Zusammenfassung und Vortrag
von Michael Palomino (1998); aus: Sablonier, Roger:
Schriftlichkeit, Adelsbesitz und adliges Handeln im 13.
Jahrhundert; In: Oexle, Otto Gerhard / Paravicini, Werner
(Hrsg.): Nobilitas. Adliges Verhalten. Vandenhoeck &
Ruprecht. Göttingen 1997; In: Mittelalterseminar 1998/1999
bei Peter Niederhäuser (Winterthur), Universität Zürich.
Quelleninterpretation:
Die
Problematik
der Übertragung des heutigen Rechtsverständnisses auf
die damaligen Verhältnisse
Je nach Epoche ändert sich das Rechtsverständnis. Die
Sinnbedeutung für die Begriffe kann radikal ändern. So
können Missverständnisse im Verständnis von Urkunden und
Texten auftreten, die z.B. aus dem Mittelalter stammen
(S.77).
Durch diese labilen Verhältnisse bei der Bedeutung von
Begriffen ergibt sich eine "vierte Dimension der
Quellenkritik".
Beispiel Leihe-Vereinbarung:
-- mit den erwähnten Personen können Institutionen oder
Personen gemeint sein, was den Sinn jeweils total verändern
würde (S.79).
-- so ergeben sich gegenseitige, veränderbare Abhängigkeiten
(S.80).
Bis ins Hochmittelalter existiert eine weitgehend orale
Gesellschaft, Die Schriftlichkeit wird erst im
Hochmittelalter so geläufig, dass Verträge normal beurkundet
werden. (S.80)
Soziokultureller Wandel durch die neue
Kulturtechnik "Schrift"
Die Schrift bringt Veränderungen der Normen, des sozialen
Umgangs und der Formen der Kommunikation (S.83).
Quellen: Zunahme des Schriftgutes im 13.
Jahrhunderts
Gleichzeitig entstehen neue Textsorten. Völlig neu ist
rechtsfunktional bestimmbares Schriftgut, Urkunden und
schriftliche Bestätigungen
oo bei städtischen Behörden
oo dabei existieren aber grosse
regionale, zeitliche und sachliche Unterschiede
oo Verbreitung neuer
Prozessverfahren
oo Vordringen der
bischöflich-konstantischen Gerichtsbarkeit
Insgesamt ist minutiöse Arbeit notwendig, wenn man aus
heutiger Sicht das jeweilige institutionelle Umfeld der
jeweiligen Epoche erfassen will (S.81,82).
Bedeutungswandel:
Beispiel von Besitztum, Vererbung und Schenkungen beim
Adel des MA
Besitz, Vererbung und Schenkung entsprach im Mittelalter
nicht denselben Handlungsweisen und denselben
Handlungszwecken wie heute (S.85).
Das Wort "Besitz" wird im MA des 12./13. Jh. anders
verstanden als heute. Eine "Verurkundung" wie im 15.
Jahrhundert gibt es im 13. Jh. noch
nicht. Die Wahrung von Besitz, Wahrnehmung von
Besitzansprüchen ist im 12./13. Jh. eher ein Frage von
Durchsetzung und Behauptung an Ort und Stelle und nicht
formalisierte bzw. schriftlich formalisierbare Rechtssache
(S.87).
Eine Herrschaftslegitimation z.B. wird im Mittelalter mehr
über Beziehungsnetze als über materiellen Besitzstand
gebildet. "Besitzurkunden" sind in erster Linie nicht
"Besitzbestätigungen", nicht einmal Ansprüche als materielle
Forderungen,
sondern müssen als Bemühungen zur Traditionsbildung
betrachtet werden.
Insofern sind "Besitzurkunden" im 12./13. Jh. eher der
Versuch, eine Tradition zu fixieren mit Bezug auf einen
bestimmten Legitimationsträger, mit einem bestimmten Stand,
Anerkennungsgrad etc.
Wegen der verschiedenen Interpretationen der
mittelalterlichen Urkunden stehen unter anderem heute noch
viele Besitzfragen offen [!].
Gewohnheit Stand durch Urkunde
Bestimmtes Besitztum dient der Bestätigung sozialen
Ranges. Ab der Schriftlichkeit ist nun auch eine Urkunde die
Bestätigung sozialer Qualifikation, die mit bestimmten
Gütern verbunden ist:
oo Güter, die als predium
libertatis oder als zugehörig zu einer bestimmten
Kirche gelten
oo Güter, die als ganz
bestimmte Lehen charakterisiert sind
oo Güter, die z.B. als
ehemalige Herzogsgüter von einer besonderen Herkunft zeugen
(S.87-88).
Schenkungsmotiv Schutzgebung und
Konfliktvermeidung
Stiftungen und Schenkungen dienen im Mittelalter im
Wesentlichen dazu, Besitz vor dem Zugriff feindlicher
Institutionen zu schützen. Zum Beispiel schützt sich der
Adel vor dem Zugriff der Kirche durch Geschenke und
umgekehrt (S.86).
Bei adligen Schenkungen und adligen Förderungstätigkeiten
spielen die politische Motive unbestreitbar eine wichtige
Rolle, mit Anstrengungen zur Friedenswahrung,
um Fehden und Konflikte der Adelsfamilien unter sich zu
unterbinden (S.89).
