Chinas Zentralregierung greift direkt in
das Krisenmanagement der verheerenden Explosionskatastrophe
von Tianjin ein, die in der
Bevölkerung anhaltende Ängste vor einem
Chemiegift-GAU geweckt hat. Peking ist mit
Tianjin unzufrieden. Fünf Tage nach dem
Unglück, dessen Opferzahlen am Montag auf
114 Tote und 70 Vermisste korrigiert
wurden, hatten die Behörden die chaotische
Lage im Gefahrgutlager und Frachthafen
noch nicht im Griff. Aus dem benachbarten
Peking und aus dem Bezirk Tianxin sind
tausende auf Bekämpfung von Chemiewaffen
spezialisierte Soldaten und Feuerwehren
zur Hilfe mobilisiert worden.
Umweltwissenschafter gaben am Montag
Entwarnung für die angeblich nicht
gefährliche, chemische Belastung von Luft,
Wasserboden und auch des Meerwassers vor
dem Hafen. Rund zwei Dutzend Messtationen
seien rund um die Uhr im Dienst. Die
Angaben stießen auf weitverbreitete
Skepsis und Unglauben nicht nur bei
Mikrobloggern im Netz, sondern auch in der
Bevölkerung. Ein Grund dafür waren neben
dem Vertrauensverlust in die Behörden
kleine erneut am Morgen ausbrechende
Brände und Detonationen. Inzwischen sei es
gelungen, den Radius der akuten
Gefahrenzone um die Chemikalien von drei
auf einen Kilometer einzuengen, hieß es
auf einer Pressekonferenz.
Suche nach Natriumcyanid
Armeespezialisten kämpfen darum, die dort
lagernden 18 verschiedenen gefährlichen
Stoffe zu lokalisieren, darunter auch die
auf zwei Stellen verteilten 700 Tonnen
Natriumcyanid. Im Fall der beschädigten
Container würde der hochgiftige Stoff mit
ein Meter hohen Wällen eingedämmt und mit
chemischen Gegenmitteln neutralisiert.
Intakte Behälter würden zum Hersteller der
Chemikalie zurücktransportiert. Das größte
Problem sei, die Giftstoffe zu finden. Sie
würden zwischen tausenden größtenteils
leeren und von der Explosion über den
Hafen geschleuderten Containern liegen.
Die Inkompetenz der lokalen Behörden, die
Verzögerung von Nachrichten und die
Behinderung von Journalisten haben Peking
alarmiert, weil sie den Vertrauensverlust
bei der Bevölkerung erhöhten. Zugleich
leidet das Image der Volksrepublik im
Ausland. Weltweite Schlagzeilen machten
die spontanen Proteste von Angehörigen
vermisster Feuerwehrhelfer, die keine
Antwort auf ihre Fragen bekamen, oder von
obdachlos gewordenen Betroffenen, deren
Wohnungen zerstört wurden.
Premier in Tianjin
Premier Li Keqiang eilte Sonntag selbst
zum Unfallort. Er kritisierte öffentlich
die "mangelnde Ausübung von Amtspflichten,
Inkompetenz und kriminellen Verstoß gegen
Vorschriften" und verlangte nach einer
transparenten Untersuchung, wer die
Verantwortung dafür trägt: "Wir haben uns
vor den Angehörigen der Verstorbenen, vor
der Bevölkerung von Tianjin, des Landes
und vor der Geschichte zu rechtfertigen."
Li verlangte als Erstes, "Luft-, Wasser-
und Bodenmessungen akkurat durchzuführen
und die Ergebnisse der Bevölkerung offen
und rechtzeitig mitzuteilen, ohne
Informationen zurückzuhalten".
Die "Volkszeitung", das offizielle
Sprachrohr der Parteizentrale, sekundierte
am Montag dem Premier: Alle Menschen,
besonders die Angehörigen der Opfer,
hätten "ein Recht darauf, Bescheid zu
wissen". Auf ihrer Kommentarseite
verlangte sie: "Wir müssen die Bewältigung
des Unfalls offen und transparent angehen
und entschieden alte Ansichten und
Methoden ändern, die den heutigen
Verfahrensweisen nicht mehr entsprechen."
