aus: Schausberger, Norbert:
Österreich und die Friedenskonferenz. Zum Problem der
Lebensfähigkeit Österreichs nach 1918; In: Ackerl,
Isabella/Neck, Rudolf (Hrsg.): Wissenschaftliche
Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik
Österreich. Veröffentlichungen Band 11: Saint-Germain
1919; Verlag für Geschichte und Politik Wien 1989
Chronologie
ab 1700 ca.
Monarchie Österreich-Ungarn:
ein abgeschotteter, in sich geschlossener Markt
Die grosse Monarchie Österreich-Ungarn ist ökonomisch
autark, mit rationeller Arbeitsteilung und verfügt über
ausreichende, eigene Ressourcen, mit geringer
aussenwirtschaftlicher Verflechtung, mit ausgeglichener
Bilanz, und mit starken Zollbarrieren gegen aussen (S.236)
In diesem Sinn entwickelt sich in Österreich-Ungarn eine
Rückständigkeit gegenüber den fortgeschrittenen Staaten
West- und Mitteleuropas. Die Wirtschaftspolitik bleibt
zurück und leidet an chronischem Mangel an
Investitionskapital (S.238).
19.10.1918
Propaganda der
"Lebensunfähigkeit" Österreichs für den Anschluss an
Deutschland
Ab dem Ende des Ersten Weltkriegs entwickeln gewisse
Gruppen in Österreich die Propaganda, Österreich sei als
Kleinstaat "lebensunfähig", und es müsse unbedingt ein
Anschluss an Deutschland erfolgen. Diese Propaganda wird
betrieben,
-- um die Territorialverluste mit einem Anschluss
Österreichs auszugleichen (Kompensationstheorie)
-- in der Hoffnung auf eine Hegemonie auch über Böhmen und
Ungarn in alter Wilhelminischer Germanisierungstradition.
Dies sind die Angaben von Staatssekretär Solf an
den deutschen Botschafter Wedel in Wien
(Bundesarchiv Koblenz, Österreich 95, Bd.7) (S.235).
November 1918-Juni 1919
Verträge von Versailles und
von St-Germain
Die Alliierten wollen an der Selbständigkeit
Deutschösterreichs festhalten, unter anderem aus rein
taktischen Gründen:
-- England will die Machtbalance in Mitteleuropa
manipulieren
-- Frankreich befürchtet ein zu starkes Deutschland, wenn
Österreich angeschlossen würde (S.243).
ab
1919
Es entsteht Not durch
Umstrukturierung in Österreich, weil das Land plötzlich
ein Kleinstaat ist
(S.233-234)
[Diese Situation hat es seit 1700 ca. nicht mehr gegeben,
bzw. so klein war Österreich noch nie!].
Die riesige Aufgabe der
Umstrukturierung der Monarchiestaaten von
Österreich-Ungarn
Innerhalb einiger weniger Jahre müssen die
Ex-Monarchiestaaten grosse Umstrukturierungen vornehmen,
denn alle sind nun zu kleinen Staaten geworden:
-- die eng verflochtene Struktur und die
Kommunikationswege werden durch die neuen Landesgrenzen
zerschlagen
-- die Industrie muss sich auf andere Rohstoffbasen
umstellen, wenn bisherige Rohstoffe nicht mehr
"erreichbar" sind
-- dies provoziert zum Teil riesige Probleme bei der
Energieversorgung [z.B. in Wien, wo mit tschechischer
Kohle geheizt wurde, was jetzt nicht mehr geht]
-- plötzlich wird auch in bestimmten Gebieten die
Lebensmittelversorgung knapp oder unmöglich, weil neue
Landesgrenzen den Zugang zu den landwirtschaftlichen
Gebieten blockieren [Wien verliert seine "Gemüsekammer" in
Ungarn]
-- die einzelnen Wirtschaftssparten sind nicht mehr im
Gleichgewicht, bzw. vor allem die industriellen
Kapazitäten sind für die einzelnen, kleinen Länder und die
entsprechend kleinen Märkte nun viel zu gross
-- teilweise gehen Absatzmärkte in den Nachfolgestaaten /
Sukzessionsstaaten verloren, da neue Landesgrenzen und
neuer Nationalismus einen gemeinsamen Handel blockieren,
so dass neue Exportmärkte erschossen werden müssen
-- ausserdem muss im kleinen Österreich die
Kriegsindustrie auf zivile Industrie umgestellt werden,
mit hohen Investitionen
-- auch Rationalisierungen zur Erhöhung der
Konkurrenzfähigkeit erfordern hohe Investitionen
-- es existiert ausserdem ein völlig aufgeblähter
Verwaltungs- und Organisationsapparat, der nicht zum neuen
[Rumpf-]Österreich passt und nur Kosten verursacht
(S.239).
