Bei unserem ersten Besuch im Haus des Professors Hassnain in
Srinagar (Foto 3)
Professor Hassnain und Frau Faber
erzählte uns dieser, wie und warum er sich für das Thema der
Reisen Jesu nach Kaschmir zu interessieren begann.
Als er sich in einem rauen Januar in Ladakh, einem bergigen
Grenzgebiet zwischen Kaschmir und Tibet befand, hielt ihn der
Schnee in dessen Hauptstadt Leh fest.
[Die Tagebücher der deutschen
Missionare Dr. Marx und Dr. Francke: Die Angaben "San Issa"
und "Nikolai Notowitsch" - Manuskripte im Lamakloster Hemis
bei Leh]
Um die Zeit totzuschlagen, beschäftigte sich Professor
Hassnain mit der Durchsicht alter Texte und Manuskripte, die
in den Bibliotheken der Lamaklöster von Leh aufbewahrt wurden.
So stiess er auf die 40-bändigen Tagebücher der deutschen
Missionare Dr. Marx und Dr. Francke, die einer religiösen
Gruppe angehörten, die die abgelegenen Orte der Welt
bereisten. Sie gingen nicht in die Hauptstädte wie Neu Delhi
oder Srinagar, sondern zu entfernteren Punkten wie z.B. Leh in
Ladakh. Das Tagebuch datierte aus dem Jahr 1894. Doktor
Hassnain, der kein Deutsch, die Sprache, in der das Tagebuch
geschrieben war, lesen konnte, wurde dennoch neugierig auf
dieses Manuskript und begann es durchzublättern. Dabei stiess
er auf einen Namen, der in Rot geschrieben war: San Issa.
Ausserdem fiel ihm der Name Nikolai Notowitsch auf. Da
Professor Hassnain den Text nicht lesen konnte, entschloss er
sich dazu, die beiden Seiten des Manuskripts, auf dem diese
Namen erschienen, zu fotografieren. Wie auf der Fotografie 43
zu erkennen ist, sind es die Seiten 118 und 119 des
Manuskripts.
Tagebuch der deutschen Missionare Dr. Marx und Dr. Francke,
Seiten 118 und 119
Nach seiner Rückkehr nach Srinagar liess sich Professor
Hassnain diese beiden Blätter übersetzen. Auf diese Weise
(S.43)
erfuhr er, dass sich die Missionare Dr. Marx und Dr. Francke
in ihrem Tagebuch auf Manuskripte bezogen, die Notowitsch in
dem Lamakloster Hemis, 38 Kilometer südöstlich von Leh
gelegen, gefunden hatte (Foto 44).
Lamakloster Hemis, 38 km südöstliche der Stadt Leh
(Hauptstadt von Ladakh)
Nach diesen von Notowitsch gefundenen Manuskripten ist Jesus
in Indien und in den nördlichen Regionen von Tibet und Ladakh
gewesen, und zwar genau während der 18 Jahre, in denen die
Bibel keine Auskunft über seinen Verbleib gibt. Die deutschen
Missionare schenkten den Berichten Notowitschs keinen Glauben.
Ebensowenig glauben die Verantwortlichen der Ahmadija-Bewegung
an diese erste Reise Jesu nach Indien. Im Gegensatz dazu ist
Professor Hassnain von der Echtheit des Zeugnisses von
Notowitsch überzeugt und glaubt, dass Jesus - nach der Rettung
vom Kreuzestod [[nach der Rettung vom Kreuz in Ohnmacht]] -
gerade deshalb nach Kaschmir geflüchtet sei, weil er dort
schon einmal gewesen war.
[Die Neugierde von Nikolai
Notowitsch in Kaschmir]
Aber gehen wir zu Notowitschs Text über. Nikolai Notowitsch
war ein russischer Reisender, der gegen Ende der achtziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Nordgebiete Indiens
erforschte und dabei bis nach Kaschmir und Ladakh - auch
bekannt als das "kleine Tibet" - vorstiess. Nachdem er Leh,
die Hauptstadt Ladakhs, besucht hatte, setzte Notowitsch seine
Reise zu dem Lamakloster von Hemis fort, einem der wichtigsten
der Region, das ausserdem eine umfassende Bibliothek von
heiligen Schriften beherbergt. Aber lassen wir Notowitsch
selbst seine Motive darstellen, die ihn ursprünglich dazu
bewegten, auf asiatischem Boden zu reisen:
"Nach der Beendigung des russisch-türkischen
Krieges (1877-1878) unternahm ich eine Reihe von Reisen
durch den Orient. Nachdem ich alle mehr oder weniger
interessanten Orte auf der Balkanhalbinsel besucht hatte,
überquerte ich den Kaukasus in Richtung Zentralasien und
(S.44)
Persien und zog 1887 nach
Indien, dem aussergewöhnlichsten aller Länder, für das ich
mich schon von jüngsten Jahren an interessiert habe."
"Das Ziel meiner Reise war
es, Kenntnisse über die Einwohner zu sammeln und ihre
Sitten, ihren Charakter, ihre grosse und mysteriöse
Archäologie und die grossartige und prachtvolle Natur des
Landes zu studieren."
