedingungen wollte man gut aussehen. Ich hatte mir sogar eine neue Frisur gemacht, hatte an den Schläfen zwei kleine Rollen gemacht und dann Zöpfe eingeflochten. Sie waren schon lange und dick. Mama sagte, dass diese Frisur mir steht.
In der Kolonne schauten mich alle irgendwie anders an. Und es wurde mir so wohl bei dem Gefühl, erwachsen zu sein, sauber angezogen, die Leute angenehme Worte sagen zu hören. Man wollte die Angst vergessen.
Ich war noch nie verliebt. Mir gefiel zuerst Mischa Lubin und dann Tolja Bereschkov. Mischa "liebten" viele junge Frauen. Die Verliebten schrieben ihm sogar ganze Briefe, in denen sie ihre Liebe gestanden und unterschrieben sie mit ihren Vornamen. Gott sei Dank war ich nicht unter diesen Dummköpfen.
Tolja Bereschkov gefiel mir ernsthaft. Er hatte helle Haare und blaue Augen. Mein Schönheitsideal. Eines Tages wagte ich meinen mutigsten Auftritt. Ich rief Tolja an, und als er am Telefon war, legte ich den Hörer neben das Piano und spielte. Obwohl Tolja nicht erriet, von wem er den musikalischen Gruss erhalten hatte, war es mir doch peinlich, ihm in die Augen zu sehen.
Ich kehrte auf die Erde zurück. Was soll's, gute Laune und angenehme Erinnerungen waren ein Geschenk des Schicksals.
Lina Noj, [Noemi Rudjanskaja und Sofa Sagaltschik: Entführung und angebliche Ermordung der schönsten Frauen des Ghettos
Noemi Rudjanskaja, Sofa Sagaltschik und Lina Noj. Sie waren wohl die schönsten jungen Frauen im Ghetto.
Die tragische Geschichte Noemis kann man nicht vergessen. Sofa Sageltschik starb bei einem Pogrom.
Und Lina Noj?
Wie ich mich auch bemühe, das Äussere der jungen Frau zu beschreiben, es ist nicht möglich. Deutlich sehe ich ihr blassbraunes Gesicht vor mir, ihre hellen, grossen Augen, ihre prachtvollen, aschfarbenen Augen. Ihre Figur war hoch, ihre Bewegungen schön, ihr Gang ungestüm und stolz.
Lina wurde Opfer einer der Greueltaten der Deutschen [mit Hilfe der Kollaborateure]. Im Ghetto fand eine Razzia statt, und die schönsten jungen Frauen wurden eingefangen.
Sie wurden zum Sklavenplatz gebracht und dann in einem Schuppen eingeschlossen. Sie schrien, weinten, schlugen (S.71) gegen die Tür. Sie verstanden, was auf sie wartete. Dort verbrachten sie die ganze Nacht.
Morgens wurden die Mädchen zur Erschiessung gebracht.
Schenja Temkin sah, wie sie weggebracht wurden.
Er sah auch, worüber später das Ghetto sprach.
Als die jungen Frauen zum Tor des Friedhofs gebracht wurden, sang eine von ihnen die "Internationale". Sie warfen sich auf sie, traten sie mit Füssen. Das war Lina.
Mit den anderen wurde sie auf den Friedhof verschleppt. Ihnen wurde befohlen, sich auszuziehen. Lina wehrte sich. Ihr wurde gewaltsam die Kleidung runtergerissen.
Die jungen Frauen wurden dafür erschossen, dass sie jung und schön waren.
[Eine Verschleppung nach Deutschland ist viel wahrscheinlicher. Erschiessungen fanden meist in abgesperrten Kolchosen statt].
"Ich liebe ihn jetzt immer noch"
Darüber musste man entzückt sein.
Maria Franzevna kam irgendwie noch einmal ins Ghetto. Sie kam wegen ihrem Mark Borisovitsch. Er war fünfzig Jahre alt. Ein alter, kranker Mann. Und sie war keine vierzig. Schön und mutig, aussergewöhnlich mutig.
Von Emma, Mark Borisovitschs Tochter, erfuhr ich diese Geschichte.
