aus: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte; im
Selbstverlag des Instituts für Zeitgeschichte. München 1958,
S.79-84; Tel.: 0049-(0)89-12688-0
Originale Seitenzahlen sind in [Klammern] gesetzt.
Zusammenfassung
Das Hitler-Regime hatte mit zionistischen
Organisationen ab September 1933 diverse Abkommen zur
Auswanderung der deutschen Juden nach Palästina getroffen.
Die grosse Mehrheit der deutschen Juden jedoch nutzte die
Gelegenheit zur Auswanderung nach Palästina nicht, weil die
englische Kolonialmacht die Einwanderungsquoten für
Palästina niedrig hielt. Die deutschen Juden, denen die
Auswanderung nach Palästina bewilligt wurde, konnten Teile
ihrer Vermögen in Israel in Sachwerten zurückerhalten. Nach
"Amerika" und Südafrika war ihnen die Auswanderung wegen der
geforderten Berufe erschwert. Die Auswanderung nach Italien
war rechtlich möglich, jedoch hatte Italien selbst die
Auswanderung von Italienern zu organisieren, so dass kaum
Raum für die Aufnahme deutscher Juden blieb. Hingegen gelang
vor allem jungen Juden aus Osteuropa, insbesondere
polnischen Juden, 1933-1939 die Auswanderung nach Übersee,
weil sie begehrte Handwerker und Landarbeiter waren. Eine
hervorragende Ergänzung dieses Artikels ist in der
Encyclopaedia Judaica von 1971 unter "Germany" zu finden.
Der Text
<Die legale Auswanderung von Juden aus Deutschland
zwischen 1933 und 1939 wurde hauptsächlich durch drei
Umstände erschwert:
Erstens litten 1933 noch alle Staaten, in Europa wie in
Übersee, unter den Nachwirkungen der grossen
Weltwirtschaftskrise; überall herrschte
Massenarbeitslosigkeit, und auch als sich in den folgenden
Jahren die wirtschaftliche Lage besserte, in vielen Ländern
sogar völlig normalisierte, standen den verantwortlichen
Staatsmännern, Unternehmern und Arbeiterführern stets die
Arbeitslosenheere der Krisenzeit vor Augen und bestimmten
ihre Haltung in allen wirtschaftspolitischen Fragen. So
änderten selbst wirtschaftlich gut gestellte und
menschenarme Staaten unter dem psychologischen Eindruck der
Wirtschaftskrise ihre einmal radikal herabgesetzten
Einwanderungsquoten nicht, und ohne Schwierigkeiten wurden
nur Einwanderer angenommen, die ein bestimmtes Vermögen
nachweisen oder sich auf die Bürgschaft von Verwandten und
Freunden berufen konnten. Von diesen beiden Möglichkeiten
kam für die deutschen Juden fast nur die
zweite in Betracht, da die drakonische deutsche
Devisengesetzgebung praktisch nicht mehr als die Mitnahme
eines Taschengeldes gestattete. (Über die Ausnahmen in der
Zeitspanne zwischen 1937 und Mitte 1938 siehe unten). Die
allgemeine Haltung des Auslands änderte sich kaum, als nach
der Machtergreifung Hitlers die Notwendigkeit der jüdischen
Auswanderung aus Deutschland überall theoretisch erkannt und
anerkannt war.
Zweitens stellte die Berufsschichtung der deutschen Juden
ein schwer- wiegendes Hindernis für eine grosszügige
Auswanderung dar. In den Staaten, die eine beschränkte
Einwanderung zuliessen, wurde nämlich streng darauf gesehen,
dass sich die Einwanderer nur aus solchen Berufsgruppen
rekrutierten, an denen das betreffende Land selbst Mangel
litt, den es in absehbarer Zukunft nicht aus eigener Kraft
beheben konnte. Erwünscht waren vor allem
landwirtschaftliche Arbeiter, industrielle Facharbeiter und
Handwerker, also Berufe, in denen das deutsche Judentum, das
im wesentlichen kaufmännisch und akademisch ausgebildet war,
nur sehr spärlich vertreten war.