"Als ich ohne einen
vorgefassten Plan von einem Ort zum anderen wanderte,
gelangte ich schliesslich in das bergige Afghanistan; von
dort aus machte ich mich über die malerischen Pässe von
Bolan und Guernia nach Indien auf den Weg. Nachdem ich dem
Indus stromabwärts bis Rawalpindi gefolgt war, durchquerte
ich das Punjab, das Gebiet der fünf Flüsse, und besuchte
den Goldenen Tempel von Amritsar und in der Nähe von
Lahore das Grab von Ranjit Sing, des Königs von Punjab.
Dann begab ich mich nach Kaschmir, dem "Tal des ewigen
Glücks". Um meine Neugierde zu befriedigen, begann ich
wieder unstet herumzuwandern, bis ich nach Ladakh kam, wo
ich beschloss, über den Karakorum und das chinesische
Turkestan wieder nach Russland zurückzukehren."
[Notowitsch-Herausgeber
Virchard R. Ghandi: Notowitsch folgte der Spur vorheriger
Wanderer: Bon Valot, Capus und Pepin - die Wanderung nach
Kaschmir - die Bezirkshauptstadt Karghil - streitlose
Menschen]
[[Virchard R. Ghandi ist auch Sekretär der Jaina-Gesellschaft,
siehe S.54]].
Virchard R. Ghandi, Herausgeber und Kommentator des Werkes von
Nikolai Notowitsch, führte im Juni 1894 im einzelnen aus, wie
Nikolai Notowitsch auf die Manuskripte stiess, die von Jesu
Leben auf dem Boden des Himalajas erzählen. Hier sein Bericht:
"Am Morgen des 27. Oktober 1887 verliess Herr Notowitsch
Srinagar, um sich nach Tibet zu begeben. Zu seinem Gefolge
gehörte auch ein grosser Hund, den er gekauft hatte und der
diese Reise vorher als Begleiter der berühmten
Entdeckungsreisenden Bon Valot, Capus und Pepin gemacht
hatte."
"Nachdem sie [[Notowitsch und sein Gefolge]] bei der Bergkette
angelangt waren, die das Kaschmir-Tal und das Sind-Tal
voneinander trennt, sah sich die Gruppe gezwungen, fast den
ganzen Weg - bis zu einem 1000 Meter hohen Gipfel - auf allen
Vieren zu kriechen; die Träger waren aufgrund der Last und
wegen der Angst, den steilen Abhang hinunterzurutschen, völlig
erschöpft."
"Beim Abstieg kamen sie durch die Dörfer Chokodar, Dras,
Karghil usw., in denen sie nur anhielten, um sich auszuruhen,
oder um Ersatzpferde zu besorgen. Karghil ist eine
Bezirkshauptstadt und sein Panorama ist wirklich malerisch.
Sie liegt dort, wo sich die beiden Flüsse Suru und Wakha
vereinigen, deren linkes Ufer dem Reisenden eine sehr
überraschende Aussicht bietet."
"Hier konnte Herr Notowitsch Ersatzpferde bekommen und setzte
seinen Marsch über eine Route fort, die ausserordentlich
beschwerlich war. Manchmal musste er sehr gefährliche Wege
gehen, eine wacklige Brücke überqueren, die, wie so viele in
Kaschmir, aus zwei Bündeln langer Stämme gebaut war, die in
Felsspalten befestigt wurden, über eine Reihe Steine klettern,
die im Fluss lagen, oder über Baumstämme balancieren, die über
den Fluss gelegt und mit Erde bedeckt waren."
"Beim Überqueren dieser Stellen musste der Reisende zittern,
wenn er nur daran dachte, dass einer der Steine sich
möglicherweise bewegen oder einer der Stämme abgleiten könnte,
denn dies hätte sicherlich die gesamte Konstruktion in den
Abgrund gestürzt, der sich darunter auftat."
Die Gruppe von Wanderern überquerte die Grenze von Ladakh oder
Klein-Tibet und war sehr überrascht, dort sanftmütige,
glückliche Menschen anzutreffen, die weder wussten, was ein
Streit ist, noch Gefallen daran fanden."
[Hochlandstämme:
Vielmännerei]
"Die Stämme der Hochländer, die die Vielmännerei praktizieren,
sind isolierte Lebensgemeinschaften, die keine (S.47)
soziale Bindung zu den Hindus haben. Auch in den Regionen des
Transhimalaja wird diese Sitte seit Menschengedenken gepflegt.
Die Polyandrie gab es bereits, lange bevor der Buddhismus im
Land aufkam. Diese Religion verdrängte schrittweise diese
Praktiken, die heute in den höheren und gebildeten Klassen
kaum noch vorkommen. Aus den von Herrn Notowitsch gegebenen
Beschreibungen geht deutlich hervor, dass er sich, wie andere
ausländische Reisende auch, seine eigene Meinung über die
Leute bildete, wobei er sich auf die Personen stützte, mit
denen er in Kontakt kam. Ich weiss zu gut, wie schwierig es
für einen Ausländer ist, Zugang zu den höheren Schichten der
orientalischen Gesellschaft zu bekommen."
"Nur wenn man die Beziehungen zu einem Einheimischen oder
einem Mitglied der Oberschicht hat, ergibt sich die
Gelegenheit, diese Gesellschaftsschicht kennenzulernen, was
ausserordentlich selten der Fall ist."
