Wie viel Kriegsmaterial aus dem Ersten, vor allem aber aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Boden der Ozeane vor sich hin rosten, lässt sich schwer einschätzen. Laut Zahlen des deutschen Umweltministeriums vom Vorjahr dürften es allein in den deutschen Hoheitsgebieten der Nord- und Ostsee insgesamt an die 1,6 Millionen Tonnen sein, der Schwerpunkt liegt in der Nordsee.
Unter den Kampfmitteln, die aus Gefechten stammen, laut dem Ministerium aber hauptsächlich im Zuge der Entwaffnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten in der Nord- und Ostsee versenkt wurden, befindet sich auch ein großer Anteil an chemischen Kampfstoffen, von denen erst ein Bruchteil geborgen werden konnte.
Gefahr wird ständig größer
Von den Kriegsrelikten gehe mit jedem Jahr eine größere Gefahr aus, heißt es in einem Pressebriefing des deutschen Science Media Center zu einem Gespräch von Experten und Expertinnen zu dem Thema am Montag. Die Ummantelungen verrosteten und setzten sukzessive Kampfmittel frei, gleichzeitig würden die Meere immer intensiver genutzt: Der Frachtverkehr nimmt zu, Pipelines und neue Offshore-Anlagen werden gebaut, angeschwemmte Granaten sind eine Gefahr für Menschen.
Die Bergung von Munition aus der Nord- und Ostsee begann relativ bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erst vor wenigen Tagen verpflichteten sich Deutschland und Frankreich, bei der Entschärfung dieser Altlasten künftig eng zusammenzuarbeiten. Ab Mittwoch befasst sich die zweite Munition Clearance Week in Kiel mit dem Thema, dem Zustand der Altlasten im Meer, Gefahren, die von ihnen ausgehen, und Bergungsmöglichkeiten.
Bedrohung für Ökosysteme und Meeresinfrastruktur
Die Zeit dränge, hieß es im Vorfeld der Konferenz. Die Munition auf dem Meeresgrund stelle eine „globale Herausforderung“ dar, diese bedrohe die empfindlichen Ökosysteme, die maritime Infrastruktur und schließlich den Menschen. Nur ein kleiner Teil der betroffenen Meeresgebiete sei bisher kartografisch erfasst, es brauche mehr internationale Zusammenarbeit zur Lokalisierung und Bergung der Kampfmittelreste.
In der Nähe von Kiel im Bundesland Schleswig-Holstein soll eine schwimmende Plattform gebaut werden, über die Munitionsaltlasten geborgen und anschließend umweltschonend vernichtet werden sollen, wie der deutsche Bundesumweltminister Carsten Schneider letzten Dienstag anlässlich der UNO-Ozeankonferenz im südfranzösischen Nizza sagte.
Ein endloser Güterzug
In der Lübecker Bucht an der Ostsee läuft ein Forschungsprojekt zu Möglichkeiten der effizienten Bergung von Kriegsmunition. Ein mit 100 Millionen Euro dotiertes Programm für deren Beseitigung in den deutschen Seegebieten insgesamt solle langfristig fortgesetzt werden. Die Menge der Altlasten dort entspreche der Ladung eines Güterzugs, der von Berlin bis nach Paris reicht, hieß es.
Laut dem deutschen Ministerium können Kampfmittel im Meer wegen ihrer zunehmenden Zersetzung immer schwieriger gefunden werden, krebserregende und erbgutschädigende Substanzen reicherten sich in Muscheln und Fischen an, schädigten das empfindliche Ökosystem der Meere und könnten schließlich auch in die menschliche Nahrungskette gelangen. In Muscheln wiesen Studien laut dem deutschen Umweltbundesamt eine steigende Schadstoffbelastung nach.
Spreng- und Giftstoffe auch in Tagebau versenkt
Die Kriegsrelikte enthalten unter anderem den Sprengstoff TNT, der giftig ist, Schwermetalle wie Quecksilber und Blei, mitunter Arsen. In der Ost- und der Nordsee, darunter dem „Helgoländer Loch“ südlich der Insel Helgoland, wurden chemische Kampfstoffe im Ausmaß Tausender Tonnen versenkt, darunter Munition mit dem Nervenkampfstoff Tabun, dem Lungenkampfstoff Phosgen und dem Kontaktgift S-Lost (Schwefellost, Senfgas).
Mit einer Altlast auf dem Festland hat Deutschland im Bundesland Niedersachsen zu kämpfen. Dort, in einer ehemaligen Kieselgurgrube, dem Dethlinger Teich nahe der Stadt Munster in der Lüneburger Heide, wurden von den Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Sprengstoffe und chemische Kampfmittel in großen Mengen versenkt, nach Schätzungen an die 100.000 Granaten und Giftfässer.
Das „giftigste Loch der Welt“
Nahe der heutigen „Rüstungsaltlast“ waren ab 1935 in riesigen Bunkeranlagen Munition für die Luftwaffe und später auch Brandbomben und chemische Kampfmittel hergestellt worden. Ein Teil wurde nach Kriegsende in der Nord- und Ostsee versenkt, ein anderer im früheren Tagebau. In den 1950er Jahren wurde die Grube mit Schutt verfüllt, darunter lagerten Granaten, Fässer mit Kampfstoffen und Zünder, eine unberechenbare Mischung.
Für die Bergung und Entschärfung der Kriegsrelikte wurde über der Grube eine Leichtbauhalle errichtet, um den Austritt von Kampfstoffen zu verhindern. Seit 2023 wurden an die 50.000 Kampfmittel geborgen, von kleinen Teams per Bagger und Hand und in ABC-Vollschutzanzügen. Die Räumung des „giftigsten Lochs der Welt“, wie deutsche Medien die Grube nannten, wird noch Jahre dauern.