Vortrag von Michael Neuhaus November
1998; aus: Sablonier, Roger: Das Dorf im Übergang vom Hoch-
zum Spätmittelalter; In: Lutz, Fervste (Hrsg.):
Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. FS
für J.Fleckenstein, Sigmaringen 1984, S.727-745; In:
Mittelalterseminar von Peter Niederhäuser (Winterthur),
Universität Zürich 1998/1999.
Der Begriff "Verdorfung"
Unter dem Begriff "Dorf" versteht Sablonier einen lokalen
örtlich mehr oder weniger geschlossenen Siedlungsverband,
vorwiegend aus Bauern. Aus der fortgeschrittenen
Dorfentwicklung sei dann die Gemeinde entstanden. Bisher sei
der Begriff "Gemeinde" - und damit auch der Begriff "Dorf" -
vorwiegend rechts- und verfassungsgeschichtlich beschrieben.
Das Dorf sei aber mehr als ein Rechtsverband. Die
Dorfbewohner bilden zudem eine soziale Gruppierung, welche
politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Funkton
ausübe. Deshalb möchte Sablonier sich auf eine
sozialgeschichtliche Betrachtungsweise konzentrieren.
1. Strukturelle Veränderung des Dorfes
1.1. Veränderung der Siedlungsstruktur
Im Hochmittelalter findet eine Verdorfung statt. Vorher waren meist
Streusiedlungen ohne richtigen Dorfkern. Die Siedlungen
werden grösser und dichter. Damit ist auch eine stärkere
örtliche und regionale Fixierung verbunden.
Parallel und in enger Verbindung mit der Verdorfung (die
Bildung fixer Zentren) setzt der Prozess der Vergetreidung
ein [Züchtung von Getreiden mit zunehmender Körnerzahl], was
eine Intensivierung und Rationalisierung der Produktion
bedeutet.
Eine weitere beschleunigende Wirkung auf die Dorfbildung
hatte der Prozess der Verzelgung. Dabei
wurden Flurstücke zusammengefasst, eben zu "Zelgen". Diese
Zusammenfassung bedeutete eine weitere Rationalisierung des
Getreideanbaus. Dieses Flursystem forderte aber auch bessere
Organisation, was die Kooperation und gegenseitige
Abstimmung anbelangte.
1.2. Veränderung der Herrschaftsfunktion
Mit der Verzelgung verschiebt sich die
Wirtschaftsorganisation von der Herrschaft mehr auf den
Siedlungsverband. Das bedeutet eine neue Sozialordnung für
die Siedlungsverbände, eigene Organisationen.
den Herren bleibt also noch die Ausübung der Vogtei- und
Gerichtsrechte, welche sie versuchen auszudehnen
(Kompensation). Die Herren versuchen ihre Gerichtsrechte zu
territorialisieren (willkürliche Einteilung). Dabei wählen
sie von sich aus das Dorf als Gerichts- und Steuereinheit.
Mit dem Rückgang des herrschaftlichen Einflusses auf die
bäuerliche Wirtschaftsorganisation können sich die Bauern
besser zu einer arbeitsmässigen Einheit entwickeln. Eine
Emanzipation der bäuerlichen Familienwirtschaft findet
sozusagen statt.
Ab 1300 findet eine soziale Differenzierung der Bauernschaft
statt. Eine bäuerliche Oberschicht bildet sich, mit
Bauernrat, welche die Leitung der Beziehung zwischen Bauern
und Herren übernimmt. Aus der Führung dieser Oberschicht
resultiert eine Dorfverfestigung.
1.3. Veränderung im kulturell-mentalen Bereich:
Kirchen im Dorfzentrum
Der Siedlungsverband vermittelt verstärkt ein bestimmtes
Identitäts- und Gemeinschaftsbewusstsein. Es erfolgt ein
Wandel des Kulturbedürfnisses. Die Kirche wird zu einem
wichtigen Symbol des Dorfes. Zu einem kulturellen und
sozialen Zentralort wird auch der Friedhof.