Vorgänge: Abzug der Institute
der Nachfolgestaaten aus Wien
-- Österreich wird für die Nachfolgestaaten zum Ausland
-- die Firmensitze der Nachfolgestaaten, darunter auch die
Banken, ziehen aus Wien ab
->> und dies provoziert weitere Einnahmeausfälle für
Wien (S.239).
Weitere Faktoren:
-- der Hunger wird zum psychologischen Moment
-- ausserdem herrschen Kursverfall und Inflation (S.240):
oo es wird verpasst, schnell eine rigorose Neuordnung des
Finanzwesens zu etablieren
oo und die Industrie kann sich mit der Inflation auf
Kosten der Bevölkerung "entschulden"
oo der Mittelstand gerät in die Armut, und dies ist der
spätere Boden für den Nazismus und für die
Anschlusspropaganda Hitlers (S.259).
[Anschlusspropaganda existiert aber bereits seit 1871 seit
dem deutschen Sieg gegen Frankreich und der Gründung des
Zweiten Deutschen Kaiserreichs].
Die Erhebungskommission
In dieser Situation wird im neuen Rumpf-Österreich eine
Erhebungskommission des Internationalen
Gewerkschaftsbundes eingesetzt, um die wirtschaftlichen
Verhältnisse Österreichs festzustellen (S.244).
Die Feststellungen: Enorme
Lasten und Schwierigkeiten
-- der Kursverfall ergibt eine faktische Blockade
Österreichs für Importe
-- die Erkrankungen in der Bevölkerung nehmen zu
-- die Bekleidung der Leute wird desolat
-- es herrscht ausserdem eine chronische Wohnungsnot, weil
alle Deutschösterreicher nach Wien ziehen, die in den
Nachfolgestaaten nicht mehr leben wollen (S.244).
Die Vorschläge:
-- Kredite
-- Importe: Rohstoffe, Lebensmitte, Kohle, Düngemittel
(S.244-245).
In diesem Sinn wird die Lebensunfähigkeit von
Deutschösterreich vorerst bestätigt.
Schausberger:
"Damit entstand aus zahlreichen Faktoren gespeist eine
Legende, die sich als bestimmend für die weitere
ökonomische Entwicklung der Republik und verhängnisvoll
für das Selbstverständnis ihrer Bürger erweisen sollte."
(S.245)
Und die Nachfolgestaaten um Österreich herum wollen selbst
autark sein und helfen Deutschösterreich nicht
[wahrscheinlich auch auf Befehl Frankreichs] (S.245). Es
fliessen auch kaum Investitionen von aussen her. Im
Gegenteil: Es fliesst in Österreich erarbeitetes Kapital
ins Ausland für "ungefährdetere Anlagemöglichkeiten"
(S.246)
[weil dauernd eine kommunistische Gefahr durch die
wachsende Armut entsteht, und in Ungarn war ja eine
kommunistische Räterepublik unter Bela Kun bereits am
Werk. Ausserdem haben jugoslawische Terror-Truppen Teile
Österreichs besetzt und wollen trotz allen Anweisungen aus
Paris nicht verduften].
Statistik: Österreich ist mit
der Schweiz vergleichbar
-- Österreich hat 11 % unproduktiven Boden, mit 75,6
Menschen pro km2
-- die Schweiz hat 25 % unproduktiven Boden mit 79,8
Menschen pro km2 (S.255).
Die Ressourcen in Österreich
sind aber besser als in der Schweiz
Im Vergleich zur Schweiz verfügt Österreich über
Bodenschätze:
-- hochwertiges Eisenerz, Magnesit, Graphit, Salz
-- Kupfererz, Bleierz, Zinkerz, bei Investitionen besteht
eine Ausbau- und Konkurrenzfähig
-- Österreich hat auch ein grosses Potential an
Wasserkraft, das aber nicht ausgebaut ist, aber
ausländische Investoren sind interessiert
-- Österreich verfügt über einen grossen Holzreichtum
-- Österreich verfügt über eine z.T. sehr leistungsfähige
Agrarwirtschaft
Insgesamt gesehen ist das kleine Österreich [auch wenn es
ab 1919 das kleinste Österreich ist, das es je gegeben
hat], der Schweiz in den Produktionsgrundlagen "eindeutig
überlegen" (S.255).