[Ortschaft Surghol - Kloster
Moulbek - Gebetsmühlen und Gebetssprüche - europäische und
muslimische Besucher - der echte und der falsche Dalai Lama
der Christen - Wer ist Issa (Jesus)? - ein Prophet der
Buddhisten, und die Bibel schweigt dazu]
"Aber lassen wir die Polyandrie und begleiten wir unseren
Wanderer auf seiner Reise. Von Karghil aus wandte er sich nach
Surghol, was zwanzig Meilen davon entfernt an den Ufern des
Wakha liegt."
"Nachdem er Surghol mit frischen Pferden verlassen hatte,
machte er als nächstes in der Stadt Wakha Halt. Auf einem
vereinzelten Felsen, der die Stadt überragt, erhebt sich das
Kloster Moulbek, zu dem er sich in Begleitung eines
Dolmetschers und eines schwarzen Dieners aufmachte und die
engen, in den Stein geschlagenen Stufen hinaufkletterte. Man
konnte dort die kleinen Gebetsmühlen sehen, die, senkrecht in
Felsnischen aufgebaut, wie kleine fellbespannte Trommeln
aussahen. Diese werden in der Senkrechten von einer Achse
durchquert, und sie fangen bereits an sich zu drehen, wenn die
leichteste Brise sie streift. Im allgemeinen werden mehrere
Mühlen in einer Reihe aufgestellt, die grösseren etwas
getrennt von den anderen, (S.48)
aber alle mit einem ähnlichen Fellbezug bespannt, der den
mystischen Spruch "Om mani padme hum" enthält, was so viel
bedeutet wie: "Om, Juwel der Lotusblüte, Amen."
Am Kloster angekommen, wurde der Reisende von einem
Lama[[-Mönch]] begrüsst, der die übliche gelbe Mönchskleidung
und eine Kopfbedeckung aus dem gleichen Stoff trug. Er hielt
in seiner rechten Hand eine Gebetsmühle aus Kupfer, die er von
Zeit zu Zeit in Drehung brachte, ohne die Unterhaltung zu
unterbrechen. Der Lama führte den Besucher durch längliche und
niedrige Gemächer und Säle, bis sie zu einer offenen Terrasse
gelangten, wo sie sich setzten und mit Erfrischungen bewirtet
wurden.
Dort wurde Tibetisch gesprochen, eine Sprache, die nur in den
Klöstern ihre ganze Reinheit behält. Die Lamas haben lieber
Europäer als Mohammedaner zu Besuch. Der Grund für diese
Bevorzugung wurde dem Reisenden so erklärt:
"Die Mohammedaner haben keinen gemeinsamen Nenner
mit unserer Religion. In ihrer kürzlichen und
erfolgreichen Kampagne zwangen sie viele Buddhisten mit
Gewalt dazu, sich zum Islam zu bekehren. Nun wird eine
grosse Anstrengung notwendig sein, um den Nachkommen
ehemaliger Buddhisten den Glauben an den wahren Gott
zurückzugeben. Bezüglich der Europäer liegt die Sache
völlig anders: sie bekennen sich nicht nur offen zu den
grundlegenden Prinzipien des Monotheismus, sondern sie
gehören auch - fast mit dem gleichen Anspruch wie die
tibetischen Mönche - zu den Bewunderern Buddhas. Der
einzige Fehler der Christen ist, dass sie sich, nachdem
sie die grosse Lehre Buddhas angenommen hatten, völlig von
ihr lösten und einen anderen Dalai Lama schufen. Nur der
unsrige hat die göttliche Gunst, Buddha von Angesicht zu
Angesicht (S.49)
zu sehen, und die
Fähigkeit erhalten, als Mittelsmann zwischen Himmel und
Erde zu dienen."
"Wer ist dieser Dalai Lama
der Christen, von dem sie soeben gesprochen haben?" fragte
Herr Notowitsch den Lama, "wir haben einen Sohn Gottes, an
den wir unsere frommen Gebete richten, und an ihn halten
wir uns, damit er für uns bei unserem einzigen und
unteilbaren Gott Fürbitte einlegt."
"Das ist nicht unser
einziges Problem, Sahib. Wir respektieren auch denjenigen,
den die Christen als Gottes Sohn anerkennen, aber wir
betrachten ihn nicht als solchen, sondern als den Besten
aus allen Auserwählten, Buddha ist mit seinem Geist in der
heiligen Person Issa wahrhaftig Fleisch geworden. Und Issa
kam ohne die Hilfe von Feuer und Schwert auf die Welt, um
unsere grosse und wahre Religion zu verbreiten. Aber ich
beziehe mich auf euren Dalai Lama, den, der sich als Vater
der Kirche bezeichnet. Darin liegt die grosse Sünde: kann
er die Sünder retten, die sich auf dem Irrweg befinden?"
sagte der Lama und setzte dabei seine Gebetsmühle in Gang.
"Sie haben mir gerade
erzählt, dass eigentlich ein Sohn Buddhas, nämlich Issa,
auserwählt wurde, um seine Religion in der Welt zu
verbreiten. Und ich frage: wer ist er?" antwortete Herr
Notowitsch.
Den Lama verwunderte die
Frage, aber er antwortete: "Issa ist ein grosser Prophet,
einer der ersten nach den zweiundzwanzig Buddhas. Er ist
grösser als alle Dalai Lamas, weil er einen Teil von
Gottes Geistigkeit ausmacht. Er ist derjenige, der ihnen
gepredigt hat; der die verlorenen Seelen auf den rechten
Weg bringt, Gott kennenzulernen; der (S.50)
sie würdig macht, die
Segnungen des Schöpfers zu empfangen; der jedes Wesen mit
der Kenntnis des Guten und des Bösen ausgestattet hat.
