Kriminelle
Schweinz in St. Gallen 1969:
Schulausschluss durch Terror-Lehrer
wegen Dreieck-Liebesbeziehung:
Schulausschluss wegen Liebe
1969 beschäftigt ein Liebespaar Rektorat
und Lehrerschaft des St. Galler Gymnasiums
am Burggraben. Sie kommen zum Schluss: Es
droht ein Flächenbrand der freien Liebe.
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/schulausschluss-wegen-liebe/story/31189362
<Sie war damals 19 Jahre alt. Ein
Monat fehlte bis zur Volljährigkeit, ein
gutes halbes Jahr bis zur Matura. Jetzt
ist sie 66, Heilpraktikerin in einer
mittelgrossen Schweizer Stadt. «Die
Ereignisse damals gingen mir sehr nahe»,
sagt Julia*, barfuss an ihrem
Küchentisch sitzend, vor uns ein
Kräutertee und eine hausgemachte
Fruchtwähe. «Ich war wie gefroren. Von
einem Moment auf den anderen war nichts
mehr wie zuvor.» Sie ging erst für drei
Monate nach Neuenburg für ein Praktikum
in einer psychiatrischen Klinik, danach
lebte sie in der Familie ihres Onkels in
Basel und machte die Matura dort. «Das
war eine harte Zeit, aber sie hat mir
geholfen, herauszufinden, was ich im
Leben will.»
[Offene Archive, nachdem die
Terror-Lehrer gestorben sind]
Jetzt sind die Archivquellen offen, und
die Zeitzeugen erinnern sich. Julia war
die Hauptbeteiligte in einem Konflikt,
der die Kantonsschule am Burggraben in
St. Gallen 1969/70 erschütterte. Die
Maturandin hatte sich in den neuen
Klassenkameraden Martin* verliebt und
seinetwegen ihren Freund Adrian* aus
derselben Klasse 6ga verlassen. Die
Griechischklasse war der Stolz der über
hundertjährigen Kantonsschule, ein
Dreiecksverhältnis in dieser Elite nicht
vorgesehen.
In der Folge beugten sich erst Rektor
und Abteilungsvorstand, dann die
Klassenlehrer, danach die
Rektoratskommission, dann der
Lehrerkonvent und schliesslich die ganze
Stadt und die halbe Schweiz über diese
Beziehung zwischen 18- und 19-Jährigen.
Zur Unterstützung der Betroffenen
bildete sich an der Schule
die «Aktion Rotes Herz», ihr
Sprecher war der heutige Zürcher Kinder-
und Jugendpsychologe Matthias Federer.
Zahlreiche Studenten an der Hochschule
St. Gallen solidarisierten sich, unter
ihnen der Verfasser dieses Textes.
«Mit Sex fängt man Mäuse»
Es ist das Jahr nach dem Mai 1968.
Konrad Hummler, der spätere
Wegelin-Privatbanker, ist Schüler in der
Klasse 4ga. Er hat eben seine Schwester
an der bewegten Pariser Sorbonne besucht
und sieht den Protest auf die Ostschweiz
zukommen. Im November wird ein
Zivilverteidigungsbüchlein an alle
Haushalte verteilt – es rät zur
Wachsamkeit gegen den inneren Feind. Er
kann demnach jederzeit in allen
Gestalten auftauchen und jedes Thema zur
politischen Agitation benutzen. «Mit Sex
fängt man Mäuse» heisst es damals.
[Teach-ins - Friedenspolitik gegen
konservatives Kriegs-Bürgertum in St.
Gallen]
St. Gallen erlebt die ersten «Teach-ins»
in seiner Geschichte, wie die Schüler
und Studenten ihre Informationsabende
nennen. Dafür mieten sie Säle in den
gutbürgerlichen Restaurants, und die
sind proppenvoll. Der deutsche
Sexualforscher Martin Dannecker, damals
auf der Durchreise, solidarisiert sich
namens des Sozialistischen Deutschen
Studentenbundes und ruft die St. Galler
Schüler in der Manier von Che Guevara zu
15, 20 Sexskandalen auf, «so beweist ihr
aktive Solidarität». Die St. Galler
Polizei will erst einschreiten, sieht
aber schliesslich davon ab, weil die
Anstiftung erst strafbar wird, wenn ein
Schüler den Rat umsetzt.
Dannecker ist später als Professor für
Sexualwissenschaft und Therapeut in
Frankfurt und Berlin tätig. An den
Ausschluss der beiden Maturanden in St.
