Auszug aus einer Rede vom
28. Mai 1995 in der Frankfurter Paulskirche
"Über Menschenrechte und Demokratie ist in
dieser historischen Paulskirche oft gesprochen
worden. Das ist gut so, denn es gilt, unser
Bekenntnis zur "dignitas humana" immer wieder und an
jedem Ort aufs Neue zu beteuern.
Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
sehen wir, dass neue Kriege und gravierende
Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt Opfer
fordern, Flüchtlingsströme auslösen, Menschen
entrechten und sie zu Heimatlosen machen.
Vor fünfzig Jahren wurden die Vereinten Nationen mit
dem Ziel gegründet, den Weltfrieden und die
internationale Sicherheit zu wahren und für die
Förderung und den Schutz der Menschenrechte zu
sorgen. Die Organisation hat vieles geleistet, viele
Erfolge errungen, aber auch viele Enttäuschungen
hinnehmen müssen. Die Organisation und ich selber
als Hochkommissar für die Menschenrechte werden
alles Menschenmögliche tun, um unserer Aufgabe gerecht
zu werden.
In den letzten fünfzig Jahren wurden u.a. die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Pakt über
bürgerliche und politische Rechte, der Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die
Konvention für die Eliminierung der
Rassendiskriminierung und die Konvention gegen die
Folter von der Generalversammlung verkündet. Im
Hinblick darauf ist es uns klar, dass ethnische
Säuberungen, Vertreibungen und
Bevölkerungsumsiedlungen viele dieser fundamentalen
Menschenrechte verletzen.
Das Recht, aus der angestammten Heimat nicht
vertrieben zu werden, ist ein fundamentales
Menschenrecht. Die Unterkommission für
Diskriminierungsverhütung und Schutz der Minderheiten
beschäftigt sich z.Zt. mit der Frage der
menschenrechtlichen Aspekte von
Bevölkerungsumsiedlungen [S.291]. Der jüngste Bericht
von Sonderberichterstatter Awn Shawkat Al-Khasawneh
stellt die Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibungen
fest (E/CN.4/Sub.2/1994/18).
Auch die UNO-Völkerrechtskommission beschäftigt sich
mit dieser wichtigen Frage. Im Artikel 21 des "Draft
Code of Crimes against the Peace and Security of
Mankind" wird die Vertreibung von Menschen aus ihrer
angestammten Heimat als besonders gravierende
Menschenrechtsverletzung bzw. als internationales
Verbrechen bezeichnet. Im Artikel 22 des Kodex werden
Vertreibungen und Kollektivstrafen gegen die
Zivilbevölkerung unter den besonders schweren
Kriegsverbrechen genannt.
Das jüngste Bekenntnis der UNO zum Recht auf die
Heimat lieferte am 26. August 1994 die Unterkommission
in ihrer Resolution 1994/24, welche das Recht jedes
Menschen, in Frieden in seinem eigenen Heim, auf
seinem eigenen Grund und Boden und in seinem eigenen
Land zu leben, bekräftigt. Ausserdem unterstreicht die
Resolution das Recht von Flüchtlingen und
Vertriebenen, in Sicherheit und Würde in ihr
Herkunftsland zurückzukehren.
Ich bin der Auffassung, dass, hätten die Staaten mit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr über die
Implikationen der Flucht, der Vertreibung und der
Umsiedlung der Deutschen nachgedacht, die heutigen
demographischen Katastrophen, die vor allem als
ethnische Säuberungen bezeichnet werden, vielleicht
nicht in dem Ausmass vorgenommen wären.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf die Charta
der deutschen Heimatvertriebenen zu sprechen kommen.
Es ist gut, dass Menschen, die Unrecht gelitten haben,
bereit sind, den Teufelskreis von Rache und Vergeltung
zu brechen und auf friedlichen Wegen für die
Anerkennung des Rechtes auf die Heimat und für den
Wiederaufbau und die Integration Europas zu arbeiten.
Eines Tages wird dieses Opfer besser gewürdigt werden.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass unter der
nationalsozialistischen Besatzung den Völkern Ost- und
Zentraleuropas unermessliches und unvergessliches Leid
zugefügt worden ist. Sie hatten daher einen legitimen
Anspruch auf Reparation bzw. Wiedergutmachung. Jedoch
dürfen legitime Ansprüche nicht durch die Verhängung
von Kollektivstrafen auf der Grundlage allgemeiner
Diskriminierung und ohne die genaue Untersuchung
persönlicher Schuld verwirklicht werden. In den
Nürnberger und Tokioter Prozessen wurde das
unerlässliche Prinzip persönlicher Haftung für
Verbrechen wohlweislich angewandt. Es lohnt sich, die
Nürnberger Protokolle und das Nürnberger Urteil in
vielerlei Hinsicht noch einmal zu lesen.
Uns geht es vor allem um die allgemeine Anerkennung
der Menschenrechte [S.292, die auf dem Prinzip der
Gleichheit der Menschen beruht. Aller Opfer von Krieg
und Gewaltherrschaft ist mit Ehrfurcht zu gedenken,
denn jedes einzelne Menschenleben ist wichtig. Es
gilt, sich stets für die "dignitas humana"
einzusetzen."
Siehe auch: "Lob für Charta der Vertriebenen" in der
"Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 27 Mai 1995,
Seite 5 [S.293]
<<
>>