Mark Borisovitsch war Sänger. Seine Frau, Emmas Mutter, war vor dem Krieg gestorben. Emma war überzeugt, dass der Vater ihre Mutter für immer in heissem Andenken bewahrte. Und plötzlich kam diese Frau, Maria Franzevna, in ihr Leben. Als Pianistin begleitete sie Mark Borisovitsch oft bei Konzerten.
"Ich hasste sie damals", erinnerte sich Emma. "Papa verstand das, und deswegen heirateten sie wohl nicht. Aber dann war es mir peinlich. Versteh, unter welchen Umständen sie zu uns kam, um ihn zu befreien. Aber er konnte nicht gehen, die Beine waren geschwollen."
"Wenn ich mich dafür entscheide, stürze ich dich ins Unglück", sagte er zu Maria Franzevna und schaute sie zärtlich und sehnsüchtig an.
"Beim letzten Mal", fuhr Emma fort, "brachte ich Maria Franzevna zum Friedhof", durch den sie auch ins Ghetto gelangt war. Ich fragte sie: "Das bedeutet, sie haben Vater geliebt? Ich glaubte ihnen nicht."
Und ich hörte zur Antwort: "Ich liebe ihn immer noch!"
Ringe: [Heirat im Ghetto zwischen Rafalok und Rimma mit Ringen aus Gabeln und Löffeln]
ich dachte, Ringmacher sei Iosif Vulfovitschs Familienname. Erst später begriff ich, dass er Ringmacher hiess, weil er Ringe herstellte.
Es schien nicht klar, wozu man in dieser Zeit Ringe brauchte. Aber die Leute nehmen sie. Iosif Vulfovitsch tauschte sie gegen Essen, um seine Frau und seine Kinder ernähren zu können. Er machte sie aus alten Löffeln und Gabeln. (S.72)
Wieviel Phantasie und Könnerschaft investierte Ringmacher in jeden Ring! Und er erhielt dafür ein Stück Brot oder ein Päckchen Sacharin.
Aber vor kurzem brauchte man die Ringe Iosif Vulfovitschs auch im Ghetto.
Rafalok Novodvorez und Rimma Sadvskaja hatten sich schon lange entschlossen zu heiraten. Rimmas Mama weinte, als sie davon erfuhr.
"Weine nicht, Mama", tröstete sie Rimma, "wieviel leichter wird uns mit Rafalok..."
Iosif Vulfovitsch verstand sie und machte die Ringe.
Ich sah die Eheringe. Bescheidene, geschmackvolle, nicht aus Gold oder Silber - aus einfachem Metall. Mögen sie Rafalok und Rimma jenes Stückchen Glück bringen, das ihnen vom Schicksal vorherbestimmt ist.
Heimatland: [Ein kommunistisches Lied als Provokation - Otto rettet seine Arbeitskolonne]
Wir schoben keine Schubkarren mehr - wir brachten ein Haus nach dem Weissen wieder in Ordnung [?], wir schrubbten die Ölfarbe vom Boden. Hierhin, in die Sverdlov-Strasse, schickten sie auch weissrussische junge Frauen. Und wie wohl allen ums Herz wurde. Keine Isolation mehr. Es gab Vertrauen, Humor und Herzlichkeit.
Die jungen Frauen putzten die Fenster, machten sie sperrangelweit auf. Und plötzlich sangen sie. Dem Lied war es eng hier. Es kam aus unseren Herzen in die Freiheit. Ich sang mein Lieblingslied:
Weites Land, meine Heimat...
Untern hörten wir die Pfiffe der Wachen. Und daneben war bereits ein Deutscher aufmerksam geworden.
"Was singen sie?" fragte er den Polizisten.
Ich erinnerte mich an den deutschen Text des Liedes. Wir hatten es doch in der Schule gelernt! Und ich stimmte es auf Deutsch an :
Heimatland, kein Fein
soll dich gefährden...
Ich weiss nicht, wie das geendet hätte, wenn Otto nicht erschienen wäre.
Auch dieses Mal rettete er uns.
Fima wurde ermordet - [Versammlungsverbot im Ghetto ab fünf Leuten]
Nicht versammeln! Nicht versammeln!
Die Deutschen erlaubten es nicht, sich im Ghetto in Gruppen zu treffen. Nicht mehr als drei-vier Leute durften zusammenstehen. Der Fünfte wurde erschossen.
