[Statistiken von 1946-1950 über
die Sterblichkeit in Deutschland in der
Nachkriegszeit - oft unvollständig]
Die folgenden Tabellen zeigen die von einigen
westdeutschen Orten im Zeitraum 1946-1950
gemeldeten Sterblichkeitsraten. In den meisten
Fällen handelt es sich um relativ hohe Werte. Die
Statistiken sind oft unvollständig. Die meisten
der Orte, die Sterblichkeitsraten nahe oder unter
der vom Statistischen Bundesamt für ganz
Deutschland angegebenen
12,1-Promille-Sterblichkeitsrate melden, weisen
gewisse Charakteristika auf, die ihre
Unzuverlässigkeit belegen, z.B. Karlsruhe und
Bonn.
Bemerkungen zu Tabelle A
[Brilon: Auskunftsverweigerung wegen
"Personalmangels"]
Brilon: Als ich Angestellte der Stadt Brilon im
Jahr 1995 um Sterbestatistiken für die Jahre 1945-49
bat, wurde mir gesagt, dass man aus Personalmangel
meiner Bitte nicht nachkommen könne. Während meiner
Nachforschungen in Ottawa stiess ich jedoch auf die
Kopie eines dreiseitigen Berichts, der im Jahr 1946
vom Bürgermeister von Brilon angefertigt und dem
kanadischen Militärgouverneur übergeben worden war.
1) Report on Brilon MG [Military Governor
(US-Militärgouverneur)] B51, Band 1, File Friesen G.A.
1945-46, NAC [National Archives of Canada, Ottawa].
Er enthielt die in der Tabelle angegebenen Zahlen.
Eine Kopie davon habe ich nach Brilon geschickt
[S.271].
Tabelle
A: [Todesraten in Rest-Deutschland der
Nachkriegszeit 1945-1950]
|
Ort
|
Jahr
|
Bevölkerung
|
Zahl der Todesfälle
|
Sterblichkeitsrate
|
Bad Kreuznach [1]
(französische Zone)
|
1946
|
26.096
|
1010
|
38,7%o
|
|
1947
|
27.233
|
743
|
27,3%o
|
|
1948
|
26.768
|
637
|
23,8%o
|
|
1949
|
ca. 27.000
|
569
|
21.1%o
|
|
|
|
|
|
Berlin [2]
(Viermächteverwaltung)
|
1945/46
|
2.600.000
|
|
46,2%o
|
|
1947
|
3.000.000
|
|
28,5-29%o
|
|
|
|
|
|
Brilon [3] (britische Zone)
|
1945/46
|
71.110
|
2224
|
31,3%o
|
|
|
|
|
|
Königsberg [4] (unter
sowjetischer Verwaltung)
|
April 1945 bis
März 1947
|
100.000 (April
1945)
|
75.000
|
750%o
|
|
|
|
|
|
Landau in der Pfalz
(französische Zone)
|
1946
|
19.910
|
787
|
39,5%o
|
|
1947
|
20.802
|
563
|
27,0%o
|
|
1948
|
21.694
|
513
|
23,6%o
|
|
1949
|
22.426
|
462
|
20,6%o
|
|
1950
|
23.188
|
485
|
20,9%o
|
|
|
|
|
|
Marktoberdorf (US-Zone)
|
1946
|
4318
|
119
|
27,6%o
|
|
1947
|
4557
|
112
|
24,6%o
|
|
1948
|
4648
|
80
|
17,2%o
|
|
1949
|
4913
|
121
|
24,6%o
|
|
1950
|
5085
|
138
|
27,1%o
|
Anmerkungen
zur Tabelle A
[1] Bad Kreuznach: Soweit nicht anders
angemerkt, entstammen die Zahlen den
jeweiligen Stadtarchiven.
[2] Berlin:
-- 1945/46: Maurice Pate, Reports on Child
Health and Welfare Conditions, FEC [Famine
Emergency Committee] Papers, Box 15,
Stanford;
-- Konrad Adenauer, Rede vor dem Schweizer
Bundesrat am 23. März 1949; In: Erinnerungen
1945-53, S. 187;
-- Ernst-Günther Schenck: Das menschliche
Elend im 20. Jahrhundert, S. 68;
-- Gustav Stolper: Die deutsche
Wirklichkeit, S. 51; und:
-- Herbert Hoover gibt in "American Epic",
Vol. IV, S. 164, für 1946 41 Promille an.
[3] Report on Brilon MG [Military Governor
(US-Militärgouverneur)] B51 Band 1, File
Friesen G.A. 1945-46, NAC [National Archives
of Canada, Ottawa]
[4] Ernst-Günther Schenck: Das menschliche
Elend im 20. Jahrhundert, S. 79
|
|
|
|
|
|
Landau in der Pfalz: Bei den Bevölkerungszahlen
für 1946 und 1947 handelt es sich um gemittelte Werte
zwischen 19.370 (Januar 1946) und 20.450 (Oktober
1946) bzw. 19.910 (Mittelwert 1946) und 21.694 (1948).
Alle statistischen Angaben aus dem Stadtarchiv Landau
(Rheinland-Pfalz, französische Zone).
Berlin: Unter den drei Millionen Einwohnern
Berlins betrug die Sterberate im Mai 1946 mit ca. 33
Promille das Dreifache der Vorkriegsrate.
2) Ernst-Günther Schenck: Das menschliche Elend im 20.
Jahrhundert, S. 68
1947 lag sie, wie Adenauer im März 1949 in seiner Rede
vor dem Schweizer Bundesrat erklärte, bei 29 Promille.
3) Konrad Adenauer, Rede vor dem Schweizer Bundesrat
am 23. März 1949; In: Adenauer: Erinnerungen 1945-53,
S. 187
Königsberg: Hier starben zwischen April 1945
und März 1947, unter sowjetischer Besatzung bzw.
Verwaltung, 75 Prozent der Bevölkerung. Sogar
"Kannibalismus wurde festgestellt ... Entsprechende
Zustände herrschten ... in ganz Ost- und Westpreussen,
in den Dörfern des Oderbruchs bei Frankfurt an der
Oder und in zahlreichen, schlesischen Städten." [Oft
wurden auch tote Pferde gegessen, die in den Flüssen
trieben].
4)
Ernst-Günther
Schenck: Das menschliche Elend im 20. Jahrhundert,
S. 79. Man könnte meinen, dass Königsberg, weil es
von den Sowjets übernommen wurde, ausserhalb des
Rahmens unserer Betrachtungen liegt, doch ist
dabei zu berücksichtigen, dass es sich bei den
Sterbestatistiken für die Flüchtlinge, die in der
sowjetischen Besatzungszone Deutschlands
eintrafen, zumeist um Schätzungen handelt, die
weitgehend auf Feststellungen von ausserhalb der
Sowjetzone beruhen, wie viele Deutsche lebend in
den besetzten Gebieten zurückblieben. Und
natürlich enthalten die Statistiken von Murphy und
der Vergleich der beiden Volkszählungen auch die
statistischen Angaben für die Sowjetzone.
Marktoberdorf: Die vollständigen Daten für
diese Kreisstadt im Ostallgäu liegen sowohl im
Bayerischen Statistischen Landesamt wie auch im
Statistischen Amt im Rathaus von Marktoberdorf
vor. Der Durchschnittswert für den gesamten
Zeitraum 1946-1950 liegt bei 24,2 Promille pro
Jahr.
Augsburg: Im Stadtarchiv von Augsburg liegen keine
Zahlen für 1946 vor, für 1947 und 1948 jeweils nur
für drei Monate, für 1949 und 1950 wiederum keine
Zahlen [S.273].
Tabelle
B: [Todesraten in Rest-Deutschland der
Nachkriegszeit 1945-1950] |
Ort
|
Jahr
|
Bevölkerung
|
Zahl der
Todesfälle
|
Sterblichkeitsrate
|
Bonn
|
1939
|
100.788
|
1278
|
12,7%o
|
|
1947
|
101.498
|
1062
|
10,5%o
|
|
1950
|
115.394
|
1233
|
11,0%o
|
|
|
|
|
|
Karlsruhe
|
1946
|
175.588
|
1980
|
11,3%o
|
|
1947
|
184.376
|
1975
|
10,7%o
|
(Kirchenregister)
|
1946
|
175.588
|
2039
|
11,6%o
|
Bemerkungen
zu Tabelle B
Bonn: Die amtlichen Bonner Zahlen erwecken
den Eindruck, als ob die Sterblichkeitsrate im
Wohlstandsjahr 1939, in dem grösstenteils noch
Frieden herrschte, um 21 Prozent höher lag als im
schlimmsten Hungerjahr 1947. Ebenso anomal ist das
Verhältnis zwischen 1947 und 1950. Ausserdem
ergibt die Summe aus Männern (44.048) und Frauen
(55.825) nicht die angegebene Gesamt-Einwohnerzahl
von 101.498. Angesichts der unterschiedlichen
Lebensbedingungen, die in den Jahren 1939, 1947
und 1950 herrschten, erscheint die amtliche
Todesrate für das Jahr 1947 unglaubhaft.
[Karlsruhe: Die offiziellen Zahlen sind
unvollständig]
Karlsruhe: Da dem Autor die amtlichen
Zahlen für Karlsruhe seltsam erschienen, liess er
Nachforschungen in der katholischen und zweien der
drei protestantischen Kirchgemeinden anstellen,
wobei sich ergab, dass es 1946 allein unter den
Mitgliedern der Kirchengemeinden 2039 Tote gegeben
hatte. Es lässt sich heute zwar nicht mehr
feststellen, wie viele Karlsruher damals
Kirchenmitglieder waren; dass jedoch die
kirchlichen Begräbnisse allein schon die im
Stadtarchiv verzeichneten Sterbeziffern
übersteigen, lässt auf die Unzuverlässigkeit der
amtlichen Angaben schliessen [S.274].
Allgemeine Bemerkungen - [zum Teil sind viel zu
niedrige Sterberaten für die Nachkriegszeit
angegeben]
Alle Orte, die für den Zeitraum 1946-1950 eine
nahezu normale Sterblichkeitsrate anzeigen, haben
ein Charakteristikum gemeinsam: Sie zeigen diese
fast normalen Sterberaten trotz der abnorm harten
Lebensbedingungen an, die, was niemand bezweifelt,
damals überall in Deutschland herrschten. Einige
Städte, beispielsweise Bonn, verzeichnen trotz
Hunger, Kälte und Verzweiflung weniger Sterbefälle
als in Zeiten des Wohlstands, des Friedens und der
Hoffnung wie in den Wirtschaftswunderjahren.
Die Britische Armee berichtete, dass die
Sterblichkeitsrate in der Nord-Rheinprovinz 1946
etwa 12 Promille betrug. Sie fiel im Laufe des
Jahres, bis sie im September 1946 bei nur noch
acht Promille lag, mit weiterhin fallender
Tendenz. In Hamburg betrug die Sterberate, den
offiziellen Berichten der Britischen Armee
zufolge, für das ganze Jahr 1946 14,9 Promille.
Von fast 20 Promille im Januar war sie bis zum
Jahresende auf nur noch 12,63 Promille
zurückgegangen.
Auf der 5. Sitzung des Zonenbeirats am 10./11.
Juli 1946 berichtete der Vorsitzende des
Wohlfahrtsausschusses, Rudolf Degkwitz, in der
"britischen Zone stürben pro Monat im Schnitt 5800
Menschen mehr als in Zeiten mit normalen
Lebensverhältnissen."
5) Gabriele Stüber: Der Kampf gegen den Hunger
1945-1950, S. 285. Das Protokoll der Sitzung des
Zonenbeirats befindet sich im Bundesarchiv Bonn,
1/253.
Da die Sterberate in Hamburg, der grössten Stadt
in der britischen Besatzungszone, im Jahre 1938
12,03 Promille betragen hatte,
6) Vital Statistics Hansestadt Hamburg, 1938,
British Army Report, undatiert; In: FEC [Famine
Emergency Committee] Papers, Box 14 oder Umgebung,
HA [Hoover Archives]
bedeutet dies, dass sie 1946 in der gesamten
britischen Zone etwa 15,5 Promille betrug. Der
Zuwachs mag minimal erscheinen, doch muss man
berücksichtigen, dass sie im Laufe des Jahres 1947
weiter anstieg, als sich die Verhältnisse
verschlimmerten. Der moderne Leser mag sich ein
Bild von dem Ausmass des Sterbens machen, indem er
sich vor Augen hält, dass diese Rate um 50 Prozent
höher liegt als zu normalen Zeiten; mit anderen
Worten, dass man zu jeweils zwei Personen im
Bekanntenkreis, die jüngstens verstarben, den Tod
einer weiteren Person hinzurechnen müsste.
Im April 1947 berichtete der Leiter der
Kanadischen Militärmission in Berlin, Armeegeneral
Maurice Pope, über die älteren Menschen, die einen
hohen Anteil der vom Krieg gebeutelten Bevölkerung
darstellten, nach Ottawa: "... die Sterberate ist
hoch, und auch bei den Selbstmordzahlen sind keine
besonderen Anzeichen von Besserung zu erkennen.!"
Und er schloss: "Zusammenfassend lässt sich sagen,
die Verhältnisse sind so schlimm wie eh und je."
Einige Wochen später vermeldete er fünf "belegte"
Fälle von Hungertod in Hamburg.
