Tsipras: Drachme und
Systemwechsel wollte er gar nicht, obwohl 4
Kommissionen den Grexit erarbeitet hatten (!!!)
Die griechische Tragödie: „Alexis Tsipras hat
sich nie für Alternativen interessiert“
http://www.rtdeutsch.com/27097/headline/die-griechische-tragoedie-alexis-tspiras-hat-sich-nie-fuer-alternativen-interessiert/
<Jens Wernicke sprach mit dem
Kabarettisten und Liedermacher Prinz Chaos
II., der sich in Griechenland ein Bild von der
Situation vor Ort gemacht hat und einigen
Mythen in der Debatte entschieden
widerspricht. So habe es beispielsweise sehr
wohl einen Plan B gegeben, der Syriza aus dem
Dilemma, dem sie schließlich erlag, hätte
befreien können.
Prinz Chaos, Du bist vor einigen
Tagen nach Athen aufgebrochen, um Dir
jenseits der Berieselung durch die hiesigen
Medien ein eigenes Bild der Situation zu
machen. Wie ist die Lage vor Ort?
Als wir die Flüge buchten, waren wir noch
elektrisiert von den 61,5 Prozent Oxi beim
Referendum. Wir erwarteten eine Stadt im
Siegestaumel und eine Linke voller
Selbstbewusstsein.
Als wir in Athen ankamen, hatte Tsipras aber
bereits kapituliert und das dritte Memorandum
war beschlossen worden.
Dementsprechend herrschte unter den Aktivisten
Ratlosigkeit und blankes Entsetzen. Ganz Athen
schien am Tag unserer Ankunft wie gelähmt. Und
in den Straßencafés waren deutlich weniger
Leute als sonst.
Wir waren auch in der Syriza-Zentrale. Der
Genosse, den wir interviewen wollten, war aber
nicht bereit, vor laufender Kamera zu reden.
Er war nämlich für das Büro von Alexis Tsipras
tätig gewesen, hatte jedoch kurz vor unserem
Termin seinen Rücktritt erklärt, weil er den
neuen Kurs total ablehnt.
Danach sind wir zu einer Internationalen
Konferenz an der Uni in Athen gefahren. Deren
Titel „Democracy Rising“ klang geradezu
zynisch im Lichte der neuesten Entwicklungen.
Da kam es dann zu wütenden Debatten zwischen
Befürwortern und Gegnern des neuen Kurses,
wobei die Gegner hier deutlich überwogen.
Die Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou
sagte uns off the record, wie schockiert sie
von Tsipras 180-Grad-Wendung sei. Sie hat auch
im Parlament gegen den neuen Kurs gestimmt und
eine knallharte Rede dagegen gehalten.
Costas Lapavitsas von der Syriza-Linken warb
für einen gut vorbereiteten Grexit. Er machte
vor allem deutlich, dass dieses dritte
Memorandum eine absolute Garantie für eine
rasch zunehmende Verelendung und ein
ökonomisches Desaster darstellt.
Was bedeutet das, „zunehmende
Verelendung“? Hast Du ein, zwei Beispiele
für unsere Leser parat, was man sich
darunter konkret vorzustellen hat?
Wir haben das Krankenhaus Elpis besucht, was
auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet. Dieses
Krankenhaus hat vor fünf Jahren begonnen, alle
Patienten anzunehmen, auch die Unversicherten,
Obdachlosen, Flüchtlinge. Und auch völlig
abgebrannte deutsche Rucksacktouris.
Was wir in der Notaufnahme gesehen haben, war
schon krass. Die Pflegekräfte tun, was sie
können. Aber Du siehst vielen Patienten die
bittere Armut und die Unterernährung deutlich
an. 3,5 Millionen von 11 Millionen Griechen
haben auch gar keine Krankenversicherung mehr.
Oberärzte bekommen teilweise nur 3,50 Euro
Stundenlohn. In einer Ärztezeitung haben wir
von Fällen gelesen, in denen Müttern ihre
Babies erst herausgegeben wurden, nachdem sie
die Rechnung für die Entbindung beglichen
hatten.
Und das alles kam … durch die
sogenannten „Rettungsmaßnahmen“ der Troika
in den letzten Jahren soweit? Was lief da
schief?