Andere profitable Wirtschaftszweige in Rumpf-Österreich
sind Industrie, Handel, Fremdenverkehr, die
konkurrenzfähig sind (S.255).
Und es gibt noch viele andere kleinere Staaten mit weniger
günstigeren Voraussetzungen, die ihre Eigenständigkeit
behaupten. Dort diskutiert man nie über eine
"Lebensfähigkeit" (S.263).
Nur das Kapital zur Modernisierung fehlt (S.255), und
vorhandenes Vermögen wird auch nicht aktiviert (S.260),
sondern vorhandene österreichische Betriebe werden in die
Nachfolgestaaten verkauft. Es findet ein Ausverkauf mit
Scheingewinnen statt. Es sind Notverkäufe wegen der
Inflation (S.261).
[Ohne Glaube an das Land wird nicht investiert und
modernisiert. Vor allem wissen die Industriellen nicht,
wie es mit dem Land effektiv weitergeht, ob ein Anschluss
vielleicht doch noch kommt oder nicht. Und so investiert
vorerst niemand mehr...].
Österreich unternimmt keine
Umstellung - Österreich wird zum Spielball des Auslands
Schausberger: Österreich verpasst es,
"schlagartig von einer geschützten Binnenindustrie auf
eine konkurrenzumtoste Exportindustrie umzuschalten. Dies
erforderte Rationalisierung und Erhöhung der
Produktivität. Zur Reorganisierung wären aber grosse
Kapitalmittel notwendig gewesen. Es ist eine der
tragischen Wendemarken in der Geschichte der Ersten
Republik, dass es nicht gelang, die entsprechenden Gelder
im Inland flüssig zu machen. Der chronische Kapitalmangel
war schliesslich eine der Hauptursachen für die
stagnierende Investitionstätigkeit und die
Krisenempfindlichkeit der österreichischen Wirtschaft in
der Zwischenkriegszeit." (S.262)
Der Wertverfall der österreichischen Währung hat Folgen:
Die österreichischen Firmen werden zu Spielbällen
ausländischer Interessen. Österreichische Betriebe werden
zu Spekulationsobjekten (S.262).
[nicht erwähnt:
Italienische und jugoslawische Truppen besetzen Teile
Deutschösterreichs und verhindern mit Terror gegen die
Bevölkerung die Erntearbeiten, verstärken die Armut, und
schwächen das Investitionsklima und die Hoffnungslosigkeit
zusätzlich. Gleichzeitig hält die österreichische
Diplomatie Beziehungen zu Berlin mit der Planung des
Anschluss, gegen die Ängste Frankreichs. Es hängt also in
den Jahren 1919 und 1920 in Rumpf-Österreich wirklich
alles "in der Schwebe"].
1920
Es
fehlt die Hoffnung auf eine neue Zukunft
Die deutsche Propaganda schürt in Österreich das
Bewusstsein, dass der Kleinstaat nicht lebensfähig sei,
als "stärkste Waffe der deutschen Anschlussbestrebungen"
(S.236).
Die Wirtschaft in Österreich hat wenig Vertrauen, hat
wenig Zukunftshoffnung. Die Bevölkerung ist ohne
Selbstvertrauen. Es herrscht ein grosses Misstrauen und
geringe Kooperationsbereitschaft zwischen Unternehmen und
Arbeitnehmern (S.256).
Die "zweite Schweiz" zu bilden wird von der deutschen
Diplomatie, vom deutschen Expansionismus blockiert. Die
Legende, Österreich sei nicht "lebensfähig", kann sich
hartnäckig halten und ist wirtschaftlich wie mental
absolut verheerend (S.264).