Gallen und den Protest dagegen erinnert
er sich lebhaft: «Das konservative
Bürgertum fürchtete damals ähnlich wie
ein Teil des Islam bis heute, dass eine
befreite Sexualität zur unbegrenzten
Triebhaftigkeit führen werde. Die
Menschen sind aber durchaus fähig, ihre
Sexualität in die ihnen gemässen Bahnen
zu lenken. Ich stehe bis heute
unverdrossen aufseiten einer von
restriktiven Eingriffen freien
Sexualität», sagt der 73-Jährige.
Für Julia ist es eine freie
Liebesbeziehung im Geiste der damaligen
Zeit. «Martin spielte wunderbar
Gitarre», erinnert sie sich, «Lieder von
Donovan, Bob Dylan und anderen.» Am
schönsten spielte er «Le déserteur», das
Antikriegslied von Boris Vian. Es ist
die Zeit von Flower-Power, zuoberst in
der Hitparade steht «Come Together» von
den Beatles: «One thing, I can tell you,
is: You got to be free.» «Martin und ich
waren fasziniert vom freien Leben, ich
selber war beeindruckt nach Besuchen mit
meiner Familie im Atelier eines
befreundeten Künstlers – so wollte ich
leben.»
Anfänglich versteht niemand, warum sie
ihre alte Beziehung für Martin aufgibt,
aber der neue Freund entspricht dem
freien Lebensentwurf weit mehr als der
alte. Er ist mit der Zigarette im
Mundwinkel «leger» drauf, heute würde
man «cool» sagen. Sie haben zusammen
eine schöne Liebesgeschichte, die sie
auch nach aussen zeigen. Einmal tauschen
sie die Hemden, Martin kommt in ihrem
Hemd zur Schule, sie in seinem.
Adrian leidet unter der neuen
Beziehung, die seine Freundin
eingegangen ist, mit einem
Klassenkameraden und Burschen aus
derselben Mittelschulverbindung dazu.
Julia ist seine Couleurdame, als Zeichen
der Verbindlichkeit hat er sich den
Verbindungsschnörkel auf den Hut sticken
lassen – ein Statuswechsel, so offiziell
wie dereinst auf Facebook. Fux major in
dieser Mittelschulverbindung ist der
spätere Nationalrat und Datenschützer
Hanspeter Thür: «Ich war in dieser Rolle
eine Art Vater. Aber ich konnte mich
nicht einschalten, denn ich hatte nach
der Matura St. Gallen verlassen.»
Dafür schalten sich andere ein. Adrian
empfängt anonyme Telefonanrufe, in denen
sich der Anrufer als Lehrer der Schule
ausgibt und ihm mitteilt, dass er die
Sache vor den Lehrerkonvent bringe. In
der Folge stellt der Abteilungsvorstand
für alte Sprachen Martin zur Rede. Der
berichtet ihm freimütig, dass er mehrere
Male bei Julia übernachtet habe. «Er sah
nichts dabei und war immer offen und
direkt», sagt Julia. Aber der
Abteilungsvorstand wertet dies als
Beichte und den Fall für umso
gravierender, als sich danach
herausstellt, dass Julias Mutter die
beiden einmal «in flagranti» erwischt
hat. Julia, die einen langen Anfahrtsweg
zur Schule hatte, hat kurz vor ihrer
Volljährigkeit in St. Gallen ein Zimmer
gemietet und soll der Mutter dabei
versprochen haben, Martin nicht aufs
Zimmer zu nehmen. «Das stimmt nicht»,
sagt sie heute, «ich habe ihr bloss
nicht davon erzählt.»
Ausbrennen, bevor es richtig brennt
- [Strafantrag wegen Liebe (!) -
Rektor als Spitzel für den
Spezialdienst der St. Galler
Kantonspolizei (!)]
In der zweiten Dezemberwoche tagen die
neun Lehrer der Klasse mit dem Rektor,
um einen Strafantrag zu stellen: «Wenn
wir jetzt nichts tun, können wir nie
mehr etwas tun», sagt der
Französischlehrer, denn nun wird die
Sache publik. «Die Sache mit Adrian sei
am Abklingen», weiss ein anderer Lehrer.
«Die Eltern haben die Schuld, und wir
sollen die Sache ausfressen», beklagt
ein nächster. «Martin verkehrt im Corso,
er scheint Geld zu haben», weiss ein
Vierter. Der Rektor, Historiker und
nebenbei hoher Armeeoffizier, empfiehlt
«Ausbrennen», bevor das Feuer richtig
brennt. «Sonst ist die Schulgemeinschaft
gefährdet. Dies ist keine neue Moral,
sondern die Piraterie des Stärkeren.»