Ich habe ein Interview mit Leonidas
Vatikiotis geführt. Er ist Ökonomieprofessor
an der Uni Zypern und Journalist. Er war auch
Mitglied der „Wahrheitskommission über die
griechischen Staatsschulden“. Diese Kommission
hatte Zoe Konstantopoulou ins Leben gerufen.
Sie wurde unter anderem geleitet von Eric
Toussaint, der die Entschuldung Argentiniens,
Osttimor und Ecuadors bereits erfolgreich
begleitet hat und auch für die Afrikanische
Union tätig gewesen ist.
Diese Kommission hat sich die griechischen
Schulden sehr genau angesehen. 80 Prozent
davon sind Schulden bei der Troika. Ein hoher
Prozentsatz der zugrundeliegenden Verträge
verstößt aber gegen griechisches oder
internationales Recht. Es sind also illegale
Schulden, deren Rückzahlung man mit guten
juristischen Gründen ablehnen kann.
Die Spur der Korruption in Griechenland, die
immer wieder angeprangert wird, führt außerdem
zu Siemens und zu Krauss-Maffei-Wegmann.
Insofern ist es eine reine Klassenfrage. Die
griechischen Oligarchen haben im Verein mit
deutschen Konzernen, mit Banken und der
EU-Bürokratie den Staat ausgeplündert und das
Volk ins Elend gestürzt. Und die Korruption,
die hier ablief, war Teil eines konzertierten
Angriffs, den Yanis Varoufakis vollkommen
zurecht „ökonomischen Terrorismus“ nennt.
Nun lesen wir aber ja überall, die
Regierung Tsipras hätte gar nicht anders
gekonnt, die Kritiker hätten selbst nicht
anders zu handeln vermocht und sollten
schweigen daher…
TINA, TINA, TINA: There is no alternative!
Dieses Mantra wird nicht dadurch richtiger,
dass es jetzt auch von Linken gesungen wird.
Es werden auch allerhand Stories aufgetischt,
die dem Land der antiken Mythen zwar sozusagen
alle Ehren machen, die aber ganz einfach keine
Grundlage in der Realität haben. Etwa diese
Idee, es hätte keinerlei Plan B gegeben. Das
ist falsch.
[4 Kommissionen für einen Grexit - aber
Tsipras interessierte sich nie für
die Drachme]
Es gab sogar vier Kommissionen, die eine
selbstbestimmte Exit-Strategie entwickelten.
Erstens die besagte Wahrheitskommission des
griechischen Parlaments, international
hochkarätig besetzt. Dazu gab es ein geheimes
Fünfer-Komitee im Finanzministerium von
Varoufakis. Drittens hat der linke
Syriza-Flügel um den Wirtschaftsprofessor
Costas Lapavitsas, der seit dreißig Jahren
über Geld forscht, einen Fünf-Punkte-Plan
entwickelt, wie man einen Grexit durchführen
könnte. Und schließlich gibt es noch die
Delphi-Initiative, wo alternative
Geldtheoretiker wie David Graeber, Michael
Hudson und der Weltbankdissident Peter König
zusammenkamen.
Die Akteure dieser vier Gruppen, die allesamt
an einem Exitplan gearbeitet haben, kennen
sich zum Teil untereinander, haben Kontakt.
Hätte man diese Vorarbeiten und Planungsstäbe
zusammengeführt, hätte man sehr schnell einen
detaillierten und hochwertigen Plan B
entwickeln können und auch exzellentes
Personal für dessen Durchführung gehabt.
Dummerweise hatten alle vier Kommissionen eine
wesentliche Gemeinsamkeit…
Die da wäre?
Alexis Tsipras hat sich nie für ihre Arbeit
interessiert.
Was hättest Du denn „am Ende“ an
seiner Stelle getan? Nicht unterschrieben,
sondern … was?
Lassen wir uns einmal auf folgendes
Gedankenspiel ein: Am Tag nach dem Referendum
stellt sich Tsipras hin und erklärt den
Leuten: „Passt auf, ich fahre jetzt nach
Brüssel. Und ich werde alles tun, um Euer Oxi
dort durchzusetzen. Aber das wird nicht
einfach werden. Wenn ich zurückkomme, lege ich
Euch dann die Ergebnisse vor und – falls diese
Ergebnisse dem Referendum widersprechen –
einen Alternativplan.“
Wenn das Volk dann abgestimmt hätte, über ein
neues Austeritätsprogramm oder für einen gut
vorbereiteten Grexit – was wäre da wohl
herausgekommen?