Sein Name und seine Taten sind in unseren Heiligen
Schriften aufgezeichnet, und wenn wir von seinem grossen
Leben lesen, das er zwischen irrenden Leuten verbracht
hat, dann beklagen wir die schlimme Sünde jener Heiden,
die ihn umbrachten, nachdem sie ihn den grausamsten
Foltern unterzogen hatten."
Herr Notowitsch war von diesen Worten des Lama und den
Kenntnissen seitens der Buddhisten über das Christentum
beeindruckt. All das liess ihn mehr an Jesus Christus denken,
und er bat den Dolmetscher, kein Wort seines Gesprächspartners
auszulassen. Dann fragte er den Lama, wo denn diese Heiligen
Schriften zu finden seien, und wer sie geschrieben habe.
"Die wichtigsten Schriftstücke", sagte der Lama,
"wurden in Indien und in Nepal in unterschiedlichen
Epochen - je nach dem Verlauf der Ereignisse -
zusammengestellt und sind in Lhasa zu finden. Ihre Anzahl
kann auf einige Hundert beziffert werden. In einigen der
grossen Klöster gibt es auch Kopien, die von den Lamas,
auch in unterschiedlichen Epochen, während ihres
Aufenthalts in Lhasa angefertigt wurden. Sie nahmen sie
als Erinnerung an ihren Aufenthalt in Begleitung des
grossen Meisters zu ihren Klöstern mit."
"Besitzen Sie keine der
Kopien bezüglich des Propheten Issa?"
"Nein, wir haben keine.
Unser Kloster ist von geringer Bedeutung, und seit seiner
Gründung haben die nachfolgenden Lamas nur einige hundert
Werke zum Eigengebrauch zusammengetragen. Die grossen
Klöster haben Tausende davon, (S.51)
aber es handelt sich um
heilige Gegenstände, und sie würden sie Ihnen nicht
zeigen."
Sie führten ihre Unterhaltung noch einige Zeit fort, und dann
zog sich Herr Notowitsch zu seinem Lager zurück und dachte
gründlich über die Worte des Lama nach. Issa, der Prophet der
Buddhisten! Wie war das möglich? Aufgrund seines jüdischen
Ursprungs lebte er in Palästina und Ägypten, und die Schriften
enthalten weder ein einziges Wort noch die allergeringste
Anspielung darauf, welche Rolle der Buddhismus in Jesu
Kindheit gespielt haben könnte.
Er entschloss sich, alle Klöster des Tibet zu besuchen, in der
Hoffnung ausführlichere Informationen über den Propheten zu
erlangen und vielleicht Kopien der Dokumente zu finden, die
man ihm angedeutet hatte.
[Notowitsch in Lamieroo - das
Kloster auf einem Felsvorsprung - Gebetsmühlen am Weg - die
Frage nach Manuskripten über Issa (Jesus)]
So setzte unser Reisender [[Notowitsch und sein Gefolge]] also
seine Reise fort und überquerte den Namikulapass in 4300
Metern Höhe. Er kam in der Stadt Lamieroo an und bezog in
einer Herberge Quartier, die genau unter den Fenstern eines
Klosters gelegen war. Sofort besuchten ihn mehrere Mönche und
bedrängten ihn mit Fragen bezüglich der Route, der er gefolgt
war, seines Reiseziels usw.
Lamieroo war - und das einige Jahre lang -, wie der Name schon
anzeigt, das Hauptquartier der Lamas und ihrer Religion. Auf
dem höchsten Teil eines vorstehenden Sattels auf einem
Felsvorsprung erhebt sich das alte Kloster. Der eigenartige
Steinbau ragt über der Stadt hervor, die sich mehr als hundert
Meter darunter befindet, mit ihren hie und da verstreuten, mit
Felszinnen hochaufgeschossenen Häusern. Einige Bauten säumen
den Weg und stehen - im Stile eines grossen Monuments - in
Gruppen von bis zu zwölf oder vierzehn zusammen. Sie sind etwa
zwei Meter hoch und, nach Aussage ihrer Bewohner, auf (S.52)
den Gräbern von verstorbenen Lamas und anderen buddhistischen
Heiligen errichtet. Aus diesem Grund sind sie in den Augen der
Gläubigen Heilig, die sich auf sie nur mit respektvollen
Ehrerweisungen und unzähligen "Om mani padme hum" beziehen.
Nach einer kurzen Unterredung luden die Mönche Herrn
Notowitsch zu einem Besuch in ihrem Kloster ein, worauf der
Fremde sofort einging und ihnen auf dem steilen, in den
nackten Felsen eingeschnittenen Pfad folgte. Auch hier stand
eine Gebetsmühle nach der anderen, die so ausgerichtet waren,
dass sie sich beim geringsten Kontakt drehten, was
unvermeidlich ist, wenn man einen derartig schmalen Weg
hinaufgeht.