Der Rektor steht im Kontakt mit dem
Spezialdienst der St. Galler
Kantonspolizei. Dieser Dienst beobachtet
seit der 1.-Mai-Demonstration und einer
Kundgebung gegen den Vietnamkrieg kurz
vor Weihnachten 1969 jeden Schritt zur
Bildung einer Protestbewegung unter
Schülern und Studenten in St. Gallen.
Der junge Kantonsschullehrer Rolf Dubs,
freisinnig wie der Rektor, sichert der
politischen Polizei zu, sie zu
informieren, «sollte sich irgendetwas
tun». Dubs, später Rektor der Hochschule
und innovativer Wirtschaftspädagoge,
sagt heute dazu, er habe sich Sorgen
gemacht, denn es habe ähnliche Fälle an
ausländischen Schulen gegeben, die zu
grosser Unruhe geführt hätten.
[Terror-Lehrer von St. Gallen setzen
Eltern unter Druck, die
Jung-Erwachsenen von der Schule zu
nehmen]
Die Lehrer der Klasse 6ga beantragen
schliesslich mit 7:2 Gegenstimmen, den
Eltern von Julia und Martin dringlich
nahezulegen, ihre Kinder von der Schule
zu nehmen. Dieses sogenannte Consilium
abeundi, der Rat wegzugehen, wird in der
folgenden Woche von der
Rektoratskommission beschlossen. «Der
Rektor sprach gerade mal eine
Viertelstunde mit mir», erinnert sich
Julia, «sein Ton war verächtlich.» Die
beiden Elternpaare entscheiden sich vor
Weihnachten, ihre Kinder von der Schule
zu nehmen. Der Vater von Martin
widerruft später sein Einverständnis,
weil er vom Entscheid überrumpelt worden
sei. Sein Sohn hat aber zuvor die Schule
schon verlassen. Gegen Adrian
beschliessen die Lehrer die weniger
strenge Massnahme des Ultimatums, es
führt erst bei einem weiteren Verstoss
gegen die Schulordnung zur Wegweisung.
«Die Schulleitung drückte mit dem
Consilium abeundi den beiden Mitschülern
den Schierlingsbecher in die Hand»,
erinnert sich Klassenkamerad Matthias
Federer. «Trinken mussten sie wie
Sokrates selber.» In den
Weihnachtsferien beschliesst eine Gruppe
von acht Schülern und einer Schülerin,
sich gegen den faktischen Ausschluss zu
wehren, unter ihnen drei Mitschüler aus
derselben Klasse. Am ersten Schultag im
neuen Jahr verteilt die Gruppe Aktion
Rotes Herz ein Flugblatt an die
Kantonsschüler, in dem sie sich über die
«puritanische Vorgehensweise» und «die
autoritäre Anmassung der Schulleitung»
empört: «Wir haben nämlich die
Überzeugung, dass es eine persönliche
Intimsphäre jedes einzelnen Schülers
gibt, in welche sich die Schulleitung
nicht einzumischen hat.» Sie fordert
eine offene Diskussion mit der
Schulleitung und ermuntert die Schüler,
als sichtbares Zeichen der Unterstützung
einen Protestknopf zu tragen und auf
jedes Klausurenblatt und die Wandtafel
ein Herz zu malen. Umrankt wird das
Flugblatt von Efeu mit herzförmigen
Blättern.
Noch am selben Tag werden die neun
Unterzeichner aus ihren Klassen geholt
und müssen einen Fragebogen beantworten.
Er ist eilig auf Schnapsmatrize erstellt
worden und soll mittels sieben Fragen
ermitteln, wer Rädelsführer dieser
Aktion war, etwa: «Durch wen wurden Sie
über den Straffall orientiert?» «Haben
Sie bei der Abfassung der Aktion Rotes
Herz mitgearbeitet?»
Als das Medienecho schon gross ist,
wird ein Lehrerkonvent einberufen. Die
Konferenz tagt insgesamt 7½ Stunden und
bestätigt mit klarer Mehrheit die
Schulausschlüsse. Nicht mehr das
Liebesverhältnis ist jetzt
Ausschlussgrund, sondern die «besondere
Art der Beziehung und die gravierenden
Nebenumstände» («Lügenhaftigkeit»,
«Verwahrlosung», «Frechheit»). Gegen
Julia wird zusätzlich angeführt, dass
sie Martin einmal sogar aufgefordert
habe, in ihr Zimmer zu kommen. Sie habe
ihm Geld gegeben und diese Auslage
gegenüber der Mutter mit höheren
Anschaffungskosten für Bücher begründet.