Diese Hemmnisse hätten wenigstens teilweise beseitigt werden
können, wenn die teils schon vorhandenen, teils sich rasch
konstituierenden jüdischen Hilfsorganisationen in der Lage
gewesen wären, ihre finanziellen Mittel ausschliesslich den
deutschen Juden zuzuwenden, d.h. umfassende berufliche
Umschulungsprogramme zu finanzieren und den Auswanderern das
sog. "show-money" (das dem Staat, in den man einwandern
wollte, nachzuweisende Anfangskapital) zumindest
vorübergehend zur Verfügung zu stellen.
Das aber wurde durch einen dritten Faktor vereitelt: Die
Auswanderungswelle der deutschen Juden war nur ein Teil -
und nicht einmal der grösste - einer allgemeinen jüdischen
Auswanderung aus Mittel-, Ost- und Südost- (S.79) europa. Aus
Polen wanderten in den Jahren nach 1933 jährlich etwa
100.000 Juden aus
(Deutschland: 25.000-28.000) sowohl wegen der wachsend
antisemitischen Haltung der polnischen Regierung wie auch
wegen der immer mehr fortschreitenden wirtschaftlichen
Verelendung der polnischen Juden. Ähnliche Tendenzen zeigten
sich in Lettland, Litauen, Rumänien und, in geringerem
Grade, in Ungarn. Da selbstverständlich auch diese Juden bei
den jüdischen Organisationen um Hilfe nachsuchten und
unterstützt werden mussten, blieben die Mittel für die
Auswanderung der deutschen Juden stets begrenzt.
Neben diesen äusseren Schwierigkeiten wurde die Auswanderung
auch durch innere Gründe gehemmt, die heute leicht übersehen
oder in ihrer Bedeutung zu gering geachtet werden. Abgesehen
von der prinzipiellen Widersinnigkeit und moralischen
Verwerflichkeit rassischer Diskriminierung überhaupt, war
der überwiegende Teil der Deutschen jüdischer Abstammung ja
nicht völlig andersgeartet und allen übrigen Deutschen
gegenüber fremd und gefährlich, wie der antisemitische Wahn
das wollte. Es handelte sich vielmehr um Menschen, die sich
ihrer Kultur und ihrem nationalen Bekenntnis nach nicht
weniger an Deutschland gebunden fühlten als die anderen
Deutschen auch. Sie hingen an ihrer Heimat und vermochten es
nicht zu begreifen, dass sie diesem ihrem Volk auf einmal
nicht mehr angehören sondern radikal ausgestossen sein
sollten. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihr Leben
bedroht war, wenn sie auch unter dem nationalsozialistischen
Regime mit einer eingeengten und sehr bescheidenen Existenz
rechneten. Das aber wollten sie lieber in Kauf nehmen, als
ihr Vaterland verlassen und verlieren.
Soweit die deutschen Juden trotz der aufgezählten
Schwierigkeiten doch auswanderten, wurde wohl am häufigsten
die Möglichkeiten genutzt, die sich durch die Bürgschaft und
Unterstützung im Ausland lebender Freunde und Verwandte
boten. Seltener war die Auswanderung mit finanzieller Hilfe
deutsch-jüdischer oder internationaler Organisationen, etwa
des Hilfsvereins der Juden in Deutschland, der ICA (Jewish
Colonisation Association) und der HICEM (Dachorganisation
einiger internationaler Hilfsvereine). So ermöglichte der
Hilfsverein für die Juden in Deutschland z.B. 1935 927 Juden
die Auswanderung in europäische und 1617 Personen in
überseeische Länder die HICEM
verhalf im gleichen Jahre 2222 Juden zur Auswanderung. Bei
den durch diese Organisationen unterstützten Juden handelte
es sich aber im allgemeinen um Angehörige der den
Zielländern erwünschten Berufsgruppen oder um jüngere
Personen, die bereits von ihrer bisherigen Tätigkeit auf
einen Beruf umgeschult worden waren, der für die
Auswanderung günstig war; diese Juden erhielten lediglich
das "show-money", das auch sie vorweisen mussten, geschenkt
bzw. vorgeschossen.