Der Reisende wurde in ein Zimmer geführt, dessen Wände mit
Büchern, Gebetsmühlen und zahlreichen Buddhastatuen
ausgeschmückt war. Er fragte nach dem Manuskript bezüglich des
Issa, von dem ihm der Lama im Kloster von Moulbek erzählt
hatte, aber man antwortete ihm, dass sie in Lamieroo keine der
Schriftstücke besitzen. Dennoch gab einer der Mönche zu, viele
Kopien eines solchen Manuskripts in einem Kloster in der Nähe
von Leh gesehen zu haben, wo er einige Jahre verbracht hatte,
bevor er nach Lamieroo geschickt wurde. Trotz dieser
Darstellung gelang es dem Besucher nicht, von dem Mönch den
Namen des Klosters, wo die Schriftstücke aufbewahrt werden, zu
erfahren.
[Die Mönche halten wegen
schlechten Erfahrungen mit Muslimen und "christlichen"
Missionaren die heiligen Schriftstücke geheim]
"Die Europäer haben die Beweggründe noch nicht verstanden,
warum sich die Mönche und andere Hüter der heiligen Literatur
des Orients so widerspenstig zeigen, vollständige Auskünfte
über ihre Manuskripte zu geben, während sie mit Vergnügen die
Bedeutung anderer heiliger Gegenstände erklären. Ebensowenig
verstand Herr Notowitsch, warum die Mönche von Lamieroo sich
weigerten, ihm die gewünschte Information über die
Schriftstücke bezüglich (S.53)
Jesus Christus zu geben. Dr. Peterson, ein Professor für
orientalische Sprachen, machte eine ähnliche Erfahrung. In
Cambay (Indien) gibt es eine berühmte Bibliothek von
Jaina-Manuskripten. 1885 wollte Dr. Peterson die Manuskripte
der besagten Bibliothek untersuchen. Deshalb bat er die dafür
Verantwortlichen um Erlaubnis; die Existenz einer solchen
Bibliothek wurde jedoch kategorisch geleugnet. Professor Roth
aus Tübingen wollte wissen, ob es in der brahmanischen
Bibliothek von Gualior ein Manuskript des Atharva Veda gebe,
erhielt aber auch keine Auskunft, obwohl der politische
Abgeordnete der Region seinen gesamten Einfluss einsetzte, um
ihm ein Exemplar des Dokuments zu besorgen. Dr. Bandarkar vom
Poona-Kollegium des Dekkan gelang es nur, einige wenige
Manuskripte der Jaina-Bibliothek von Patan zu untersuchen, und
das nur durch den Einfluss des regierenden Prinuen, seiner
Hoheit Gaikwar von Baroda. Dr. Buhler und Dr. Kielhorn aus
Wien bzw. aus Leipzig sind so naiv zu glauben, dass sie
die komplette Sammlung von Jaina-Manuskripten von Jesalmer
untersucht haben; ich weiss jedoch mit Sicherheit, dass die
wichtigste Sammlung niemals einem Ausländer gezeigt worden
ist. Wie ich bereits gesagt habe, können die Europäer die
Gründe dafür, dass sie bei der Suche nach alten Manuskripten
auf soviele Hindernisse stossen, nicht verstehen. Für mich
jedoch, als Sekretär der Jaina-Gesellschaft Indiens, ist der
Grund sehr einfach. Erstens haben die Mohammedaner, die Indien
überfielen, zu Hunderten und Tausenden unsere heiligen
Manuskripte verbrannt, und zweitens bemächtigten sich die
ersten christlichen Missionare einiger solcher Manuskripte, um
sich über sie lustig zu machen und ihre Bedeutung
herabzuspielen, so wie es selbst heute noch aus dem vielen
Unsinn zu entnehmen ist, den sie im Land selbst über die
Religionen der Leute veröffentlicht haben. So ist es nicht
verwunderlich, (S.54)
dass Hinduisten und Jainas immer dagegen waren, ihre
Manuskripte mit den Ausländern zu teilen.
Der Tibet, und im besonderen Ladakh, haben die gleichen
Erfahrungen gemacht. Ein alter tibetischer Herrscher namens
Landar, auch Langdharma genannt, versuchte im Jahre 900, die
buddhistische Lehre abzuschaffen. er ordnete an, dass alle
Tempel und Klöster niedergerissen, alle Bilder zerstört, und
alle Bücher verbrannt werden sollten. Die Entrüstung, die
diese frevelhafte Anordnung hervorrief, war so gross, dass er
noch im selben Jahr ermordet wurde. Im 16. Jahrhundert wurden
die auf Ladakh bezogenen Geschichtsbücher von den Fanatikern
aus Skardu zerstört, die das Land überfielen und dabei
Klöster, Tempel und religiöse Monumente abbrannten und den
Inhalt mehrerer Bibliotheken in den Indus warfen. Ist es also
verwunderlich, dass der Lama des Klosters von Lamieroo
gegenüber der ständigen Fragerei des Herrn Notowitsch
misstrauisch war?