Der Fünfte war dieses Mal Fima Osinovskij. In der Nähe schienen keine Deutschen oder Polizisten zu sein, als er kam, um sich mit seinen Freunden zu unterhalten. In dieser Gruppe waren schon vier junge Leute. Irgendwoher kam ein Deutscher - ein Schuss krachte.
Guter, mutiger Fima. Er war es, der Wache gestanden hatte (S.73), als wir durch das Schlupfloch in die Stadt gegangen waren und wieder zurückkehrten. Er war es, der Vasil Ivanovitsch Vasilev geholfen hatte, seine kleine Flora aus dem Ghetto zu befreien.
Quintett: [Anna und ihre vier Freundinnen singen kommunistische Kampflieder]
In der Schornaja wurden wir noch engere Freunde von Bronja und Lenotschka Goldman. In der Slobodskij-Gasse kannten wir einander noch schlecht. Aber hier sassen wir dicht aufeinander, ihre und unsere Familie hausten in einem Zimmer. Sie waren jünger als ich. Bronja war lebhafter, aktiver. Lenotschka war nachdenklicher, weicher.
Wir organisierten unser Quintett. An ihm nahmen Bronja, Lenotschka, Vita, Inna und ich teil. Leise sangen wir sowjetische Lieder. Bronja hatte ein aussergewöhnlich gutes Gedächtnis, sie kannte fast alle populären Lieder.
Unser Lieblingslied war "Mutig, Freunde, verliert eure Zuversicht nicht im ungleichen Kampf...". Ein bemerkenswerter Text, eine bemerkenswerte Melodie.
Ein unerwarteter Vorschlag [zur Rettung in die "Partisanenzone"]
Vielleicht würde dieses Treffen unser weiteres Schicksal bestimmen.
Asja, Inna und ich beobachteten diesen Menschen schon lange. Mehrmals traf sein fixierender, aufmerksamer Blick sich mit unserem. In letzter Zeit ging er besonders oft die Sverdlov-Strasse auf und ab, wo wir arbeiteten.
Und plötzlich das Unerwartete. Er kam zu uns.
"Mädchen, das Ghetto wird bald liquidiert. Ihr müsst fliehen." Wir standen wie betäubt.
"Wer sind Sie?"
"Das ist ohne Bedeutung. Ich kann helfen."
"Wie?"
"Ich kann euch aus der Stadt bringen."
"Wohin?"
Einige Zeit stand er schweigend da, schaute uns genau an. Dann sagte er:
"Ich bringe euch in die Partisanenzone."
"Sind Sie ein Verbindungsmann der Partisanen?"
"Solche Fragen stellt man nicht!"
"Ihr bringt alle hier raus?"
"Nein, zuerst dich", er zeigte auf mich, "und dann alle einzeln."
"Warum mich?"
"Mit dir ist es am leichtesten. Du siehst nicht wie eine Jüdin aus."
"Aber ich hab im Ghetto Mama und Schwester!"
"Eh, eh, alle kann ich nicht..."
"Meine Mama ist Doktor."
"Doktor" Ich muss mich beraten. Ich komme hierhin am Dienstag um drei Uhr. Von unserem Gespräch keinem..." (S.74)
Das war alles. Wir schauten uns lange an. Dann sagte Asja:
"Das ist die Rettung. Wir sollten nicht ablehnen!"
Trotzdem, wer war er, dieser Mensch? Wir wollten ihm so gerne glauben!
Wenn der Arbeitstag doch bald zu Ende wäre. Wenn wir alles bloss bald Mama erzählen könnten.
Wenn er es sich nur nicht anders überlegt!
Jetzt redeten wir mit Mama nur über diesen Menschen. Wenn er es sich nur nicht anders überlegt, wenn er nur nicht verschwindet.
Mama sagte:
"Wenn Inna und ich nicht gehen können, geh allein!"
Von diesen Worten wurde mir ganz krank und schlecht.
Wir entschieden uns, dass Mama nächsten Dienstag zu unserer Kolonne stossen sollte und mit uns zur Sverdlov-Strasse kommt. Wir würden beizeiten Otto um Erlaubnis fragen müssen.