Vorübergehend, zwischen 1937 und Mitte 1938, förderte auch
der deutsche Staat die Auswanderung, allerdings auf seine
Weise. Juden mit mindestens 30.000 RM (für zwei Personen)
und 50.000 RM Vermögen (für drei und mehr Angehörige) (S.80)
durften in dieser Zeit einen gewissen Teil ihres Geldes
transferieren, während der Rest vom Finanzministerium
einbehalten und daraus der sog. "Alttreu-Fond" gebildet
wurde. Einige tausend unterbemittelte Emigranten erhielten
aus diesem Fond ihr "show-money" in Höhe von 600-900
Goldmark pro Person. Mitte 1938 waren die Mittel jedoch
erschöpft.
Etwa ein Drittel aller auswandernden Juden ging nach
Palästina (vom 1.2.1933 bis zum 1.4.1936 etwa 34.000). Die
im Hinblick auf die Einwanderungsquoten anderer Länder hohe
Zahl erklärt sich daraus, dass eine planmässig gelenkte
internationale jüdische Wanderung nach Palästina strömte, in
der den deutschen Juden ein relativ hohes Kontingent
zugestanden wurde. Vor allem aber bestand die Möglichkeit,
von Deutschland nach Palästina Geld zu transferieren. Im
September 1933 nämlich war zwischen zionistischen Kreisen
und dem Reichswirtschaftsministerium ein Abkommen getroffen
worden (Havarah-Abkommen), das dem damals noch echten Wunsch
der nationalsozialistischen Führung, die Auswanderung der
deutschen Juden zu fördern, wie auch den Export- und
Devisenbedürfnissen der deutschen Wirtschaft, schliesslich
den Interessen der deutschen und palästinensischen Juden
gleichermassen entgegenkam. Deutschjüdische Auswanderer
konnten danach bei der "Palästina-Treuhandgesellschaft zur
Beratung deutscher Juden G.m.b.H." ihr Barvermögen
einzahlen.
Aus dem mit diesen Geldern gebildeten Fond durften Exporte
der deutschen Wirtschaft nach Palästina etwa zur Hälfte
bezahlt werden, die Restsumme dagegen musste Palästina in
Devisen aufbringen (der Devisenanteil schwankte je nach der
Art der Ware und der Devisenlage des Reiches). In Palästina
übernahm die Havarah (die dem Abkommen den Namen gab) den
Verkauf der deutschen Waren und zahlte den ausgewanderten
Gläubigern der "Paltreu" ihre dort geleisteten Einzahlungen
zurück. Auf diese Weise konnten zahlreiche deutsche Juden
einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Vermögens retten und
die Auswanderung unter einigermassen günstigen Bedingungen
wagen. Im November 1938 wurde das Abkommen durch die
"Kristallnacht" und die ihr folgenden Gesetze der
Reichsregierung gegenstandslos. Paltreu und Havarah hatten
übrigens intern die Regelung getroffen, dass wohlhabende
Auswanderer in Palästina nicht voll ausbezahlt wurden,
sondern einen Teil ihres Vermögens an mittellose deutsche
Juden abzugeben hatten, um diesen eine Existenz in Palästina
zu ermöglichen. Die Faustregel hiess: "Ein reicher
Auswanderer muss zwei arme mitnehmen."
Denjenigen, die nach Palästina auswandern wollten, war auch
das vom Jüdischen Hilfsverein eingerichtete sogenannte
"Palästina-Amt" behilflich. Dieses Amt, das im Jahre 1936 im
Reich 23 Filialen hatte, veranstaltete Vorträge und
Lehrkurse und gab Publikationen heraus, um die Auswanderer
auf die Verhältnisse in ihrer neuen Heimat vorzubereiten.
Trotz allem wurde die Chance, nach Palästina zu gehen, von
vielen kapitalkräftigen deutschen Juden nicht genutzt.