[Notowitsch in der Festung
von Khalsi - Notowitsch in Leh - die Frage nach Manuskripten über Issa (Jesus)]
Nach Lamieroo richtete Nikolai Notowitsch seine Aufmerksamkeit
voller Entschlossenheit auf Leh, um die fraglichen Dokumente
zu bekommen. Falls nicht, würde er nach Lhasa gehen. In der
Folge passierte er wieder schwierige Schluchten, gefährliche
Pässe und wunderschöne Täler, und kam dabei auch an der
berühmten Festung von Khalsi vorbei, die zu Zeiten der
Mohammedanerinvasion gebaut worden war. Dies war der einzige
Weg, um von Kaschmir nach Tibet zu gelangen. Durchkreuzt man
das Saspula-Tal, kann man - bereits in der Nähe der Ortschaft
gleichen Namens - zwei Klöster sehen. Unser Reisender war
überrascht, als er beobachtete, dass auf einem der beiden eine
französische Fahne wehte, ein Geschenk - das erfuhr er später
- eines französischen Ingenieurs, das die Mönche zur
Dekoration benutzten. (S.55)
Herr Notowitsch verbrachte die Nacht in dem Ort und besuchte
dann die Klöster. Die Mönche zeigten ihm freudig ihre Bücher,
Schriftrollen, Bildnisse von Buddha und Gebetsmühlen und
erklärten ihm in aller Höflichkeit und Geduld die Bedeutung
der geheiligten Gegenstände. Auch hier erhielt Herr Notowitsch
die gleichen Antworten auf seine Fragen; dass zum Beispiel nur
die grossen Klöster Kopien besitzen, die von dem Propheten
Issa handelten.
Der Reisende machte sich jetzt eilig nach Leh auf; jetzt nur
noch mit dem einzigen Ziel, eine Kopie der buddhistischen
Schriften über das Leben Jesu Christi zu erlangen. Vielleicht
geben diese Auskunft über das gesamte Leben des Besten unter
den Menschen und enthalten die Einzelheiten, die uns die
Heilige Schrift nur in einer sehr verwirrenden Weise
überliefert hat, dachte er.
In Leh angekommen, quartierte sich Herr Notowitsch in einem
Bungalow ein, der speziell für die Europäer gebaut wurde, die
dort über die Indienroute in der Jagdsaison ankamen.
Leh, die Hauptstadt von Ladakh, ist eine kleine Stadt mit 5000
Einwohnern und ist auf Felsgipfeln gebaut. Von weitem gesehen
macht sie vor allem wegen ihres auf einer Erderhebung
errichteten Palastes einen überwältigenden Eindruck. Seine
siebenstöckige Front misst seitlich 83 [[?]]. Oberhalb des
Palastes steht auf einem felsigen Gipfel ein Kloster mit
bemalten, mit Fahnen geschmückten Zinnen. Im Stadtzentrum
befindet sich der Marktplatz, wo Händler aus Indien,
Turkestan, China, Kaschmir und Tibet ihre Waren gegen
tibetisches Gold eintauschen.
Der Gouverneur von Ladakh, Vizier Surajbal, der in London den
Titel für Philosophie erlangt hat, lebt in einem grossen
zweistöckigen Gebäude mitten im Stadtzentrum. Zu Ehren des
ausländischen Gastes organisierte er auf dem (S.56)
Marktplatz eine Polopartie und am Nachmittag andere Spiele und
Tänze, gegenüber seiner Terrasse.
[Das Kloster von Hemis -
religiöse Dramen Tambin Shi]
Am nächsten Tag besuchte Herr Notowitsch das berühmte Kloster
von Hemis, das - etwa 32 Kilometer von Leh entfernt - von
einem hohen Felsen mitten im Tal über den Indus herausragt.
Hemis ist eines der wichtigsten Klöster des Landes und besitzt
eine umfangreiche Bibliothek heiliger Schriften.
Die Eingangstür ist etwa zwei Meter hoch und man muss ein paar
Treppen zu ihr hinaufsteigen. Die breiten, massiven und mit
lebendigen Farben bemalten Türen öffnen sich zu einem mit
Steinplatten gepflasterten Hof. Im Inneren befindet sich der
Haupttempel mit einer grossen Buddhastatue und einigen
kleineren Statuen. Links eine Veranda mit einer riesigen
Gebetsmühle und rechts - einer neben dem anderen - die
Wohnräume der Mönche, die mit heiligen Malereien und
Gebetsmühlen geschmückt sind.
die Fenster des obersten Stockwerks haben an der nach aussen
zeigenden Seite keine Fenster, sind aber durch schwarze
Gardinen verschlossen, auf die Figuren in Form des
lateinischen Kreuzes genäht sind, die aus zwei Stoffstreifen
bestehen. Das Kreuz wird in verschiedenen Formen von allen
antiken Völkern als mystisches Symbol anerkannt.
Als Herr Notowitsch ankam, fand er alle Mönche des Klosters
mit ihrem Vorgesetzten in einer kreisförmigen Aufstellung um
die grosse Gebetsmühle herum vor. Unterhalb der Veranda waren
einige Musiker mit Trommeln und Trompeten zu sehen. Alle
Anwesenden warteten sehnsüchtig und in Ruhe auf den Beginn des
grossen Mysteriums - ein religiöses Drama -, das gefeiert
werden sollte. Diese religiösen Dramen werden von den Lamas an
bestimmten Tagen des Jahres aufgeführt, und sie nenne sie
Tambin (S.57)
Shi, "das Glück der Lehre". Manchmal wird die Vorführung zu
Ehren von vornehmen Gästen des Klosters gegeben. Die
maskierten Schauspieler stellen ein Traumbild der
verschiedenen Stadien der Existenz dar: Geist, Mensch, Tiere
usw. Das Fest mit seinen Gesängen, Musik und Tänzen dauerte
mehrere Stunden. Am Ende lud der oberste Lama den Besucher
ein, ihn auf die Hauptterrasse zu begleiten, wo sie den Chang
des Festes tranken (eine Art fades Bier).