«Die Schule hat den Erziehungsauftrag,
Schüler vor der Gefahr einer Verführung
möglichst zu schützen», bringt der
Abteilungsvorstand Biologie die Stimmung
auf den Punkt. Gerade mal zehn Lehrer
sind gegenteiliger Meinung, einer
plädiert für ein gelassen-sachliches
Vorgehen, bleibt aber allein. Den Ton
geben Hardliner an, unter ihnen ein
Deutschlehrer, der davor warnt, auf die
Herausforderung «den Vornehmen zu
spielen»; er plädiert dafür, «mit
präzisen Schlägen zu parieren».
Nestrovit zum Frühstück
Der Lehrerkonvent billigt auch die
zweithärteste Strafe des Ultimatums,
gegen acht Mitschüler. Gegen Matthias
Federer, den man als Rädelsführer der
Aktion Rotes Herz sieht, soll das
Consilium abeundi ausgesprochen werden.
Die Eltern der betroffenen Schüler
werden zur Information in die Schule
bestellt. Federer sagt, seine Eltern
seien erst erschrocken, hätten ihn aber
dann im Kampf um die Familienehre
unterstützt: «Meine Mutter gab mir in
jener Zeit zu jedem Frühstück zusätzlich
ein Nestrovit, um mich zu stärken.»
Gegen die Sanktionen erheben die Eltern
Rekurs bei der Erziehungsdirektion.
Diese setzt einen dreiköpfigen
Untersuchungsausschuss ein.
«Rädelsführer» Federer wird in jener
Zeit mehrfach vor den Rektor zitiert.
«Der Rektor empfand es als Anmassung,
dass ich als 18-jähriger Schüler mit ihm
auf Augenhöhe sprechen wollte», sagt
Federer, «es muss für ihn deshalb eine
Kränkung gewesen sein, als sich der
Erziehungsrat nicht bedingungslos hinter
ihn stellte, sondern ihn für die
Untersuchung vorlud wie uns.»
Schliesslich hebt der Erziehungsrat die
scharfen Strafen gegen alle neun
Unterzeichner auf und wandelt sie in
Verweise um – die schwächste aller
vorgesehenen Strafen, die noch vor der
Strafaufgabe steht. Die Aufsichtsbehörde
hält auch das Consilium abeundi gegen
Julia für nicht gerechtfertigt.
Federer erinnert sich, dass der Rektor
beim letzten Gespräch unter vier Augen
dem Zusammenbruch nahe war: «Er brach in
Tränen aus. Ich musste ihm versprechen,
darüber niemandem zu erzählen, und habe
dieses Versprechen bis über seinen Tod
hinaus gehalten, genau genommen bis zum
letzten Dezember, als ich für das
‹Neujahrsblatt des Historischen Vereins›
zur Aktion befragt wurde.» In der
Zwischenzeit hat er die Quellen im
Staatsarchiv studiert, wo dieser Vorfall
in der Einvernahme durch den
Erziehungsrat Erwähnung findet. Federer
ist bis heute beeindruckt, wie ihn die
drei Herren der Untersuchungskommission
ernst genommen hätten, und hält dies für
«typisch schweizerisch», weil so
Konflikte weniger hart enden als
anderswo. Der Rektor seinerseits zeigt
in der Jubiläumsschrift der St. Galler
Kantonsschule am Burggraben 1981
ebenfalls Verständnis für den Entscheid
des Erziehungsrates, der ein Urteil «aus
ruhiger und neutraler Distanz gefällt»
habe.
In der späteren Jubiläumsschrift 2006
ist von der Selbstkritik allerdings
nichts mehr zu spüren. Geschichtslehrer
Daniel Baumann stellt den Protest gegen
den Ausschluss von Julia und Martin dar
als Resultat von lügnerischer Agitation
und Aufbauschung durch eine
sensationshungrige Presse gegen eine
verantwortungsbewusste Schulleitung.
Dabei wiederholt er Anschuldigungen
gegen Unterzeichner der Aktion Rotes
Herz, die aufgrund der Quellenlage
bereits im Januar 1970 widerlegt waren.
Er habe geschrieben, «was man in einer
Festschrift erwartet hätte»,
rechtfertigt er sich gegenüber Federer,
als Historiker sei er auf diesen Beitrag
nicht stolz. Stolz kann Baumann auch
darüber nicht sein, dass er einzelne
Passagen über die damaligen Ereignisse
ohne Quellenangabe und Kennzeichnung als
Zitat aus einem Beitrag des
«Beobachters» übernommen hat – ein
«unschönes Versäumnis», wie er heute
einräumt.
Hummler notiert Autonummern - [die
Bespietzelung der Gruppe "Aktion Rotes
Herz" - wegen Liebe (!)]