Erstens kamen für Palästina im allgemeinen nur jüngere Leute
in Frage. Zweitens zeigten zahlreiche wohlhabende Juden
keine Neigung, ihr bürgerliches Leben und Milieu aufzugeben,
sondern strebten danach, in eine zumindest ähnliche Umwelt
zu kommen (S.81); sie warteten lieber jahrelang auf eine
Gelegenheit, nach USA, Südafrika oder Italien gehen zu
können, als im Nahen Osten ein Kolonistendasein führen zu
müssen.
Schliesslich war Palästina ein Land, das jüdische
Auswanderer im allgemeinen nur dann lockte, wenn sie
wenigstens noch Reste oder wieder Ansätze jüdischer
religiöser Überlieferung und nationaljüdischer zionistischer
Vorstellungen in sich spürten. Und gerade die wohlhabenden
bürgerlichen deutschen Juden hatten sich in einem Masse
assimiliert, dass sie dafür nur in wenigen Fällen
ansprechbar waren. Im ganzen verliessen bis zum 9. November
1938 ("Kristallnacht") etwa 170.000 Juden Deutschland, eine
angesichts der immer schwerer werdenden Bedrückung geringe
Zahl.
Die illegale Auswanderung war verhältnismässig selten. Zwar
konnte das Überschreiten der Grenze natürlich nicht
verhindert werden, und theoretisch standen dem illegalen
Emigranten alle an Deutschland angrenzenden Staaten offen,
in der Praxis aber gab es für den Emigranten ohne Visum und
ohne Einwanderungserlaubnis keine Lebensmöglichkeit. Er
durfte weder arbeiten, noch konnte er ungestört in einem
Land bleiben; da er ohne gültige Papiere war, wurde er nach
bestimmten Fristen rücksichtslos ausgewiesen. Von Staat zu
Staat gehetzt, führte er ein erbärmliches Leben, das manchen
zum Selbstmord trieb. Dass die meisten europäischen Staaten
die nationalsozialistische Judenpolitik scharf verurteilten,
hatte auf ihre Haltung gegenüber den vor dieser Bedrohung
Flüchtenden keinen Einfluss. Anders lagen die Dinge
natürlich, wenn es einem illegalen Auswanderer gelang,
grössere Summen, wertvollen Schmuck oder sonstige erhebliche
Werte über die Grenze zu schmuggeln, da er sich dann die
nötigen Papiere verschaffen konnte.
Die illegale Auswanderung schloss aber immer ein so grosses
Risiko ein, sei es an der Grenze oder jenseits der Grenze,
dass man in ihr normalerweise keine Möglichkeit erblickte.
Dies um so weniger, als die gesamte Auswanderungsbewegung
bis zur "Kristallnacht" keine Flucht vor einer akuten
Bedrohung, sondern ein Ausweichen vor einer zwar stetig,
aber relativ langsam fortschreitenden Gefährdung der
Existenz war, so dass es die meisten Juden vorzogen, auch
längere Zeit auf eine Chance zu legaler Auswanderung zu
warten. Ausnahmen bildeten allerdings einzelne Ereignisse,
die bei Teilen der deutschen Juden Panikstimmungen
hervorriefen und zu regellosen Fluchten über die Grenze
führten. Hier wären vor allem die Machtergreifung Hitlers
selbst und die ihr folgenden Wochen wilden SA-Terrors zu
nennen, ausserdem der 1. April 1933 (Boykott-Tag). Tausende
der damals geflüchteten Juden kehrten aber im Laufe des
Jahres 1934 nach Deutschland zurück, da sie aus den
genannten Gründen nirgends eine Existenzbasis finden
konnten. Hinzu kamen Fälle, in denen einzelne Juden durch
individuellen Terror örtlicher Parteiführer oder durch den
Konflikt mit nationalsozialistischen Vorschriften (etwa den
Nürnberger Gesetzen) zu überstürzter und daher meist
illegaler Auswanderung gezwungen waren.