Anlässlich dieser Feier erklärte der Lama dem Besucher, dass
die gesamte Theatervorführung einem einzigen religiösen Ziel
diene, nämlich dem Gläubigen die grundlegenden Prinzipien des
Buddhismus nahezubringen. Dies sei ein praktisches Mittel, den
Unwissenden zum Gehorsam zu bringen, so dass er seine Liebe
dem einzigen Schöpfer schenkt, wie die Eltern ihre kleinen
Kinder durch ein Spielzeug in Schach halten. Im Laufe des
Jahres feiern diese Klöster mehrere Festspiele, die jeweils in
allen Einzelheiten von den Lamas vorbereitet werden. Die
Mysterien besitzen eine starke Analogie zur Pantomime, bei der
jeder Darsteller fast alle Bewegungen und Gesten nach eigenem
Wunsch ausführt, sich jedoch immer nach einer Grundidee
richtet. Die Mysterien dieser Pantomimenaufführungen stellen
nur die Freude der Götter über die allgemeine Ehrerbietung
dar, die den Menschen - als Gegenleistung - die Glückseligkeit
ihres Gewissens bringen und von der die Ideen des
unvermeidlichen Todes und des zukünftigen Lebens abgeleitet
werden. Herr Notowitsch nutzte die erste Gelegenheit, um über
die Sache zu sprechen, die ihn interessierte, und sagte dem
Lama, dass man ihm bei einem kürzlichen Besuch eines Gonpas
von dem Propheten Issa erzählt habe und bat gleich darauf um
mehr Information über diese Angelegenheit. (S.58)
[Die Geschichte des
Buddhismus - die Geburt des Issa - die Schriften über Buddha
Issa (den Buddha Jesus)]
Der Lama antwortete:
"Der Name Issa wird unter den Buddhisten hoch
geachtet. Er ist aber, ausser von einigen wenigen Lamas,
wenig bekannt. Jene Lamas sind es auch, die die
Schriftrollen über sein Leben gelesen haben. Es gibt eine
unzählige Menge von Buddhas, die Issa ähneln, und die
existierenden Schriftrollen sind voll von Einzelheiten
über sie, aber es gibt nur sehr wenige Personen, die auch
nur einen hundertsten Teil dieser Dokumente gelesen haben.
Es ist ein festgelegter Brauch, dass jeder Schüler oder
Lama, wenn er Lhasa besucht, dem Kloster, dem er angehört,
eine oder mehrere dieser Kopien schenkt. Unser Kloster
besitzt eine ganze Menge davon; einige enthalten
Beschreibungen des Lebens und des Werkes von Buddha Issa,
der die heiligen Lehren in Indien und unter den Söhnen
Israels predigte. Er wurde von den Heiden zum Tode
verurteilt, deren Nachfahren dann den Glauben, den er
gepredigt hatte, und der ihrer ist, annahmen. Der grosse
Buddha, die Seele des Universums, ist die Inkarnation
Brahmas. Er bleibt fast immer unbeweglich, schlisst dabei
alle Dinge - vom Ursprung der Wesen an - in sich ein, und
sein Atem gibt der Welt Leben. Er hat dem Menschen seinen
freien Willen gelassen. Dennoch gibt er manchmal seine
Untätigkeit auf und verkleidet sich als Mensch, um seine
Kreaturen auf die Probe zu stellen und sie vor der
unwiderruflichen Zerstörung zu retten. Im Verlauf seiner
irdischen Existenz schafft Buddha unter den verirrten
Menschen eine Neue Welt, verschwindet dann wieder von der
Erde, verwandelt sich erneut in ein unsichtbares Wesen,
und kehrt zu seinem Leben voller Glückseligkeit zurück.
Vor dreitausend Jahren stellte sich der Buddha als der
berühmte Prinz Sakiamuni dar, der die Lehre seiner zwanzig
Inkarnationen verteidigte und verbreitete. Vor
zweitausendfünfhundert Jahren wurde die grosse Seele der
(S.59)
Gautama wieder zu Fleisch
und begünstigte die Gründung eines neuen Königreichs in
Birma, in Siam und auf einigen Inseln. Danach breitet sich
der Buddhismus dank der Ausdauer einiger weiser Männer,
die sich der Verbreitung der heiligen Lehre widmeten, bis
nach China aus. Während der Herrschaft von Ming-Ti, der
Honi-Dynastie - etwa um 2500 vor Christus -, wurden die
Lehren von Sakiamuni vom Volk angenommen. Zur gleichen
Zeit, wie der Buddhismus in China auftauchte, begann sich
die Lehre auch unter den Israeliten auszubreiten. Vor
ungefähr zweitausend Jahren kam das vollkommene Sein, da
sich noch im Stadium der Untätigkeit befand, in Form eines
Neugeborenen einer armen Familie auf die Welt. Es war sein
Wille, dass die Lippen dieses Kindes, um es einmal in
einem gängigen Bild auszudrücken, die armseligen Menschen
über das Leben im Jenseits aufklären und bewirken sollten,
dass die Verirrten wieder auf den wahren Weg
zurückkehrten. Mit seinem eigenen Beispiel zeigte er
ihnen, wie sie am besten zu der ursprünglichen moralischen
Reinheit gelangten. Als das heilige Kind ein bestimmtes
Alter erreicht hatte, ging es nach Indien, wo es, bis es
zum Manne wurde, alle Regeln des grossen Buddha studierte,
dessen ewige Ruhestätte der Himmel ist.