Für alle Fälle bereitete Mama eine Tasche mit Medikamenten vor.
Wir kontrollierten unsere Wäsche, nähten sie um, flickten sie.
Es war kalt. Schnee, Frost.
[nicht erwähnt: deutsch-ungarisch-italienische Niederlage bei Stalingrad].
Über Mamas Pass: [Die Fälschung der Namen]
Wir beugten uns über Mamas Pass.
"Schau", sagte ich ihr, "hier ändern wir "Rachil" in "Raisa", "Aronovna" in "Adomovna". Unser Familienname ist Gott sei dank nichtssagend. Natürlich, bei "Nationalität" ist es eine grosse Veränderung. Los, wir fragen Onkel Turezkij, er kann es."
Onkel Turezkij war unser Nachbar. Es war klar, dass wir uns vorbereiteten, das Ghetto für immer zu verlassen. Darüber brauchten wir nicht reden. Wir könnten sagen, dass wir den Pass brauchten, um die Stadt zu verlassen.
"Dummerchen", Mama lächelte bitter. "Wenn man mit einem derart zurechtgemachten Papier das Ghetto verlassen könnte, dann wäre hier doch schon lange kein Mensch mehr!"
Ich weiss das auch selber.
Am Dienstag: [Fluchtvorbereitungen]
Er kam am Dienstag zur angegebenen Stunde. Er trug eine Feldbluse der Roten Armee! Ich sah, wie unter seinem Mantel der Kragen hervorguckte. Buchstäblich hypnotisiert schaute ich auf den Kragen. In der Seele wurde es mir etwas leichter.
Der Mensch mit der Feldbluse - so nannte ich ihn von dieser Minute an - verschwand mit Mama in der Tiefe des Hofes. Asja, Nina und ich arbeiteten, taten so, als wäre nichts geschehen. In diesen Minuten entschied sich unser Schicksal. Mama kehrte zurück. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erregung (S.75) ab.
"Na und?" warfen wir uns auf sie.
"Wir müssen fliehen. Er sagte, nächsten Dienstag will er unsere Familie wegbringen. Und dann die anderen."
Das hiess also, zuerst uns.
Abschied von Ingrid - [Ingrids Erinnerungsgeschenk]
Es war entschieden: Wir verliessen das Ghetto. Wir zweifelten, ob wir dem Menschen trauen konnten, der uns aus der Stadt bringen wollte. Aber wir riskierten es trotzdem - hier erwartete uns nichts als der Tod.
Über unseren Plan wusste niemand etwas.
Aber Ingrids Intuition war einfach unglaublich. Ich stand am Zaun und schwieg. Und sie fragte einfach, ob ich ihr nicht irgendetwas sagen wollte.
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. Ingrid bat mich, ein bisschen zu warten. Sie kehrte schnell zurück und reichte mir ein kleines Päckchen - ein Erinnerungsgeschenk.
Als wenn Ingrid unser Vorhaben erraten hätte.
Wie fliehen? - [Flucht durch ein Loch im Zaun]
Wieder und wieder besprachen wir den Fluchtplan. Ich setzte mich aus der Arbeitskolonne ab. Mama konnte auch zu uns kommen, aber Innotschka. Mit Kindern die Ghettogrenze zu überschreiten, war verboten. Daher mussten Mama und Inna das Loch im Zaun benutzen.
Ich war schon einige Male zu dem Loch im Zaun gegangen, das Fima Osinovskij gemacht hatte. Jedesmal erinnerte ich mich dankbar an unseren Freund. Gott sei Dank existierte das Loch noch. Weder Deutsche noch Polizei hatten es bisher entdeckt.
Mama und Inna sollten bis zum Haus in der Sverdlov-Strasse kommen. Dafür existierten zwei Varianten. Entweder schloss sich Mama nach Verlassen der Umzäunung einer Kolonne an und Inna lief parallel auf dem Bürgersteig entlang (sie war hellhäutig, vielleicht erregte sie keine Aufmerksamkeit). Oder Mama ging mit ihr durch die Stadt zur bekannten Stelle in der Sverdlov-Strasse.
Verzeiht mir mein Schweigen - [die Verheimlichung der Flucht vor Freunden im Ghetto]
Ich schaute auf Bronja und Lenotschka. Das Geständnis kam mir gleich über die Lippen:
"Wir verlassen das Ghetto!"