Konrad Hummler, später unter
Strafandrohung in den USA wegen Beihilfe
zur Steuerflucht zum Verkauf seiner
Privatbank gezwungen, verfasst mit fünf
Mitschülern einen Bericht über die
Aktion Rotes Herz an den Erziehungsrat.
Sie nennen alle Beteiligten, teilweise
mit Autonummern. Für Federer, der das
Dokument 2016 im St . Galler
Kantonsarchiv findet, eine
«Denunziation». Hummler wird danach
erster Präsident eines neuen
Schülerrats: «Ich nahm in hummlerscher
Manier diesen Konflikt zum Anlass für
Mitbestimmung.» Zum Thema Sexualität
fordert er zusammen mit zwei Mitschülern
mehr Aufklärung durch Ärzte und
Theologen in den Schulklassen und an
Elternabenden. Rolf Dubs, der damals für
die Sanktionen gegen die beteiligten
Schüler der Aktion Rotes Herz stimmte,
sieht das Verhalten der Schulleitung
heute kritisch. «Der ansonsten gute
Rektor hat in diesem Fall überreagiert.
Es war ein Fehler, dass er sagte, es sei
viel Schlimmes passiert, aber er könne
nicht darüber reden.» Man hätte die
beiden aufgrund solcher Verdächtigungen
nicht ausschliessen dürfen. Das spricht
aus seiner Sicht nicht für ein
Vertrauensverhältnis an der Schule.
[Die "Gutachten"]
Julia und Martin lassen sich nach dem
Schulausschluss auf Initiative der
Eltern von Julia psychiatrisch
begutachten. Julia hat das Gutachten
kürzlich einsehen können. David
Kirchgraber, Direktor der Klinik
Herisau, kommt darin zum Schluss, dass
sie beide keinesfalls «haltschwach» oder
gar «verdorben» seien. «Man sieht in
diesem Alter nach meiner Erfahrung viel
mehr oberflächliche Bindungen als
derartige Versuche, zu einer festen und
zugleich freien Zweisamkeit zu
gelangen», schreibt Kirchgraber im
Gutachten. «Ich wünschte, ich könnte so
offen auf Menschen zugehen», sagt Julia
und wollte ihm dafür danken. Aber der
ehemalige Klinikleiter von Herisau ist
kurz davor verstorben.
[Heilpraktikerschule München und
Etnologie in Freiburg (CH) - tragische
Trennungen und Nie-mehr-Wiedersehen]
Zwei Jahre bleiben Julia und Martin ein
Paar. Julia besucht nach der Matura die
Heilpraktikerschule in München und lässt
sich zur Naturärztin mit Schwerpunkt
Akupunktur ausbilden. Sie bevorzugt die
japanische Methode mit den feineren
Nadeln. Bis 1986 bleibt es schwierig,
diese Therapie in der Schweiz zu
praktizieren, danach wird die
Gesetzgebung liberaler. Während zehn
Jahren ist sie im medizinisch
unterversorgten mexikanischen Grenzort
Nogales als Heiltherapeutin tätig.
Martin und sie bleiben zeitlebens von
fremden Kulturen fasziniert. Er studiert
Ethnologie in Freiburg und betreut
später afghanische Flüchtlinge in der
pakistanischen Grenzstadt Peshawar. Nach
ihrer Rückkehr in die Schweiz teilt
Julia ihm Ende der Neunzigerjahre die
neue Adresse mit. Das Schreiben kommt
zurück mit dem Kleber «Décédé». Martin
war nach seiner Rückkehr in die Schweiz
bei einem Verkehrsunfall ums Leben
gekommen. Adrian stirbt nach kurzer,
schwerer Krankheit 2014. Er war in
Zürich als Laufbahnberater tätig, sie
hat ihn nach ihrem Schulausschluss nicht
mehr wiedergesehen.
Zu Martin hat Julia den Kontakt nie
verloren. Er habe sein Leben gelebt, wie
es für ihn stimmte. Ein letztes Mal sah
sie ihn in einer Diskussionsrunde am
Fernsehen zum Thema Flüchtlinge. Es fiel
ihr auf, dass er zwei verschiedene
Socken trug: «Das war ihm schon früher
egal.» Julia liebt es, im Morgengrauen
barfuss im Tau zu laufen. Diese
Liedstrophe von damals hat es ihr bis
heute angetan: «Unterm Pflaster liegt
der Strand. / Zieh die Schuhe aus, die
schon so lang dich drücken, / lieber
barfuss lauf, aber nicht auf ihren
Krücken.»
* Namen von der Redaktion geändert
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt:
26.08.2016, 23:24 Uhr)>