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Die Nazi-Justiz im Dritten Reich

Korruption und Todesurteile wegen Nichtigkeiten im Justizsystem unter Adolf Hitler

Meldungen

präsentiert von Michael Palomino

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Spiegel
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25.2.2010: Nazi-Justiz: Todesurteil wegen Wurstzipfel - und Aufarbeitung 1960

aus: Spiegel online: Studenten gegen Nazi-Richter; 25.2.2010;
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/6211/studenten_gegen_nazi_richter.html

<Ein Kriegsverbrecher als Gerichtspräsident? In der frühen Bundesrepublik keine große Sache. Dann machten Studenten die NS-Vergangenheit amtierender Richter und Staatsanwälte in einer Ausstellung öffentlich. Die wurde 1960 zum Riesenkandal - doch Probleme bekamen nur die Studenten. Von Stephan A. Glienke

Schon zum zweiten Mal war Erna Wazinski jetzt bei einem alliierten Luftangriff auf das niedersächsische Wolfenbüttel ausgebombt worden. Nach dem Bombardement half die 19-jährige ihren Nachbarn bei der Rettung ihrer Habe. Erst dann kehrte sie zu den Trümmern ihres eigenen Wohnhauses zurück, um eventuell doch noch die eine oder andere kleine Habseligkeit zu retten.

Das sahen Nazi-Richter als todeswürdiges Verbrechen: Sie schickten Erna Wazinski am 21. Oktober 1944 wegen Plünderns "im Namen des Deutschen Volkes" aufs Schafott. Ähnlich in Weimar: Dort wurde ein Bürobote, der nach einem Kneipenbesuch beschwipst bei der Rettung des kompletten Hausstandes aus einem zerbombten Wohnhaus geholfen hatte, zum Tode verurteilt - er hatte sich bei den Rettungsarbeiten einen Wurstzipfel in die Tasche gesteckt.

Mit gleich einem knappen Hundert ähnlich furchtbarer Fälle von NS-Blutjustiz wurden die Bundesdeutschen vor 50 Jahren in einer Ausstellung konfrontiert, die Geschichte schrieb. Unter dem Titel "Ungesühnte Nazijustiz" eröffnete die Ausstellung am 25. Februar 1960 am Kurfürstendamm in West-Berlin. Die Veranstalter, eine Gruppe West-Berliner Studenten um Reinhard Strecker, präsentierten Verfahrensakten von NS-Sondergerichten, die den nationalsozialistischen Unrechtsstaat plastisch und auf haarsträubende Weise illustrierten. Zu jedem Fall hatten die Organisatoren vermerkt, an welcher Stelle die an dem jeweiligen Urteil beteiligten Juristen nach dem Krieg tätig waren.

Ein Kriegsverbrecher als Landgerichtsdirektor

Kein Wunder, dass die Ausstellung zum öffentlichen Skandal geriet, der nicht nur in der Bundesrepublik und West-Berlin hohe Wellen schlug. Ehemalige NS-Richter fanden sich nämlich auf allen Ebenen der westdeutschen Nachkriegsjustiz. In Hannover etwa amtierte der Landgerichtsdirektor Kurt Bellmann. Bellmann war unter den Nazis als Vorsitzender der Dritten Strafkammer am Sondergericht Prag an mehr als 110 Todesurteilen beteiligt gewesen. Nach dem Krieg in der Tschechoslowakei wegen Justizverbrechen zu schwerer Kerkerhaft verurteilt, war er den westdeutschen Behörden 1955 als "nichtamnestierter Kriegsverbrecher" überstellt worden. Aber schon ab 1. März 1956 amtierte er als Landgerichtsdirektor in Hannover, als sei nichts gewesen.

Oder der Landgerichtsrat Sperrhake aus Tübingen, der im "Dritten Reich" als Ankläger am Sondergericht Weimar an zahlreichen Verfahren wegen kleinerer Diebstähle beteiligt war, die fast alle mit Todesurteilen endeten. Die Verfahrensprotokolle illustrieren deutlich die vorwiegend politisch, nicht juristisch begründeten Urteile. Dass ein Anklagevertreter, der sich an einem durch Rechtsbeugung zustande gekommenen Todesurteil beteiligt, unter Umständen der Beihilfe zu Mord oder zumindest Totschlag schuldig macht - die Nachkriegsjustiz kümmerte es nicht weiter.

Dabei waren die von den Studenten präsentierten Fakten durchaus bekannt. Bereits seit Mai 1957 hatte der Ost-Berliner "Ausschuss für Deutsche Einheit" zahlreiche Broschüren mit Faksimiles von Verfahrensprotokollen der NS-Justiz und Informationen über an Justizverbrechen beteiligten "Blutjuristen" veröffentlicht. Aber Forderungen nach einer Überprüfung der Justiz auf braune Handlanger hatten die westdeutschen Justizverwaltungen mit dem Hinweis auf fehlendes Aktenmaterial und die generelle Unglaubwürdigkeit der kommunistischen Propaganda abgewehrt.

Agenten als Ausstellungsmacher?