Die Schriftrollen
bezüglich des Lebens von Issa, die von Indien zum Nepal
und von dort nach Tibet gelangt sind, sind in der
Pali-Sprache geschrieben. Man kann sie in Lhasa finden,
aber es gibt hier eine Kopie in unserer Sprache
(tibetisch). Aber das gemeine Volk kennt Issa nicht. Es
gibt kaum jemanden, der etwas über ihn weiss, wenn er kein
Lama ist, weil diese ihr ganzes Leben damit verbracht
haben, die Schriftrollen, in denen von Issa die Rede ist,
zu studieren. Da aber seine Lehre keinen kanonischen Teil
des Buddhismus darstellt, und da Issas Anhänger, die
Christen, (S.60)
die Autorität des Dalai
Lama des Tibet nicht anerkennen, wird der Prophet Issa -
wie andere - nicht als einer der wichtigsten Heiligen
angesehen.
Herr Notowitsch fragte dann, ob es eine sündhafte Tat sei,
einem Ausländer aus diesen Kopien vorzulesen, worauf der Lama
antwortete:
"Was Gott gehört, gehört auch den Menschen. Wir
sind dazu verpflichtet, guten Willens an der Verbreitung
seiner Lehre mitzuarbeiten. Ich weiss nur nicht, wo sich
diese Schriftrollen in unseren Bibliotheken befinden. Wenn
Sei irgendwann einmal wieder unsere Gonpa besuchen, wird
es mir ein Vergnügen sein, sie Ihnen zu zeigen."
Darauf erhob sich der Lama und sagte, dass man ihn für die
Opfer brauche. Er entschuldigte sich freundlich und verschwand
- mit einem Gruss an den Besucher - durch die Tür.
[Notowitschs Rückkehr nach
Leh]
Dem enttäuschten Reisenden blieb nichts weiter übrig, als nach
Leh zurückzukehren und einen Plan auszuarbeiten, der es ihm
unter einem guten Vorwand erlauben würde, in das Kloster
zurückzukehren. Zwei Tage später schickte er dem ersten Lama
als Geschenk einen Wecker und einen Thermometer mit der
Mitteilung, dass er dem Kloster wahrscheinlich einen weiteren
Besuch abstatte, bevor er sich nach Ladakh aufmache, und dass
er hoffe, bei der Gelegenheit die gütige Erlaubnis zu haben,
die Schriftrollen zu untersuchen.
Herr Notowitsch hatte vor, nach Kaschmir zu reisen und erneut
nach Hemis zurückzukehren, um so jeglichen Verdacht zu
vermeiden, den sein Beharren bezüglich der Schriftrollen über
das Leben von Issa hätte erwecken können. Aber das Schicksal
zeigte sich ihm wohlgesonnen, (S.61)
denn als er den Berg überquerte, auf dessen Gipfel sich die
Gonpa von Pittak befindet, stolperte sein Pferd und riss
unseren Reisenden zu Boden, der sich dabei ein Bein brach. Da
er nicht nach Leh zurückkehren wollte, befahl er seinen
Trägern, ihn zum Kloster nach Hemis zu bringen, wo er
freundlich aufgenommen und behandelt wurde.
Herr Notowitsch erzählt:
"Am Morgen schiente ich das Bein mit ein paar
Stöckchen, die ich mit einem Band befestigte. Ich
versuchte, keine unnötigen Bewegungen zu machen und konnte
bald erste Fortschritte feststellen. Zwei Tage darauf war
ich imstande, die Gonpa zu verlassen und eine langsame
Reise nach Indien zu unternehmen, um einen Arzt
aufzusuchen.
Während ein Junge dauernd
die Gebetsmühle in Drehung hielt, die sich in der Nähe
meines Bettes befand, unterhielt mich der ehrenwerte Alte
mit endlosen Geschichten. Oft nahm er den Wecker und meine
Uhr, um mich zu fragen, wie man sie aufzieht und benutzt.
Schliesslich gab er meinen eindringlichen Fragen nach und
holte zwei gebundene Bücher herbei, deren grosse
Papierblätter mit der Zeit schon vergilbt waren. Dann las
er mir die Biographie Issas vor, die ich mir sorgfältig in
mein Notizbuch mitschrieb, so wie sie mir mein Dolmetscher
übersetzte. Das eigenartige Dokument ist in getrennten
Abschnitten geschrieben, die oft keine Beziehung
untereinander haben.
Am dritten Tag hatte sich
mein Zustand derartig gebessert, dass ich meine Reise
fortsetzen konnte. Mit dem verbundenen Bein durchkreuzte
ich auf dem Weg nach Indien noch einmal Kaschmir.
Seit langer Zeit will ich
das Leben von Jesus Christus, das ich in Hemis fand und
von dem ich bereits gesprochen habe, (S.62)
veröffentlichen, aber
meine zahlreichen Beschäftigungen liessen das nicht zu.
Jetzt aber, da ich lange Nächte ruhelos mit dem Sortieren
meiner Notizen beschäftigt war, und nachdem ich die Verse
der Erzählung entsprechend geordnet und dem Ganzen den
Charakter einer gewissen Einheit gegeben habe, habe ich
mich dazu entschlossen, dieses eigenartige Dokument zu
veröffentlichen." (S.63)