Hätte Tsipras sich dann erneut an das Volk
gewandt und gesagt: „Ihr müsst wissen, dass
die nächsten Monate oder auch ein, zwei Jahren
unendlich schwierig werden, aber wir bauen
jetzt unseren Binnenmarkt wieder auf und
nehmen unser Schicksal in die eigenen Hände!“
– was denkst Du, wäre da passiert? Ich denke,
wir hätten eine Explosion massenhafter
Selbstorganisation erlebt.
Womöglich aber auch nicht… Nach einer
Umfrage wollen immerhin 70 Prozent der
Griechen unbedingt im Euro bleiben.
Ich bitte Dich! Diese überall zitierte
Umfrage ist reine Propaganda. Auf so einer
Grundlage kann man nicht ernsthaft
diskutieren. Dass diese „Umfrage“ dann überall
als ein echtes Argument daherkommt, zeigt
lediglich den Zustand der deutschen Debatte.
Fakt ist: Die Griechen haben Sparmaßnahmen,
die weitaus weniger schlimm waren als das
jetzige Memorandum, mit 61,5 Prozent
abgelehnt. Und sie taten das im vollen Wissen,
dass bereits dieses Nein einen Grexit bedeuten
könnte. Denn das hatte ihnen Schäuble ja
bereits detailliert erklärt und die
griechischen Mainstreammedien haben das vor
dem Referendum zu einer riesigen Drohkulisse
aufgebaut. Die Leute haben trotzdem mit Oxi
gestimmt.
Warum hat das Oxi der Bevölkerung,
das Du erwähnst, Syriza denn nicht davon
abgehalten, das nächste Memorandum zu
unterschreiben? Wie erklärst Du das?
Syriza hat dem Memorandum gar nicht
zugestimmt. Syriza wurde gar nicht gefragt und
das Zentralkomitee der Syriza hat sich mit
einer Mehrheit von 109 aus 201 Mitgliedern
auch klar gegen Tsipras neuen Kurs
ausgesprochen.
Wieso, denkst Du, hat Tsipras die
Partei dann ignoriert?
Er war subjektiv sicherlich überzeugt, gar
keine andere Wahl zu haben. Tsipras hat nie
daran geglaubt, dass ein wirklicher
Systembruch möglich sei und ist auch nicht
bereit dazu. Das hat ihn am Ende maximal
erpressbar gemacht, weil die Gegenseite das
natürlich wusste. Schäuble hat folglich die
Drohung mit einem forcierten Grexit kunstvoll
aufgebaut und gleichzeitig die griechische
Wirtschaft stranguliert.
Die Grundfrage ist nur: Wo verortet man die
Quelle seiner Macht? Und vor welcher Klasse
fürchtet man sich am meisten?
Die Führung um Tsipras ist regelrecht in
Panik verfallen angesichts der elektrisierten
Massenstimmung nach dem Oxi. Varoufakis
erzählt, wie er am Abend des Referendums in
den Maximo kam, in den Präsidentenpalast. Ganz
Athen, ganz Griechenland lag sich jubelnd in
den Armen, tanzte, sang und platzte vor
Kampfgeist und Selbstbewusstsein – aber rund
um Tsipras herrschte eisige Stimmung als
Varoufakis mit seinem „Wow, this is great!“
zur Tür hereinkam. Dieses Ergebnis war weder
erwartet noch gewünscht worden.
Am nächsten Morgen war Varoufakis dann nicht
mehr Finanzminister. Stattdessen bestellte
Tsipras die Chefs der alten, abgehalfterten
Austeritätsparteien zu sich, um vorzubereiten,
wie er mit diesen, aber gegen den eigenen
linken Flügel, einen Deal mit der EU
durchziehen könne.
Es gab also eine Alternative und es gab eine
goldene Gelegenheit, diese Option zu wählen.
Aber es hätte für diese alternative Strategie
einer mutigen und entschlossenen Führung
bedurft, die an das eigene Volk glaubt, die
vor der Konfrontation mit dem Kapital nicht am
entscheidenden Punkt zurückzuckt und die auf
die Selbstaktivität der Menschen setzt.
Du sagtest vorhin, da würden nun
viele Mythen gesponnen. Inwiefern denn das?