Ziel sei es, eine "Gemeinschaft des
Vertrauens" aufzubauen.
Spekulationen über Korruption und
Seilschaften
In Anspielung auf vermutete Korruption
oder auf Spekulationen, dass hohe
Funktionäre als Hintermänner illegale
Machenschaften deckten, warnte die
"Volkszeitung": Peking verlange Aufklärung
ohne jegliche Rücksichtnahme: "Das ZK
selbst hat große Fälle von Korruption an
allerhöchster Stelle öffentlich von Anfang
bis Ende aufklären lassen, ob es sich um
Zhou Yongkang ( Ex-ZK-Polizeichef), Xu
Caihou und Guo Boxiang (Ex-Vizearmeechefs
und Generäle) oder Ling Jihua
(Ex-ZK-Büroleiter) handelte." Weshalb
sollte es bei der Aufklärung eines Unfall
bei der Arbeitssicherheit notwendig sein,
sich "zurückzuhalten oder etwas zu
verbergen"? Rhetorisch fragte die
"Volkszeitung": Wie könnte das etwa aus
Rücksichtnahme auf politische Seilschaften
geschehen?
Tägliche Pressekonferenz im Fernsehen
Pekings Intervention, darunter die
zweimalige Aufforderung von Parteichef Xi
Jinping, die Ursachen der Katastrophe
herauszufinden, zeigen Wirkung. Am Montag
wurde die tägliche Pressekonferenz aus
Tianjin landesweit im Fernsehen
übertragen. Auch das Problem der
Feuerwehrleute kam zur Sprache. Premier Li
hatte bei seinem Besuch ein Ende des
diskriminierenden Umgangs mit den
Brandschutzgruppen des Hafens gefordert,
die als "Feuerwehraushilfen mit
Zeitverträgen" anders als reguläre
Feuerwehren wie "Arbeiter zweiter Klasse"
behandelt werden. Als Li von einem
Hongkonger Reporter spontan dazu befragt
wurde, nutzte er die
Gelegenheit, um öffentlich seinen
Standpunkt zu benennen.
Viele Feuerbekämpfer seien bei dem
Unglück gestorben. "Sie sind alle Helden.
Helden unterscheiden wir nicht nach
regulär oder nicht-regulär." Li, der sich
vor einer Gruppe von Feuerwehrleuten
zeremoniell für die befürchteten 100 Toten
aus ihren Reihen verneigte, von denen die
meisten Vertragsarbeiter sind, verlangte
Gleichbehandlung für alle Opfer, ob bei
den posthumen Ehrungen bis hin zur
Entschädigung ihrer Angehörigen.
Leben neben einem "Vulkan"
Auch Pekings Generalstaatsanwaltschaft
bezog inzwischen Quartier in Tianjin. Eine
Aufgabe ihrer Ermittlungen beschrieb die
Hauszeitung "Zhongguo Jijianjianchabao"
der Obersten Disziplinkontrollbehörde der
Partei. Die Industrietragödie bringe die
"Schlupflöcher bei der Umsetzung unserer
Gesetze, bei Stadtplanung und Überwachung"
zum Vorschein. So wohnten etwa mehr als
zehntausend Menschen in dem Frachthafen –
ohne es zu wissen – neben einer Zeitbombe.
5.600 Haushalte lebten innerhalb einer
1.000-Meter-Verbotszone für alle
Ansiedelungen um das Gefahrengutlager.
Bis zum tragischen Moment, als die
Chemikalien vergangene Woche explodierten
und alle Wohnhäuser im Umkreis zerstörten,
hatten "weder die Bauträger noch die
Bewohner gewusst, dass sie neben einem
Vulkan lebten. Die lodernden Flammen
verschlangen nicht nur Leben und Eigentum,
sondern auch unser Gefühl für Sicherheit."
(Johnny Erling aus Peking, 17.8.2015)>
Kommentar: Grosses Gefahrengutlager neben
Industriezone=Selbstmordkommando
Ein Gefahrengutlager dieser Grösse neben
einer Industriezone zu tolerieren ist
natürlich ein Selbstmordkommando. Chinas
Kultur ist bis heute nicht fähig, ehrlich
über Gefahren zu diskutieren - ganz Asien
nicht.
Michael Palomino, 17.8.2015