Das Dorf wird vermehrt zum zentralen Ort bei Streitigkeiten.
Die politische Bedeutung des Dorfes hat zugenommen.
Nutzungsgenossenschaften regelten den dörflichen
Produktionsprozess kollektiv und wirkten am Dorfgericht mit.
Generell kann gesagt werden, dass gegen Ende des 13. Jh.s
eine deutliche Verfestigung des Dorfes sichtbar wird, das
Selbstbewusstsein des Dorfes grösser geworden ist, die
Selbstverwaltung zugenommen hat.
Vom 144. bis 16. Jh. übernimmt
das Dorf zunehmende auch staatliche Funktionen, ist somit
eine Institution, eine Gemeinde geworden.
2. Beziehungen zwischen Herren und Bauern
Die Verdorfung war am Anfang auch im Interesse der Herren,
da auch sie an der Rationalisierung und Intensivierung
interessiert waren und zudem besser kontrollierten konnten.
Der Übergang zu Rentenwirtschaft bedeutete für die Herren
aber doch eine Entwertung ihrer Grundherrschaft. Um ihren
Machtverlust zu kompensieren, versuchten sie ihre
Vogteirechte auszubauen. Allerdings mussten diese
Reorganisationsbemühungen zuerst einmal durchgesetzt werden.
Der Widerstand der Bauern war oft erfolgreich. Besonders der
alte Adel musste Einbussen an Macht und Prestige hinnehmen.
Bei kleineren Adligen brauchte es weniger
Durchsetzungsvermögen.
Die Konflikte zwischen den Herren und den Bauern und die
schlechte agrarische Situation beschleunigten ab 1250
scheinbar die Verfestigung des Dorfes. Die Dorfentwicklung
beginnt zunehmend an Eigendynamik zu gewinnen. Die Bauern
werden dabei von den Landesherren i Stich gelassen.
Zelgenwirtschaft
ist eine Form der Organisation auf
dörflicher Ebene. Das Dorf wird zum politischen
Aktionsverband. Das Dorf wird politisch mächtig, kann
Widerstand leisten.
Dreizelgenwirtschaft
sind gemeinsam bewirtschaftete Gebiete,
mit wenigen Wegen, kaum Zäune. Die Leute müssen über die
Felder gehen. Es erfolgt Rationalisierung und
Territorialisierung.
Dreifelderwirtschaft
Durch die Dreifelderwirtschaft mit einer Brache pro Jahr auf
einer der drei Parzellen steigt die Qualität des Bodens.
Der Versuch der Rechtsdurchsetzung: Gerichte und
neue Steuern - vergebliche Rebellion der Bauern gegen
Habsburger
durch Gerichtshoheit und neu auch durch Steuern, de nur von
Habsburgern durchgesetzt werden und pro Dorf im Kollektiv
erhoben werden. Die Steuern werden fr Kriege, für "Schutz
und Schirm", für Ruhe und "Ordnung" benutzt.
Die Bauern rebellieren gegen die neuen Steuern in corpore
gleich dorfweise und rebellieren nur bei den Habsburgern
erfolglos.
Die neuen Städte als "Goldgrube"
Jeder Marktort ist eine "Goldgrube", mit Extrazöllen, mit
Marktabgaben, die der Städtegründer einkassiert. Per Urkunde
wird ein Dorf als "Stadt" definiert und spezielle Rechte
verliehen, die aber nicht unbedingt einen grossen Umfang
haben müssen.
Im Mittelalter sind auf dem heutigen schweizer Gebiet ca.
250 Orte als "Stadt" definiert, die zum grossen Teil aber
kleiner waren als manche Dörfer.
Spätmittelalter: Ein Grossteil des Adels geht
zugrunde
-- durch Verarmung, weil die Abgaben der Bauern fehlen
-- Versuch, neue Rechte aufzubauen
-- z.T. stirbt der Adel aus
-- z.T. gehen die Adelsherren in fremde Dienste oder
verkaufen das eigene Gut.