Nun, das betrifft erstens, wie schon gesagt,
diese Behauptung, es habe keinen Plan B
gegeben, nur weil Tsipras nichts davon wissen
wollte. Dann diese ganzen Horrorszenarios, was
bei einem Grexit passieren würde. Diese
apokalyptischen Prophezeiungen wurden vor dem
Referendum von der Oligarchenpresse in
Griechenland verzapft. Und jetzt hat Tsipras‘
PR-Abteilung diese Textbausteine übernommen
und halb Europa plappert es nach. Dabei sind
das reine Spekulationen, ökonomische
Horrorstories ohne jede empirische Grundlage.
Im Gegenteil gibt es gute Gründe anzunehmen,
dass Griechenland bei einem selbstbestimmten
Grexit und einer Rückeroberung des eigenen
Binnenmarkts besser dastünde als mit dieser
absehbaren Katastrophe des dritten
Memorandums.
Dazu hätte man in einem ersten Schritt die
Banken verstaatlichen müssen, um die Kontrolle
über den Kapitalverkehr zu sichern. Nachdem
der Staat bei den wichtigsten Banken ohnehin
starke Anteile oder sogar die Mehrheit hält
und angesichts der griechischen Rechtslage
wäre das sogar durch einen einfachen
Parlamentsbeschluss möglich gewesen und ist es
immer noch.
Das heißt in Summe, die Regierung
Tsipras hatte also – zumindest eine lange
Zeit über – durchaus andere Optionen als
klein beizugeben, hat sie aber schlicht
nicht vorbereitet, stark gemacht, ausgebaut
und genutzt? Tat sie das absichtlich oder
wie schätzt Du das ein?
Versteh mich nicht falsch. Alexis Tsipras ist
durch und durch ein Gewächs der radikalen
Linken. Er ist im roten Stadtteil Exarchia
aufgewachsen. Er war als Jugendlicher bei der
Kommunistischen Jugendorganisation. Er hat in
Genua 2001 im Tränengasnebel gestanden. Und er
hat ein Leben lang daran gearbeitet, die Linke
in Griechenland aufzubauen. Insofern ist er
auch kein Feind, sondern eher vergleichbar mit
einem Freund, der unter den Angriffen des
Feindes blutend zusammengebrochen ist. Oder
vielleicht mit einem, der unter der Folter
gestanden und die Namen seiner Freunde
preisgegeben hat.
Der Bericht von Varoufakis über die Zustände
in der Eurogruppe ist ja sehr aufschlussreich.
Wir sollten das wirklich an uns heranlassen,
mit welcher diktatorischen Struktur wir es da
zu tun haben. Das ist Mafiastyle und es gibt
kaum etwas, was ich ausschließen würde, auch
nicht persönliche Drohungen gegen Tsipras.
Er hat also sozusagen vor lauter Verzweiflung
Selbstmord begangen, denn sein politisches
Schicksal ist besiegelt, sobald ihn die
Oligarchen der EU und Griechenlands nicht mehr
benötigen. Dummerweise ist der Preis für
Millionen Griechen am Ende noch wesentlich
höher.
Was geschieht denn nun gerade in
Griechenland, nachdem eine „radikal linke
Regierung“ sich freiwillig einem Sozialabbau
nie geahnten Ausmaßes gefügt und
untergeordnet hat? Meinst Du, Tsipras und
Co. werden nun auch noch dem letzten, der
noch einen hat, den Gürtel wegnehmen, den er
gar nicht mehr enger schnallen kann, und
dann womöglich mit Polizei oder Militär
gegen Erwerbstätige und Arme vorgehen? Was
befürchtest Du?
Ein Aktivist aus Bangladesch, den wir in
Athen getroffen haben, hat uns erzählt, wie
die streikenden Textilarbeiter dort, aber auch
die starken Arbeiterbewegungen in Indien und
China mit glühenden Herzen nach Griechenland
schauen. In Bangladesch wissen die Leute
nämlich schon, wie ein Land aussieht, wenn die
Finanzterroristen fertig sind damit. Und
Griechenland droht jetzt genau das.
Am Tag nach unserer Abreise wurde die
Mehrwertsteuer auf einen Schlag um 10 Prozent
erhöht. Während wir sprechen, wird in Athen
ein 900-Seiten-Papier durchs Parlament gejagt,
das Kürzungen in allen erdenklichen Bereichen
beinhaltet. Die Troika fordert von Tsipras
außerdem massive Eingriffe ins Streikrecht.
