Zeitzeuge
Kurt-Jürgen Voigt: <"Wir weinten unter dem
Kopfkissen">
aus: Spiegel online; April 2010;
http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/5985/_wir_weinten_unter_dem_kopfkissen.html
<Der Krieg beendete die Jugend: Schon als 14-Jähriger
spürte Kurt-Jürgen Voigt, wie sich nach dem deutschen
Überfall auf Polen sein Leben an der Flensburger Förde
veränderte. 1941 musste er ins Drill-Lager der
Hitlerjugend. Nach überstandener Tortur erwartete ihn zu
Hause eine gefährliche Aufgabe.
So als wollte er uns noch einmal zeigen, was das Leben wert
war, kam 1939 der Sommer in den schönsten Farben über uns.
Es sollte der letzte Sommer vor dem großen Krieg sein. Die
Flensburger Förde glitzerte, eingerahmt vom Grün der Wälder.
Dampfer fuhren und die weißen Segel auf dem blauen Wasser
machten den Anblick zu einem impressionistischen Gemälde.
Mitten in diesem idyllischen Sommer verkündete die Stimme
des Führers über die Volksempfänger das Unheil: Deutsche
Truppen fielen in Polen ein. "Es ist Krieg", raunten alle im
Haus und auf der Straße mit zitternden Stimmen. Manche
weinten. Das Ausmaß der Katastrophe, die noch vor uns lag,
konnten wir nicht einmal erahnen.
Der Krieg hatte unser Leben schnell im Griff. Meine Mutter
erinnerte sich an den Winter 1917, an die ekelerregenden
Dinge, die sie gegessen hatte, um den Hunger zu bekämpfen.
Jetzt waren die Vorboten des Hungers wieder da: die
Knappheit, die Mühsal des Sparens und Rechnens, die
Lebensmittelkarten und die Schlangen vor den Geschäften. Der
Winter wurde hart und streng, die Förde gefror. Der Fisch
wurde knapp. Aber der Krieg war noch weit weg. Nur langsam
drängte er sich unbarmherzig in unser Bewusstsein: Die
Nachrichten, die Feldpost und die schwarz umrandeten
Todesanzeigen in den Zeitungen sprachen eine deutliche
Sprache.
Kritik an diesem Krieg vernahm ich nirgendwo. Dafür sprach
man oft von der Pflicht, die zu erfüllen der "Führer" von
uns erwarte. Auch in der Schule. Ich war 14 Jahre alt und
fragte mich, ob ich eines Tages auch in den Krieg ziehen
würde, den ich mir nicht vorstellen konnte. Noch war alles
offen.
"Der 'Führer' wird schon
wissen, was recht ist"
Nachdem Verdunkelung angeordnet worden war, kaufte ich
schwarze Rollos und bastelte so lange, bis durch keines der
Fenster und keine der Türen noch ein Spalt Licht drang.
Unser uniformierter Blockwart überwachte jede Wohnung und
jedes Haus der Siedlung. Für jedes Loch im Rollo drohten
empfindliche Strafen. Der Mann meinte es ernst, denn nun
hatte er die Befehlsgewalt, die ihm im zivilen Dasein
abgegangen war.
Die höheren Dienstgrade innerhalb der Marine-Hitlerjugend,
deren Mitglied ich war, und die Lehrer in der Schule mühten
sich, uns Vertrauen in die übermenschlichen Fähigkeiten des
"Führers" einzubläuen, den Glauben an die geradezu mythische
Kraft deutscher Soldaten und die Unüberwindlichkeit
deutscher Waffen. Der "Führer", hieß es, marschiere in Polen
ein, um Rache zu nehmen für das Ungemach, das die Polen den
Deutschen angetan hatten. Heute wissen wir, dass das
Propaganda war. Holland, Frankreich, Dänemark und Norwegen
wurden überfallen. Der "Führer" wird schon wissen, was recht
ist, dachten wir. Mein Vater schien am Sieg der Deutschen
keinen Zweifel zu haben.
Nachdem deutsche Flugzeuge im November 1940 das Stadtzentrum
der englischen Stadt Coventry in Schutt und Asche gelegt
hatten, übten wir mit Gasmasken für den Fall eines
Vergeltungsschlags mit Gasbomben. Ich schleppte schwere
Eimer voller Sand und Wasser auf den Hausboden und übte, wie
man die giftigen Stabbrandbomben wirksam löschte. In der
Schule sammelten wir Geld für die Auslandsdeutschen. Mutters
leicht verstaubten Pelz brachte ich zur Sammelstelle der
Winterhilfe, in der Hoffnung, er würde im klirrenden
russischen Winter einem Landser die Haut wärmen.
Ein deutscher Jungmann
weint nicht
1941 wurde ich durch die Vorgesetzten der
Marine-Hitlerjugend auf die Seesportschule Prieros im
Spreewald geschickt. Ich sollte die seemännische "A-Prüfung"
ablegen. Mit Marschpapieren und dicken Stullenpaketen
ausgestattet, saß ich zusammen mit drei anderen Hitlerjungen
im Zug nach Berlin. Rauchende, trinkende und lärmende
Soldaten gaben ihre Fronterlebnisse zum Besten und wurden
bewundert. Endstation war der rauchgeschwärzte Lehrter
Bahnhof, auf dem ein großes Schild mit den Worten "Räder
müssen rollen für den Sieg!" prangte. Schwestern vom Roten
Kreuz reichten Saft und Ersatzkaffee. Man gab uns den
Befehl, zu unserer Nachtunterkunft loszumarschieren.
