<"Heisenberg-Würfel"
verrät
Details über Hitlers Atomprogramm> - "keine Spur von
Plutonium"
<Aus Karlsruhe berichtet Markus Becker
aus: spiegel online, 19.3.2009;
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,614227,00.html
Karlsruher Forscher haben neue Erkenntnisse darüber
gewonnen, wie weit das Atomprogramm des Dritten Reichs
wirklich fortgeschritten war. Uranproben aus dem letzten
Labor erzählen die erstaunliche Geschichte des Projekts -
die USA lagen in ihrer Einschätzung über Hitlers
Wissenschaftler falsch.
Als die USA mit der Entwicklung der ersten Atomwaffen
begannen, wähnten sie sich in einem Wettlauf auf Leben und
Tod: Hitler, so fürchteten die Alliierten, lasse deutsche
Wissenschaftler schon seit Jahren an der neuen,
furchterregenden Waffe basteln. Zahlreiche Wissenschaftler,
darunter Albert Einstein, hatten die US-Regierung im Sommer
1939 vor der angeblich drohenden Gefahr gewarnt. Mit
ungeheurem Aufwand begannen die Amerikaner daraufhin ihre
Aufholjagd. Das Ergebnis des "Manhattan-Projekts" war 1945
die nukleare Einäscherung von Hiroshima und Nagasaki.
Später aber stellte sich heraus, dass die Alliierten den
Stand der deutschen Nuklearforschung bei weitem überschätzt
hatten. Der "Uranverein" unter Leitung des
Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg hatte, so die
gängige Meinung unter Historikern, nicht die Entwicklung
einer Atomwaffe im Sinn. Hauptziel der Wissenschaftler vom
Kaiser-Wilhelm-Institut war ein Kernreaktor mit einer
selbsterhaltenden nuklearen Kettenreaktion - ähnlich wie sie
in modernen Atomkraftwerken stattfindet.
Jetzt haben Forscher am Karlsruher Institut für
Transuranelemente (ITU), der zur Gemeinsamen
Forschungsstelle der Europäischen Kommission gehört, einige
der ältesten bekannten Spaltmaterial-Proben Deutschlands mit
Hightech-Methoden analysiert. "Wir haben erstmals
experimentell belegt, was man bisher nur aus
Literaturberichten schlussfolgern konnte", sagt ITU-Chemiker
Klaus Mayer im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Wir haben
stumme Zeitzeugen zum Reden gebracht."
Bei den Zeitzeugen handelt es sich um: einen Uranwürfel, ein
Fragment eines weiteren Würfels - und eine Uranplatte.
Reaktorkonzept mit schwerem
Wasser
Der Grund für die unterschiedlichen Geometrien - Platte und
Würfel - ist, dass die Deutschen zwei grundverschiedene
Reaktordesigns getestet haben. "Die Uranplatte geht auf
einen Entwurf von Werner Heisenberg selbst zurück", sagt
Mayer. Der Theoretiker hatte vorgeschlagen, spaltbares Uran
und sogenannte Moderatoren wie Paraffin, Trockeneis oder
Graphit übereinanderzuschichten. Solche Moderatoren bremsen
die umherschwirrenden Neutronen ab. Sind sie langsamer
unterwegs, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie von
Urankernen eingefangen werden und weitere Kernspaltungen
auslösen. Nur so kann es zu einer Kettenreaktion kommen.
Uran eignet sich sowohl für die Energiegewinnung als auch
für den Einsatz in Atomwaffen. Entscheidend ist der Grad der
Anreicherung. Im Ausgangsstoff Uranerz findet sich zu rund
99,3 Prozent Uran-238; das spaltbare Uran-235 macht nur etwa
0,7 Prozent aus. Für die Nutzung in Kernreaktoren muss der
Anteil von Uran-235 auf drei bis fünf Prozent gesteigert
werden, für eine Atombombe ist ein Anreicherungsgrad von
mindestens 90 Prozent notwendig.
Uranerz wird nach dem Abbau zunächst zu einem gelblichen
Pulver verarbeitet, dem sogenannten Yellowcake. Es dient zur
Herstellung von Brennelementen für Reaktoren, kann aber
zwecks Anreicherung auch in Uran-Hexafluorid (UF6)
umgewandelt werden, das bis 56 Grad Celsius in kristalliner
Form vorliegt und darüber gasförmig ist.
Die meisten Anreicherungsanlagen weltweit basieren auf der
Gasdiffusion: Gasförmiges Uran-Hexafluorid wird durch
halbdurchlässige Membrane gepresst, wobei sich das Uran-235
vom Rest trennt. Das Verfahren gilt inzwischen jedoch
aufgrund seines hohen Energiebedarfs als veraltet.
Eine modernere Methode ist die Gaszentrifuge, an der auch in
Iran experimentiert wird. Bei ihr macht man sich den
Massenunterschied zwischen beiden Uran-Isotopen zunutze:
Wird Uran-Hexafluorid in die Zentrifugen gegeben, sammeln
sich die schwereren Uran-238-Moleküle bei bis zu 70.000
Umdrehungen pro Minute außen in den Zylindern, die
Uran-235-Moleküle dagegen bleiben weiter innen.
Für den Einsatz in Kernreaktoren genügt es bereits, wenn
Uran-235 zu 3 bis 5 Prozent in den Brennelementen
angereichert ist. Ab 20 Prozent ist von hochangereichertem
Uran die Rede. Für eine Atombombe ist ein Anreicherungsgrad
von mindestens 80 Prozent erforderlich, da sonst eine zu
große Uranmenge notwendig wäre.