Neben Palästina waren zwischen 1933 und 1939 die wichtigsten
Zielländer der jüdischen Auswanderung aus Deutschland die
Vereinigten Staaten, Kanada, Brasilien, Argentinien,
Paraguay, Kolumbien, Bolivien, Südafrika. Jedoch waren die
(S.82) Vereinigten Staaten infolge der Weltwirtschaftskrise
in den ersten beiden Jahren nach 1933 kein begehrtes Ziel
(zwischen 1931 und 1935 überstieg die gesamte Rückwanderung
aus ihnen die Einwanderung um 79'634 Personen!) während sie
später eine wenig judenfreundliche Einwanderungspolitik
trieben. Juden durften nach den USA nur im Rahmen der
allgemeinen deutschen Quote auswandern, und auch dann
mussten sie eine finanzielle Bürgschaft von Verwandten oder
Freunden nachweisen. Sogar in diesen Fällen wiesen die
amerikanischen Konsulate in Berlin, Hamburg und Stuttgart
jüdische Einwanderungsgesuche oft zurück. Zudem warnten die
jüdischen Zeitungen in Deutschland die in Handel, Gewerbe
und akademischen Berufen tätigen Juden vor der Auswanderung
nach Nordamerika, da dort lediglich Facharbeiter und von den
Akademikern Hochschullehrer, eventuell noch Chemiker
berufliche Aussichten hätten.
Ärzte und Juristen wurden schon dadurch abgeschreckt, dass
sie die entsprechenden amerikanischen Prüfungen hätten
nachholen müssen, was vor allem bei den Juristen infolge der
grossen Unterschiede zwischen angelsächsischem und deutschem
Recht ein jahrelanges Studium erfordert hätte, das sich die
wenigsten finanziell erlauben konnten. Auch die übrigen
erwähnten amerikanischen Staaten gestatteten die
Einwanderung nur Landarbeitern und industriellen
Facharbeitern bzw. den Juden mit Verwandtenbürgschaft.
Dagegen hatten in Südafrika ausser den genannten
Personengruppen auch Ingenieure gewisse Möglichkeiten.
Europa trat den überseeischen Ländern gegenüber an Bedeutung
zurück. Hier fiel nur die Auswanderung nach Frankreich
zahlenmässig ins Gewicht; doch wurde Frankreich, ebenso wie
etwa Holland, Belgien, Tschechoslowakei, auch bei längerem
Aufenthalt mehr als Durchgangsstation für die Weiterreise
nach Palästina oder Amerika angesehen. Die deutschen Juden
erhielten für diese Staaten zwar oft ohne grosse
Schwierigkeiten eine befristete oder unbefristete
Aufenthaltserlaubnis, sie durften aber im allgemeinen nicht
arbeiten und waren schon deshalb meist gezwungen,
weiterzuwandern oder gleich direkt nach Übersee zu gehen.
Immerhin konnten z.B. von den zwischen 1. Februar 1933 und
1.April 1936 Ausgewanderten etwa 20.000 in Westeuropa
bleiben.
Voraussetzung war dabei die Unterstützung durch Verwandte,
Freunde oder jüdische Hilfsorganisationen. Zeitweise standen
Auswanderern Devisen für Österreich, Ungarn, Chile und
Paraguay zur Verfügung. Von dieser Möglichkeit konnte
naturgemäss nur ein verschwindend kleiner Teil deutscher
Juden Gebrauch machen. Schanghai erlaubte die Einreise ohne
Bedingungen und Einschränkungen, bot dafür aber weder die
Möglichkeit einer beruflichen Existenz noch eine Gelegenheit
zur Weiterfahrt. Kein europäischer oder überseeischer Staat
aber zeigte eine Neigung, Angehörige der für ihn
unbrauchbaren Berufe (Handel, Banken, Gewerbe, Unternehmer,
Akademiker), in denen die Masse der deutschen Juden tätig
war, aufzunehmen, sofern sie nicht eigenes Vermögen oder
vermögende Verwandte nachweisen konnten.