Würde ich sie je wiedersehen?
Errieten sie unsere Pläne nicht? Mir schien, dass in den grossen, grauen Augen Bronjas eine Frage lauerte. Die feuchten, von dem Unausgesprochenen ganz trüben Augen Lenotschkas beobachteten mich auch.
Verzeiht mir, Mädchen, mein Schweigen. (S.76)
Die letzte Nacht
Die letzte Nacht in der Schornaja. Ich konnte nicht einschlafen. Schweigend nahm ich von allen Abschied, die im Ghetto blieben.
Ich hatte grosse Angst: Dass die Deutschen [und Kollaborateure] nur bis Morgen früh kein Pogrom veranstalteten! Dass Mama und Inna nur die Flucht gelingen würde!
Mama schlief auch nicht, sie wandte sich hin und her. Nur Innotschka atmete gleichmässig, ruhig.
Morgen würden wir das Ghetto für immer verlassen. Und erwartet uns nicht zurück, wir kehren nicht wieder! Wir waren zu allem bereit. Wenn der Tod auf uns wartet, so treffen wir ihn würdig. Wenn es das Leben ist, so soll es uns die Freiheit schenken. Auf dass unser Hass auf den Faschismus nicht versiegt, auf dass wir Kraft haben, ihn zu bekämpfen.
Wir gingen, die Partisanen suchen. Wir gingen zu ihnen.
Bevor ich einen Punkt mache: [Otto Schmidt ist auch Fluchthelfer]
Ich habe mir diese Erzählung nicht ausgedacht. Sondern ich habe das erzählt, was mein Gedächtnis mir diktierte.
Darüber, wie wir Partisanen der 12.Kavalleriebrigade wurden, deren Kommandeur der spätere Held der Sowjetunion, Vladimir Andreevitsch Tichomirov, war, darüber liesse sich ein gesondertes Buch schreiben.
Aus dem Ghetto entkamen nur wenige von denen, über die ich in diesen "Briefen" schrieb.
Anja Botvinnik verhalf ein Mann zur Flucht, dessen Namen wir mit Dank gedenken - Otto Schmidt. Und Anja wurde Partisanin. Sarra Levina, Bronja Goldman, Vita Rabinovitsch und Berta Moiseevna Bruk mit ihrer Tochter Ljala, deren Aufzeichnungen ich verwandte, waren auch in Partisaneneinheiten. Ljala kam im bereits befreiten Minsk während der letzten Bombardierung um.
Ich hatte verschiedene Treffen mit Menschen, die von jenen Tagen her in meiner Erinnerung sind. Mit Boris Levin traf ich mich, als ich ein Buch mit Kinderversen in die Hand nahm und auf dem Umschlag den Namen des Autors las - Ber Sarin. Ber Sarin war das Pseudonym des Poeten und Malers Boris Levin. Er nannte sich einst Sarin, als er ein Mädchen namens Sarrotschka liebte.
Der letzte Punkt ist gemacht. Aber dieses Buch ist noch nicht beendet. Weil die Erinnerung nicht vergeht, solange der Mensch atmet, arbeitet, lebt. Wahrscheinlich werde ich sie mein Leben lang niederschreiben. (S.77)
Über das Leben und die Brutalität im Partisanenkampf und über die Diktatur Stalins ab dem Einmarsch in Minsk 1944 schweigt sich die Autorin aus.
Über die Kriegsereignisse, die verschiedenen Koalitionen, Kollaborationen und die Pläne der Machthaber sei der Leser auf die in der Einleitung angegebene Literatur verwiesen, die sehr eindrücklich den neuesten Kenntnisstand der historischen Forschung widergibt.
Michael Palomino
[Bild:] Marc Chagall, geboren 1887 in Witebsk/Weissrussland: Der Krieg
's brent, Briderlech, 's brent
oj, undser orim Schtetl nebech brent
's hobn schojn di Fajerzungn
's ganze Schtetl ajngeschlungn
un di bejse Wintn hudschen
Alts arum schojn brent
Schtejt nischt, Brider, lescht dos Fajer
Undser Schtetl brent
Mordechaj Gebirtig (S.89)
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