Schenkungen an unbeteiligte Dritte werden zum wichtigen Element von Strategien (S.90).
Grundsätzlich: Sablonier:
"Schenkungen waren mindestens solange von Bedeutung, als
sich nicht eine landesherrliche Macht imstande sah,
Friedenswahrung territorial zu beanspruchen und
gegebenenfalls mit militärischen Mitteln zu erzwingen."
(S.90).
Der Bedeutungswandel vom Mittelalter zu heute am
Beispiel der Schenkung:
Schenkung und Vererbung als Friedenssicherung - falsche
Geschichtsschreibung
Es handelt sich zwar um "Verdrängungspolitik,
gleichzeitig
stellten sie aber eine auf Friedenswahrung gerichtete
Stabilisierungspolitik und eine letztlich auf
Herrschaftssicherung gerichtete Legitimierungspolitik dar."
(Sablonier)
Dabei war im Adel absolut nicht "Skrupellosigkeit und
Habgier" vorherrschend, wie es die hochgradig
nationalideologische schweizerische Geschichtsschreibung bis
in die 1970-er Jahre vom österreichischen Adel der
Habsburger immer wieder behauptete (S.96).
Zweck von Schenkungen des Adels an die
"Geistlichkeit"
Die Geschenke an die "Geistlichkeit" sollten das
"Gruppenheil" fördern, durch Übergabe von Gütern an
geistliche Institutionen (S.90).
Schenkung fremder Güter
Es werden z.T. Güter verschenkt, die umstritten sind
oder gar nicht im Besitz des Schenkers sind (!) (S.90).
Zweck von Lehenvergabe
Die Lehenvergabe ist ein Mittel, Gefolgschaft zu
entwickeln (S.91). Viele der Schenkungen und Abtretungen
gehören wahrscheinlich in einen nicht erwähnten strategisch
durchdachten Erbzusammenhang (S.91).
Eine gute Dokumentation ist z.B. vorhanden im Fall des
ausgestorbenen Grafen von Lenzburg: Das
Erbe fällt an Friedrich Barbarossa (S.91).
Verbreitung von
Schrift und Recht im 13. Jahrhundert und die Folgen
Die Urkunden des MA
erzählen meist Geschichten nicht von materiellem Besitz,
sondern weit häufiger "jene von sozialen Beziehungen, von
sozialer Herkunft und symbolischen Prestigeelementen"
(S.92).
Ende des 13. Jh.: Verbreitung von Schrift und
Recht
Auch weniger gebildete Leute lernen schreiben, v.a. in den
Städten, z.T. auch auf dem Land: Zum Beispiel fordern auch
Bauern schriftlich (von Ramersberg) ihre Rechte ein (S.83).
Ab 1250 verbreitet sich die Schriftlichkeit im Volk. Der
Adel wird dadurch vor eine neue Situation gestellt: Alle
Adligen müssen schreiben lernen, um nicht hinten anzustehen.
So werden die Vorgänge immer öfter schriftlich festgehalten
(S.93).
Weitere Folgen der aufkommenden Fähigkeit zu
schreiben
Die Gewohnheiten der Gesellschaft ändern sich von Grund
auf:
-- Aufkommen städtischer Kanzleien
-- Urkundenherstellung wird ein normaler
Vorgang (S.94).
-- als Herrschaftstechnik wird die Verschriftlichung aber
erst ab der zweiten
Hälfte des 13. Jh. angewandt (S.95).
-- gleichzeitig hat die Verschriftlichung aber auch eine
nach innen gerichtete Kontrollfunktion gegen Korruption im Adel etc.
(S.95)
-- die Herrschaftsausübung wird schrittweise
entpersonalisiert
-- das Herrschaftswissen wird langsam in schriftlicher Form
bekannt
-- es entstehen Urbarien und Amtsbücher
-- die Gesellschaft kann sich neu auf "das Buch" berufen,
"das Buch" entwickelt Autorität, und so entsteht in der
Gesellschaft eine neue Sicherheit
-- neu entstehen z.B. die Gründungsbriefe; vorher
von Spendern oder Stiftern wurden Bilder gemalt, um
Herrschaft darzustellen (S.95)
-- Erbstreitigkeiten laufen durch die Schriftlichkeit ganz
anders ab: Landesherren können nun in Erbstreitigkeiten des
Adels eingreifen.
Im Haus Habsburg dominieren die in Bologna geschulten
Juristen (S.96).
Verschriftlichung und Strukturwandel im Adel
-- Aufstieg neuer Adelsgruppen im landesherrlichen Dienst
-- Niedergang der alten Königsgefolgschaft der "Nobiles"
Entstehen neuer Adelsgruppen, die sich durch Schriftlichkeit
zum Teil emanzipieren können:
oo ritterlicher Landadel
oo städtische Ratsaristokratien
plus: zunehmende Verwendung der
Volkssprache in Urkundentexten
plus: Regelung der
Besitzverhältnisse mehr und mehr auf dem neutralen
"Gütermarkt" (S.97).
Insgesamt: Es geschieht die Verrechtlichung der
politischen Landschaft
Sablonier: "[Dies] ist als sozialer und mentaler Lernprozess
zu begreifen - nicht zu verwechseln mit einem
Bildungsfortschritt und auch nicht a priori mit einem
Zivilisierungsvorgang" (S.98).