Trübsinnig und hungrig latschten wir durch dunkle
Trümmerstraßen, vorbei an fensterlosen Ruinen. Bis wir vor
der alten Kaserne irgendeines Regiments standen und ein
mürrischer Wachmann uns unsere Stubennummer zubellte. Nachts
gab es Bombenalarm. Die stickige Luft im Keller brummte.
Luftminen barsten in der Nähe. Dann gab es endlich
Entwarnung.
Die Seesportschule in Prieros war ein Heim der
Marine-Hitlerjugend für die vormilitärische Ausbildung, ein
Drill-Lager, malerisch gelegen am Ufer der träge
dahinziehenden Dahme. Um den Fahnenmast mit dem Hakenkreuz
gruppierten sich weiße einstöckige Häuser. Ein müder Friseur
raspelte uns nach unserer Ankunft die Haare auf
Streichholzlänge. Wir bekamen weißes Drillichzeug zum
Anziehen, viel zu große Marschstiefel und traten an.
Wachführer Fleischhauer richtete sein Säufergesicht auf die
jungen Männer und brüllte: "Ich schleif euch die Eier!" Ich
hatte den Eindruck, dass er hilflos war und litt. Wie sollte
er diesen Sauhaufen bloß zu richtigen Menschen machen? "Ich
lache nie", schrie er uns an, "und wenn ich lache, lacht der
Teufel."
Wachführer Kizina, auch er ein Trinker vor dem Herrn, ließ
Tränen, wenn unsere schwermütigen Seemannslieder auf unseren
Märschen den Wald durchwehten und die Jungmänner im Drillich
unter den Angriffen stechwütiger Moskitos aus den Sümpfen
der Spree seufzten. Mancher weinte still in die Kissen, wenn
der Wolf im Hintern saß nach all den endlosen Kilometern und
die Fersen unter dem baumwollenen Fußlappen sich bis aufs
rohe Fleisch wundgescheuert hatten. Aber ein deutscher
Jungmann weint nicht - nur verstohlen nachts unter der
Decke. Hitlerjungen und Jungmädel redeten im Heim übrigens
nie miteinander. Nur beim Morsen in der großen Halle, im
singenden Geklacker der Tasten, konnte man das
"Ditt-da-Diditt" heraushören, was unter Kennern der
Morsesprache heißt: "Ich liebe Dich!"
Sehnsucht nach Licht und
Freiheit
Der Krieg diktierte unser Denken, unsere Gespräche, unsere
Beziehungen. Menschen im Krieg sind nicht sie selbst,
sondern unwichtige Figuren eines Spiels, dessen Regeln sie
nicht durchschauen. Auch deshalb flüchteten wir in das
sogenannte Puschenkino nebenan, das man in Hauslatschen
betreten konnte. Für 50 Pfennige sahen wir nach der
"Deutschen Wochenschau" und dem Kulturfilm über freundliche
Blindschleichen oder bärtige Geigenbauer in Mittenwald Filme
aus deutscher Produktion: "Oh, diese Männer", "Geheimakte
WBI", "Der große König", "Maja zwischen zwei Ehen", "Der
Meineidbauer", "Der dunkle Ruf".
Im Englischunterricht verteilte der Studienrat Adressen von
Frontsoldaten, denen wir schreiben sollten. Ich schrieb
einem Leutnant, erhielt Antwort mit einem Foto, auf dem er
vor seinem Bunker an der Ostfront zu sehen war. Er schrieb,
er habe sich gefreut über das Feldpostpäckchen. Drei Tage
später fiel er. Als ich die Nachricht in Händen hielt und
mir die Tränen herunterliefen, spielte man im Radio die
Soldatenhymne "Lili Marleen", ein Lied, das auch die
Engländer einträchtig mitsangen.
Irgendwann war das Drill-Lager überstanden, und es ging
zurück nach Hause. Im örtlichen Rathaus wurde ich per
Handschlag für das sogenannte Polizeischnellkommando
vereidigt. Geschützt mit einem Helm musste ich bei
Bombenalarm mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren, die
Einschlagstellen notieren und später melden. Derweil bellte
die Flak und schoss feindliche Flieger vom Himmel. Das
Fahrrad putzte, hütete und reparierte ich so gut es nur
ging. Es war ein unersetzliches Verkehrsmittel - und noch
dazu mein Freund. Auf ihm bewältigte ich den Schulweg,
erforschte die Gegend auf einsamen Pfaden. Ich fürchtete um
die Schläuche, sie mussten immer wieder geflickt werden.
Aber ich sehnte mich nach Licht und Freiheit. So sehr, als
hätte ich gewusst, dass ich bald Bekanntschaft mit der Enge
und Dunkelheit der Schützengräben machen würde.>