Auch die Versuche des Völkerbundes, diese Einstellung zu
ändern, blieben vergeblich. Am 26. Oktober 1933 ernannte der
(S.83) Völkerbund einen Hochkommissar für Flüchtlingswesen
(James G. MacDonald), der aber schon am 31. Dezember 1935
aus Protest gegen die starre Haltung der beteiligten Staaten
sein Amt niederlegte. Auch die dem jüdischen
Auswanderungsproblem gewidmete Konferenz von Evian (Schweiz)
[Fehler: Evian liegt auf der französischen Seite des
Genfersees], die vom 6. bis 15. Juli 1938 tagte, zeitigte
keine Ergebnisse. Lediglich Australien, das bislang schroff
ablehnend gewesen war, erklärte sich bereit, von 1939 bis
1941 15.000 deutsche Juden aufzunehmen, ein Programm, das
wegen des Kriegsausbruchs über gewisse Ansätze nicht
hinauskam.
Die Durchreise zwecks Auswanderung nach Übersee wurde von
allen europäischen Ländern immer dann gestattet, wenn die
Einwanderungserlaubnis eines überseeischen Staates
nachgewiesen werden konnte; war dies nicht der Fall, wurde
die Durchreise oft, aber nicht immer, verweigert, da man
fürchtete, der Emigrant werde nicht weiterkommen und im
Lande bleiben.
Die Haltung Italiens zu den deutschjüdischen Auswanderern
war zwischen 1933 und 1939 nicht anders als die der übrigen
europäischen und aussereuropäischen Staaten: weder
judenfreundlich noch antisemitisch, sondern im wesentlichen
von rein wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt. Im November
1936 dementierte ein hoher italienischer Regierungsbeamter,
gerade im Hinblick auf dieses Problem im Gespräch mit dem
Vertreter der jüdischen Telegraphenagentur öffentlich eine
Meldung der "Iswestija", wonach Italien seinen Standpunkt in
der Judenfrage ändern und einen antisemitischen Kurs
einschlagen werde, und bemerkte, Italien mache keinen
Unterschied zwischen den Bürgern. Da aber Italien gezwungen
war, für seine eigene Bevölkerung nach Auswanderungs- oder
Ansiedlungsmöglichkeiten zu suchen, und Einwanderern, selbst
wenn es gewollte hätte, keine Chance bot, wandten sich nur
verhältnismässig wenig deutsche Juden dorthin.
Dass es trotzdem einige tausend waren, hatte seinen Grund in
dem zwischen Italien und Deutschland abgeschlossenen
Clearingabkommen, das Kapitaltransfer für Auswanderer
ausdrücklich vorsah. Es bestand also die Möglichkeit, durch
Einzahlung auf ein bei der Reichsbank zugunsten der
italienischen Notenbank geführtes Verrechnungskonto eine
bankmässige Gutschrift in Italien zu erlangen. Das wurde von
deutschen Juden benutzt, um wenigstens Teile ihres Vermögens
zu retten, kam aber auch nur einer relativ kleinen Anzahl
zugute. Sowohl diese Gruppen wie die mittellos nach Italien
Gekommenen betrachteten Italien nur als Sprungbrett für die
Auswanderung nach Übersee. Abgesehen von einigen
verhältnismässig harmlosen antijüdischen Gesetzen, die in
der Zeit kurz vor Kriegsausbruch erlassen wurden, erfolgte
die eigentliche Wendung Italiens zu antisemitischer Politik
erst nach seinem Kriegseintritt (10. Juni 1940), und zwar
wahrscheinlich auf deutsches Betreiben hin.>
Quellen:
-- Mark Wischnitzer: Die jüdische Wanderung unter der
Nazi-Herrschaft 1933-1939. In: C.(entral) V.(erein)-Zeitung.
Allgemeine Zeitung des Judentums 1935, 1936, 1937. (S.84)
-- Heinz Ganther: Die Juden in Deutschland. Ein
Almanach. - Frankfurt 1953, 14ff.
-- Hans Lamm: Die innere und äussere Entwicklung des
deutschen Judentums im Dritten Reich - Erlangen, Phil. Diss.
1951.
27.3. 1956xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxGraml