Wien/Graz – Die Forschung hat
mittlerweile viele althergebrachte
Annahmen und Regeln über die Entstehung
von Lawinen widerlegt, erklärte der
Alpinwissenschafter Walter Würtl. Doch die
Datenlage über die Todesursachen der
Verschütteten sei weiterhin schlecht, die
Lawinenforschung in Österreich für ein
Alpenland nicht adäquat vertreten, sagte
er anlässlich eines Symposiums, das am
Samstag in Graz stattfindet.
"Das 'Allgemeinwissen' über die Lawinen
war und ist nämlich in vielen Fällen
falsch", so Würtl. Zum Beispiel habe man
angenommen, dass in Hängen mit frischen
Spuren von Tieren wie etwa Gämsen, Füchsen
oder Steinböcken keine Lawinen abgehen.
Wissenschafter konnten aber das Gegenteil
nachweisen. Ebenso würde entgegen der
üblichen Meinung der Abgang sogenannter
Gleitschneelawinen – hier gerät die
gesamte Schneedecke auf einem glatten,
feuchten, meist grasbewachsenen Untergrund
ins Rutschen – kaum mit der
tageszeitlichen Erwärmung zusammenhängen.
Es gibt keine "Standardlawinen"
Eine "recht schlüssige Vorstellung" haben
die Forscher mittlerweile, was mit der
Schneedecke beim Anbruch von Lawinen
passiert, erklärte Würtl. "Ein
Grundproblem ist aber, dass es nicht so
etwas wie 'Standardlawinen' gibt, sondern
das Zusammenspiel von vielen Wetter- und
Geländefaktoren, und der stets anders
aufgebauten Schichtung der Schneedecke
immer ein extrem komplexes Bild ergeben,
das noch dazu jeden Tag anders ist", sagte
er. Derzeit würden sämtliche verfügbaren,
modernen Methoden wie Computertomografie,
Laser oder Satellitentechnologie
eingesetzt, um den Lawinen komplett auf
die Schliche zu kommen.
Intensiv untersucht werde auch von den
Medizinern, wie es den Opfern einer
Verschüttung ergeht. Hier sei es aber
problematisch, dass die Datenlage vor
allem zu den Todesopfern sehr dünn ist,
meinte Würtl. "Natürlich stellt stets ein
Arzt den Tod fest, aber wenn zum Beispiel
nicht der Körper durchgefroren oder der
Hals extrem nach hinten geknickt ist, wird
in der Regel ein Erstickungstod
festgestellt", sagte Würtl. Um
evidenzbasierte Schlüsse zu den
Todesursachen zu ziehen, seien Obduktionen
bei möglichst jedem Lawinentoten nötig.
Bis 65 Prozent ersticken
In jüngster Zeit hat sich aber
herausgestellt, dass der Anteil der
"mechanischen" Todesursachern größer ist
als früher angenommen. Ein knappes Drittel
der Lawinenopfer sterben an Verletzungen,
etwa weil sie von Lawinen gegen Felsen
geschleudert wurden. Bei etwa fünf Prozent
ist der Tod Folge von gleichzeitig
Sauerstoffmangel, einem Überangebot an CO2
und Auskühlung, erklärte Würtl. Erstickung
sei mit 60 bis 65 Prozenten aber die
häufigste Todesursache.
"Hier ist seit einiger Zeit bekannt, dass
rund 90 Prozente der Verschütteten die
ersten 18 Minuten überstehen, und es dann
zu einem schnellen Abfall der
Überlebenschancen kommt", sagte er. Diese
Kurve sei aber anhand von Algorithmen
erstellt worden und basiere nicht auf
harten Daten, denn bei den meisten Opfern
sei der genaue Todeszeitpunkt unbekannt.
"Außerdem würde sie implizieren, dass die
Retter 18 Minuten Zeit hätten, um einen
Verschütteten auszugraben, doch es gibt
auch das sogenannte schnelle Ersticken",
so der Experte. Manche Personen konnten
nach wenigen Minuten geborgen werden und
waren bereits in dieser Zeit erstickt.
Sensationsverschüttung im Vorjahr
"Im vergangenen Jahr gab es aber wiederum
eine 'Sensationsverschüttung', wo ein
Oberösterreicher nach neun Stunden lebend
geborgen werden konnte, obwohl er leicht
bekleidet und die Lawine nass war, was
eigentlich eine schlechte Prognose ist",
erklärte Würtl. Dies zeige, dass man die
Folgen einer Verschüttung schwer
verallgemeinern könne und es
gerechtfertigt ist, dass die Bergretter
und Notfallmediziner auch nach längerer
Zeit große Anstrengungen unternehmen, um
ein Opfer zu suchen, bergen und versorgen.
Die Lawinenforschung sei in Österreich
zerstreut und es gäbe keinen zentralen
Ansprechpartner. "Vereine wie die
Naturfreunde, der Alpenverein und das
Kuratorium für alpine Sicherheit zeichnen
vor allem für Strategien für die
Tourengeher verantwortlich, die
Lawinenwarndienste der Bundesländer
leisten bei der Prävention und Warnung
einen entscheidenden Beitrag, und etwa das
Bundesforschungszentrum für Wald und die
Stabsstelle der Wildbach- und
Lawinenverbauung sind mit Großlawinen
befasst, die Siedlungsräume bedrohen",
erklärte er. Die universitäre Forschung
sei in Österreich nicht in dem Maß
vertreten, wie man es sich für ein alpines
Land denken würde. Freilich gäbe es auch
hier Wissenschafter und Institute, die
Lawinenforschung betreiben, doch dies
seien meist Einzelkämpfer mit
Einzelaufträgen.
Rucksack-Airbagsysteme können Leben
retten
Die Entwicklung der technischen
Ausrüstung würde man wiederum der
Industrie überlassen. "Dementsprechend
gibt es viele Produkte am Markt, die nicht
auf Basis von wissenschaftlichen
Erkenntnissen gefertigt sind, sondern eher
aufgrund verkauftstechnischer
Überlegungen", meint er.
Rucksack-Airbagsysteme könnten aber die
Überlebenschancen laut neuesten
Erkenntnissen um rund 10 Prozente steigern
und seien deshalb zu empfehlen. Sie würden
freilich die Standardausrüstung im
ungesicherten Gelände nicht ersetzen: Ein
Verschüttetensuchgerät, Lawinenschaufel
und -Sonde, sowie ein Mobiltelefon und
Erste Hilfe Paket müsste jeder dabei
haben.
Das "Internationale Lawinensymposium"
wird von den Naturfreunden Österreich und
der Zentralanstalt für Meteorologie und
Geodynamik (ZAMG) organisiert und findet
mit öffentlichen Vorträgen und
Diskussionen am 10.10. in Graz statt.
(APA, 9.10.2015)