Innere Propaganda und
Provinzialität blockieren die Umstrukturierung
Zudem gilt Wien als "Wasserkopf". Die Hauptstadt Wien sei
für das neue Rumpf-Österreich viel zu gross. Die
konservative Landbevölkerung will folglich nicht von einem
sozialistisch-roten Wien regiert werden. Es bildet sich
Widerstand gegen den Wiener Handel, und Wien wird als
"parasitäres Gebilde" angesehen (S.257). So entsteht kein
deutsch-österreichisches Staatsbewusstsein, sondern durch
die Manipulation von innen und von aussen entsteht ein
deutsches Nationalbewusstsein, und ausserdem entsteht als
Variation dazu ein regional gefärbtes, lokales
Stammesbewusstsein. Die Einstellung der Bevölkerung ist
somit geprägt von einer Sehnsucht nach Deutschland und ist
gleichzeitig geprägt von Provinzialität. Es herrscht eine
emotionale Blockade, die jede Umstrukturierung im Sinne
des neuen Rumpf-Österreichs blockiert (S.257).
Alle Faktoren zusammen wirken auf die
deutschösterreichische Bevölkerung psychologisch lähmend,
die als Kleinstaat nicht an sich glauben will (S.236).
[Diese Sehnsucht besteht eigentlich schon ab 1871, und
diese Sehnsucht besteht dann bis 1938 unterschwellig
weiter].
So blockieren sich die verschiedenen Strömungen in
Österreich selbst.
Schausberger:
"Dass auf diesem Wege die letzten Voraussetzungen einer
modernen Wirtschaftsorganisation für Deutschösterreich
verloren zu gehen drohen, versteht sich von selbst. Und
die Wiener Zentralregierung ist ohnmächtig, dagegen
einzugreifen, weil die Verwaltung der Länder nach der
Revolution [nach der Gründung der Republik
Deutschösterreich] den autonomen Landesbehörden (S.257)
anvertraut worden ist und ihr die Machtmittel fehlen, den
Landesregierungen den Staatswillen aufzuzwingen (S.258).
Verschiedene
Wirtschaftsgruppen bestreiten oder bestätigen die
"Lebensfähigkeit" von Rumpf-Österreich
-- die Gruppe um den Wirtschaftstheoretiker und
Bankpräsidenten Feilchenfeld erkennt die Fähigkeit
Rumpf-Österreichs für eine Autarkie
-- die Gruppe Kienböck-Kunwald glaubt dagegen an
die Lebensunfähigkeit und verlangt "fremde Hilfe"
für Österreich (S.258).
1922
Ignaz Seipel zweifelt an der
Lebensfähigkeit Österreichs, Viktor Kienböck bejaht die
Lebensfähigkeit
wobei jeweils verschiedene Interessengruppen
dahinterstehen (S.233).
Otto Bauer, der "Führer
der Sozialdemokratie", manipuliert die Diskussion um die
Lebensfähigkeit, um diese als "Waffe" für die
Anschlussbewegung an Deutschland einzusetzen. Die Politik
von Otto Bauer ist "propagandistische Taktik gegen die
Verträge von 1919" (S.233).
31.5.1922
Ignaz Seipel erklärt
Österreich aus taktischen Gründen für "lebensunfähig"
um Propaganda für den Anschluss an Deutschland zu machen
(S.234).
6.9.1922
Seipels Angabe vor dem
Völkerbund: Jetzt soll Österreich plötzlich doch
"lebensfähig" sein
(S.235)
4.9.1925
Expertengutachten der
Siegerstaaten zur Lebensfähigkeit Österreichs
Das Gutachten von Wirtschaftsredakteur
Walter Layton und dem Ökonomieprofessor Charles
Rist wird dem Völkerbundrat vorgelegt (S.232) mit
dem Titel:
"Die Wirtschaftslage Österreichs. Bericht der vom
Völkerbund bestellten Wirtschaftsexperten", Wien 1925.
Der Bericht von Layton und Rist gibt an:
-- die "negative Komponente" in der österreichischen
Wirtschaft sei nur vorübergehend
-- Hauptproblem seien die Absatzmärkte, die durch
Landesgrenzen verschlossen sind (S.232).
Die Profiteure der
Spekulation um Österreichs Lebensfähigkeit
-- sind Ausländer, die mit viel Geld mit österreichischen
Werten spekulieren
-- sind die Spekulanten, [die billig aufkaufen, nichts
machen, und nur auf einen Anstieg der Preise warten]
(S.264).
[Dabei gilt der Grundsatz: Auf Hilfe von aussen zu hoffen
macht einen selbst zum Opfer der äusseren Kräfte].