Wer die Frage nach dem Verbleib der NS-Juristen in der Öffentlichkeit aufwarf, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, der DDR-Propaganda Vorschub zu leisten. Als die Gruppe um Strecker ihre Wanderausstellung im November 1959 in Karlsruhe erstmals zeigte, wurden sie von der konservativen Presse als "Handlanger der Machthaber von Pankow" ("Badische Neueste Nachrichten") abgekanzelt.

Tatsächlich hatten die Macher die ausgestellten Unterlagen zunächst aus Ost-Berlin beschafft. Die konservative Öffentlichkeit hielt sie deshalb für Handlanger des SED-Regimes. Und auch auf der demokratischen Linken vermutete mancher, dass die Organisatoren, Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), unter den Einfluss ostdeutscher Geheimdienste geraten waren. SPD-Chef Erich Ollenhauer warnte seine Parteifreunde per Rundschreiben ausdrücklich vor der Ausstellung, die Macher wurden kurzerhand aus der SPD geworfen - angesichts der 1961 anstehenden Bundestagswahl waren die Sozialdemokraten sorgsam darauf bedacht, nicht mit der DDR in Verbindung gebracht zu werden.

Zu den Absurditäten des deutsch-deutschen Systemkonflikts gehört, dass sich die Machthaber in Ost-Berlin mit ganz ähnlichen Gedanken trugen. Dass Studenten aus politischer Eigeninitiative heraus handelten, war der Gedankenwelt des SED-Regimes derart fremd, dass dort angenommen wurde, die Studenten stünden im Dienste westlicher Geheimdienste. Alfred Deter, der Sekretär des "Ausschusses für Deutsche Einheit" setzte sich jedoch gegen alle Bedenken durch, die Ausstellungsmacher bekamen die Justizakten.

Massive Behinderungen

Der West-Berliner Senat legte der Ausstellung von Beginn an Steine in den Weg. Zunächst verhinderte er, dass die Ausstellung in einer der beiden West-Berliner Universitäten aufgebaut werden konnte. Die Organisatoren seien von "sowjetzonaler Seite inspiriert", das ganze Vorhaben ein "Akt öffentlicher Agitation zugunsten sowjetzonaler Stellen", hieß es in einem Rundschreiben an die Universitäten und Bezirksämter der Stadt. Das "Ansehen der Justiz als tragendem Pfeiler der öffentlichen Ordnung" werde in Frage gestellt und die politische Ordnung in West-Berlin gestört.

Als daraufhin der Kunsthändler Rudolf Springer den Studenten anbot, seine Galerie am Kurfürstendamm für die Ausstellung zu nutzen, wandte sich der Berliner Senat an die Hauseigentümerin. Sie sollte die Ausstellung verbieten und der Galerie Springer gar den Vertrag kündigen, da die Veranstaltung dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (SPD) in einer politisch schwierigen Zeit in den Rücken falle.

Trotz der massiven Behinderungsversuche eröffnete die Ausstellung am 25. Februar 1960 in der Galerie Springer. Da inzwischen auch die britische Presse auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden war, beließ es der Senat schließlich dabei, die West-Berliner Lehrer aufzufordern, die Ausstellung zu meiden. Auch die deutschen Medien befassten ausführlich mit den Dokumenten, nachdem Generalbundesanwalt Max Güde die Ausstellungsunterlagen gesichtet und in einem Fernsehinterview als "ganz offensichtlich echt" bezeichnet hatte.

Ein Skandal zieht Kreise

Und so erregte die studentische Ausstellung immer weitere Aufmerksamkeit: Im Londoner Unterhaus forderten Abgeordnete die britische Regierung auf, angesichts der dargelegten Fakten Druck auf die Bonner Regierung auszuüben und die Entalssung der betroffenen Richter zu fordern. Schon im Januar 1960 hatten die Ausstellungsmacher Strafanzeige gegen 43 wieder amtierende Richter wegen des Verdachts auf Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag erstattet. Im gesamten Bundesgebiet und West-Berlin ermittelten daraufhin die Staatsanwaltschaften. Durch den öffentlichen Wirbel unter Druck gesetzt, mussten sich nun auch die Justizverwaltungen und der Rechtsausschuss des Bundestages mit der Frage befassen. Kopien des Ausstellungsmaterials dienten als Grundlage für die Debatten um den Umgang mit den durch ihre Tätigkeit im Nationalsozialismus untragbar erscheinenden Juristen.

Die Politik reagierte windelweich. Mit Paragraph 116 des Deutschen Richtergesetzes vom 8. September 1961 wurde Richtern die Möglichkeit gegeben, sich freiwillig unter vollen Bezügen in den Ruhestand versetzen zu lassen. Denjenigen, die an unverantwortliche Todesurteilen mitgewirkt hatten, aber diese Möglichkeit nicht bis Juni 1962 nutzten, drohte der Bundestag mit Amtsverlust. Dazu wäre allerdings eine Grundgesetzänderung nötig gewesen.

Insgesamt 149 Richter und Staatsanwälte ließen sich nach Paragraph 116 vorzeitig pensionieren.

Kein einziger Richter ist in der Bundesrepublik wegen im "Dritten Reich" begangener Justizverbrechen rechtskräftig verurteilt worden.>





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