Dass auf diesen ökonomischen und
gesellschaftlichen Terrormaßnahmen nie
dagewesener Ausmaße nun der Stempel „Syriza“
klebt, ist eine Katastrophe für die
griechische wie internationale Linke. Denn was
da beschlossen wird, widerspricht allem, wofür
Syriza gegründet und aufgebaut wurde, allem,
wofür das Volk Syriza gewählt hat. Diese
Beschlüsse treten das Parteiprogramm von
Thessaloniki und das Ergebnis des Referendums
in den Dreck.
Es wird deshalb zweifellos
Umgruppierungsprozesse geben in Griechenland.
Wie die aussehen, kann momentan niemand sagen.
Eine Spaltung von Syriza wäre tragisch. Aber
man darf die Einheit der Partei auch nicht zum
göttlichen Gesetz erheben. Ich denke,
innerhalb von Syriza kann sich nur eine Seite
durchsetzen, die Kluft ist zu groß. Und die
andere wird dann gehen müssen.
Tsipras selbst geht in diesem Fraktionskampf
übrigens mit maximaler Härte vor – und in
Koordination mit der Oligarchenpresse, die
Tsipras neuerdings feiert und die die
Syriza-Linke wüst diffamiert. Dass Tsipras
bereit ist, die Polizei oder auch die
Kampftruppen DELTA, die Syriza eigentlich
auflösen wollte, gegen die Gegner der neuen
Austerität einzusetzen, hat er bereits am
Abend der Abstimmung über das Memorandum
bewiesen. Denn da hat er genau das bereits
getan.
Und welche Optionen hat es Deiner
Meinung nach denn nun das griechische Volk?
In Griechenland wurde in den letzten Jahren
unglaublich gekämpft. Über 30 Generalstreiks,
die Bewegung der Platzbesetzungen und so
weiter. Da hat sich eine Führung an der Basis
entwickelt, Leute, die genau wissen, wie man
einen Streik, eine Demo, eine Besetzung
organisiert. Und bei der gigantischen
Jugendarbeitslosigkeit gibt es auch viele
Jugendliche, die sehr viel Zeit haben, zu
lesen und sich und andere zu organisieren.
Aber es gibt auch das Elend, den
kräftezehrenden Kampf ums tägliche Dasein und
ein riesiges Drogenproblem. Ich denke, die
Handlanger der Finanzterroristen fluten das
Land mit Absicht mit Unmengen an Drogen, um
den Willen der Bevölkerung zu brechen. Das ist
ein Klassiker und das kennen wir schon aus dem
Kampf gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung
in den USA, aus Südafrika und anderen Ländern.
Das ist jedenfalls das Ziel: die stärkste
Linke und die stärkste Arbeiter- und
Jugendbewegung in Europa gnadenlos zu brechen.
Es ist wie der Kampf Thatchers gegen die
Bergarbeitergewerkschaft National Union of
Mineworkers in den 80er Jahren. Wenn
Griechenland gefallen, ausgeplündert und
demoralisiert ist, geht es dem nächsten Land
an den Kragen. Man muss dieses Muster klar
erkennen.
Und was genau würdest Du im Moment
den Leuten in Griechenland empfehlen, die
nicht mehr bereit sind, noch mehr Elend zu
ertragen?
Ich empfehle von hier aus den Griechen erst
einmal gar nichts. Ich versuche, die Situation
zu analysieren und alles was ich bisher
erzählt habe, also vor allem die Kritik an
Tsipras, wird von vielen Griechen mit sehr
viel größerer Härte formuliert, als ich das
hier getan habe.
Ansonsten müssen wir uns fragen, was wir
selber zu tun haben in dieser Lage.
Griechenland ist im Moment das entscheidende
Schlachtfeld im weltweiten Krieg um
Gerechtigkeit und Demokratie.
Das kann speziell für uns hier in Deutschland
nur bedeuten, dass wir den griechischen Kampf
zu unserem eigenen machen müssen. Dass wir
Solidarität organisieren müssen. Echte,
praktische Solidarität und nicht nur
irgendwelche Likes auf Facebook.