Uran-235 kam in der ersten jemals eingesetzten Atombombe,
die am 6. August 1945 Hiroshima zerstörte, als Sprengstoff
zum Einsatz. Die Bombe hatte eine Sprengkraft von rund 13
Kilotonnen TNT. Die Bombe, die drei Tage später auf Nagasaki
abgeworfen wurde, erreichte 20 Kilotonnen TNT. Ihr
Sprengstoff war allerdings nicht Uran, sondern
Plutonium-239, das per Neutronenbeschuss in Brutreaktoren
aus Uran-238 gewonnen wird.
Der Nachteil von Heisenbergs Schichten-Anordnung war jedoch,
dass man das spaltbare Material nicht aus allen Richtungen
mit Neutronen beschießen konnte. Deshalb entwickelte Kurt
Diebner mit seiner Arbeitsgruppe am Heereswaffenamt ein
weiteres Reaktorkonzept, bei dem Würfel aus Uran in einem
Becken mit sogenanntem schwerem Wasser versenkt wurden, das
als Moderator diente. "So konnte das Uran von allen Seiten
mit Neutronen beschossen werden", sagt Mayer.
Als US-Soldaten gegen Kriegsende das letzte deutsche
Atomlabor stürmten, einen Bierkeller unter der Schlosskirche
des Städtchens Haigerloch am Rand der Schwäbischen Alb,
fanden sie 659 Uranwürfel. "Es hätten aber 664 sein müssen",
sagt Mayer. Wo die restlichen Würfel geblieben sind, wurde
nie vollständig geklärt.
Analyse des
"Heisenberg-Würfels"
Allerdings besteht der Verdacht, dass Heisenberg einen oder
mehrere mitgehen ließ. Anfang der sechziger Jahre fanden
spielende Kinder einen der dunkel-metallisch schimmernden
Würfel am Flüsschen Loisach, nur wenige Kilometer entfernt
vom Wohnort der Familie Heisenberg. Obwohl der Kubus nur
fünf Zentimeter Kantenlänge besaß, brachte er beeindruckende
zweieinhalb Kilo auf die Waage. "Als die Kinder ihn über die
Straße rollten, schlug er Funken", sagt Mayer. Denn ähnlich
wie Magnesium fangen Uranpartikel Feuer, wenn sie mit
Sauerstoff in Berührung kommen.
Dann verschwand der Würfel erneut - und tauchte erst in den
neunziger Jahren in einem Hauskeller in der Gegend wieder
auf. Der Finder übergab ihn dem Bundesamt für
Strahlenschutz, das die Experten am ITU bat, das Fundstück
genauer zu untersuchen.
"Wir durften nur kleine Mengen abfeilen", sagt Mayer. Eine
ganze Kante vom letzten erhaltenen "Heisenberg-Würfel"
abzuschneiden, wie er von den Karlsruher Forschern genannt
wird, kam nicht in Frage. Hilfreich war, dass das
"Atomkeller-Museum" in Haigerloch, das am früheren
Arbeitsplatz des Uranvereins eingerichtet wurde, dem ITU das
Fragment eines weiteren Würfels zur Verfügung stellte.
Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass die beiden
Würfel aus unterschiedlichen Produktionslinien stammten, da
sie sich in ihrem Verunreinigungsgrad unterschieden. Die
weitere Analyse gestaltete sich schwierig. "Bei derart alten
und seltenen Proben fehlte uns das Vergleichsmaterial", sagt
Mayer. Da Uran aber schwach radioaktiv ist und mit der Zeit
zerfällt, konnten die Forscher anhand des Verhältnisses
zwischen Zerfallsprodukten und Ursprungsmaterial das Alter
der Proben bestimmen.
Keine Spur von Plutonium
Der intakte Würfel und das Fragment wurden demnach
spätestens im Herbst 1943, die Uranplatte schon Mitte 1940
hergestellt. Anhand der chemischen Verunreinigungen konnten
die Forscher die Proben der Uranmine Joachimstal zuordnen.
Das wichtigste Ergebnis aber: "Der Würfel hat kaum Neutronen
abbekommen", so Mayer. Das lege nahe, dass der Uranverein
"weit davon entfernt war, eine selbsterhaltende
Kettenreaktion zu erschaffen".
Fazit der Wissenschaftler: Die Deutschen hätten nur dann
einen Reaktor mit selbsterhaltender Kettenreaktion bauen
können, wenn die Arbeitsgruppen von Diebner und Heisenberg
ihre Würfel kombiniert hätten. Dies war jedoch kurz vor
Kriegsende nicht mehr möglich.
Die Analysen brachten auch eine zentrale historische
Erkenntnis: Heisenberg und seinen Kollegen ist, soweit es
das untersuchte Material verrät, keine Plutonium-Herstellung
gelungen. Hätten die Wissenschaftler eine Atomwaffe
herstellen wollen, wäre es technisch leichter gewesen, sie
auf Basis dieses Stoffs zu bauen. Doch in den Proben suchten
die Karlsruher Wissenschaftler vergebens nach Plutonium, das
aus einem Reaktorbetrieb stammte.
Die Amerikaner beschritten dagegen beide Wege - und
gelangten auf beiden zum Ziel: In der Hiroshima-Bombe
"Little Boy" entfachte eine Uranladung das nukleare Feuer,
ihr Nachfolger "Fat Man" machte Nagasaki mit Hilfe von
Plutonium dem Erdboden gleich.>