KenFM beispielsweise hat bereits 100.000 Euro
für medizinische Nothilfe gesammelt. Und ich
versuche, Solid und den SDS zu überzeugen,
dass sie Geld sammeln, um 100 Megaphone für
sozialistische Jugendorganisationen zu kaufen,
um damit die Stimme der rebellischen
griechischen Jugend ganz praktisch zu
verstärken. Ich rede auch mit Künstlern, dass
wir für nach Griechenland fahren, um dort für
die Leute auf der Straße zu spielen. Aber wir
sollten auch noch mehr griechische Künstler
und Aktivisten nach Deutschland holen. Denn
das Niveau der Debatte dort kannst Du mit dem
ewigen Mobbing in Deutschland nicht
vergleichen. Wir können unendlich viel von den
griechischen Aktivisten lernen.
Solidarität bedeutet aber auch, der
Griechenlandhetze der deutschen Medien etwas
entgegenzusetzen und die Angriffe der
Bundesregierung auf Griechenland wütend zu
bekämpfen. Wir sind es den Griechen schuldig,
dass wir hier nicht bei einer lendenlahmen
Pseudosolidarität stehen bleiben. Ich finde,
dass die LINKE das im Bundestag sehr
ordentlich macht zur Zeit. Das ist gut und
wichtig. Aber auch die LINKE sitzt in der
strategischen Falle, wenn wir uns nicht
endlich von den Illusionen verabschieden, die
viele immer noch über den Charakter der
Europäischen Union haben.
…das meint?
Dass wir die Konsequenzen ziehen müssen aus
dem, was wir jetzt über die EU erkannt haben.
Schau, wo war denn eigentlich das
Europaparlament in dieser ganzen griechischen
Tragödie? Das wird alles innerhalb einer
sogenannten „Eurogruppe“ abgewickelt, die
keiner gewählt hat und die es offiziell gar
nicht gibt! Aber das Parlament hat
währenddessen immerhin in einer Nacht- und
Nebelaktion für TTIP gestimmt. Und das nennen
Sie dann „soziales Europa“ oder gar
„Demokratie“.
Ich jedenfalls werde bei der nächsten Wahl
zum Europaparlament zum ersten Mal in meinem
Leben ungültig wählen. Und wäre ich Engländer,
würde ich beim kommenden Referendum auf jeden
Fall gegen die EU-Mitgliedschaft stimmen, so
wie das auch Tariq Ali, Owen Jones und andere
jetzt fordern. Denn diese EU, das ist ein
Völkerknast. Und der Euro ist die ökonomische
Peitsche, mit der man uns in die Zellen
treibt.
Noch ein letztes Wort?
Ja.
Als mich ein junger Aktivist in Griechenland
mit hoffnungsfrohen Augen über unsere Kämpfe
in Deutschland ausfragen wollte, musste ich
heulen vor Scham. Denn die Wahrheit ist, dass
die deutsche Linke mehrheitlich überhaupt
nicht mehr kämpft. Schon gar nicht für
Griechenland, wobei ich damit natürlich nicht
jeden und alles meine. Aber ein relevanter
Teil von uns verliert sich in absurden,
praxisfernen Scheindebatten, etwa darüber, ob
man für Tsipras das Wort „Verräter“ sagen darf
oder nicht, so als ob das irgendwie eine
Bedeutung hätte.
Das ist unfassbar kindisch und unernsthaft.
Aber ich bemerke, dass sich eine gewisse
Bewegung abzeichnet. Viele merken allmählich,
dass wir uns von einer labernden, zynischen
Pseudolinken verabschieden müssen, wenn wir
auf einen grünen Zweig kommen wollen. Deshalb
sollten die, die an Veränderung von unten und
an die Selbstorganisation der Menschen
glauben, sich zusammentun und gemeinsam nach
vorne gehen. Aktivisten beweisen sich in ihrer
Praxis. Und Griechenland braucht dringend
handfeste, praktische Solidarität. Und die
deutsche Regierung braucht handfesten, aktiven
Widerstand. Auch dringend.
Vielen Dank für das Gespräch.
Florian Ernst Kirner
alias Prinz Chaos II.
arbeitet als Kabarettist, Liedermacher und Blogger. Er ist seit
seiner frühen Jugend politisch aktiv, vor
allem in den Bereichen Antifaschismus,
Friedensbewegung und internationale
Solidarität. 2013 verfasste er mit
Konstantin Wecker den „Aufruf zur Revolte„.
Er lebt in Südthüringen, wo er auf Schloss
Weitersroda ein Kultur- und
Gemeinschaftsprojekt entwickelt.>
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