7) Maurice Pope an External, 4. Juli 1947,
External Affairs Records, File 8376-K, NAC
[National Archives of Canada, Ottawa]
[Die alliierten Offiziere wissen angeblich
nichts über die hohen Sterberaten - Geissel TB]
Das Wort "belegt" ("authenticated") spricht Bände
[S.275]. Wie zahlreiche Autoren berichteten,
wussten die Offiziere der Alliierten fast nichts
über die wahren Verhältnisse unter der deutschen
Zivilbevölkerung. Das Wort "belegt" deutet mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darauf
hin, dass damit Todesfälle gemeint waren, die aus
Krankenhäusern berichtet wurden. Doch nur sehr
wenige kranke Deutsche kamen damals überhaupt ins
Krankenhaus. Der US-Generalstabsarzt berichtete im
Oktober 1947: "die alarmierendste Geissel ist die
Tuberkulose ... In der britischen Zone insgesamt
sind 50.000 offene Fälle bekannt, doch nur 12.000
Krankenhausbetten stehen zur Verfügung. Die
wenigen schweren Fälle zählen etwa 150.000.
8) Ansprache des US-Generalstabsarztes zum Navi
Day, 27. Oktober 1947, in Bethesda, Maryland; In:
Behnke Papers, Box 1, HA [Hoover Archives]
[Sterblichkeit in der Pfalz nur 13
Promille - eventuell Vorteil durch Ernährung auf
dem Land]
Der deutsche Arzt A. Lang, Professor für
Physiologische Chemie an der Universität Mainz,
berichtete einem amerikanischen Offizier im April
1948, die Sterblichkeitsrate in der Pfalz habe
1947 lediglich 13 Promille betragen, doch eine
Quelle für seine Statistiken gab er nicht an. Wenn
diese - wie die Ergebnisse der Volkszählung von
1946 - von "Deutschen unter der Leitung der
alliierten Kontrollkommission" zusammengestellt
worden waren, dann könnte eine Erklärung für die
niedrigen Werte darin bestehen, dass die
Ergebnisse "korrigiert" wurden, um ein günstigeres
Bild von den Lebensbedingungen unter alliierter
Besatzung zu geben. Die Pfalz lag in der
französischen Zone, wo die Lebensmittelzuteilungen
durchweg niedriger waren als in der
britisch-amerikanischen Bizone. Daher sollte man
eigentlich meinen, dass die Sterblichkeit dort
höher war, etwa so hoch wie in Bad Kreuznach. Eine
andere Erklärung könnte jedoch auch sein, dass
Menschen, die in einer ländlichen Umgebung
wohnten, leichter Lebensmittel "organisieren" und
damit ihre offiziellen Rationen aufbessern konnten
als die Menschen in Grossstädten, und die Pfalz
war grösstenteils ländlich, Grossstädte gab es
dort nicht, und nicht nur die Zahl der
einheimischen Bevölkerung war gering (unter einer
Million), auch Vertriebene gab es dort relativ
wenig. Dennoch ist eine so starke Diskrepanz
schwer vorstellbar, dass die Einwohner von Bad
Kreuznach, das so nahe an der Pfalz und ebenfalls
in der französischen Zone lag, doppelt so schnell
gestorben sein sollten wie ihre nächsten Nachbarn.
Die Angabe passt auch nicht zu der Sterbestatistik
von Landau, das direkt in der Pfalz lag, und von
anderen Orten in der französischen Zone, wo die
Sterberate ebenfalls höher war.
[Landwirtschaftliche Produktion 1945: 75
bis 80% in der Sowjetzone, nur 57% in den
westlichen Zonen]
Zum Thema Gesundheit stellte der amerikanische
Militärgouverneur einen interessanten Vergleich
zwischen der Sowjet- und den drei Westzonen an.
Clay schrieb, dass 1945 die landwirtschaftliche
Produktion in der Sowjetzone für einige
Getreidearten fast 80 Prozent, westlich der Elbe
für Getreide [S.276] aller Art sogar 90 Prozent
der normalen Vorkriegsproduktion betrug, dazu etwa
75 Prozent bei den Tierprodukten.
9) The Papers of General Lucius D. Clay; hrsg. von
J. E. Smith, Vol. 1, S.96
Gleichzeitig betrug die Lebensmittelproduktion im
Westen jedoch nur 57 Prozent der Pro-Kopf-Produktion
vor dem Krieg. Interessant dabei ist, dass die
Landwirtschaft in allen Zonen ausschliesslich von
Deutschen betrieben wurde, und zwar vorwiegend von
Hand. Die höhere Produktivität in der Sowjetzone
scheint somit darauf hinzudeuten, dass der
Gesundheitszustand der Bevölkerung der Sowjetzone
damals mindestens ebenso gut war wie derjenige der
Menschen im Westen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Statistiken
lokalen Ursprungs im allgemeinen mit den
Gesamtstatistiken übereinstimmen, die sich aus dem
Vergleich der Volkszählungsergebnisse ableiten und die
im Haupttext besprochen worden sind. Die wenigen, die
nicht in das Gesamtbild passen, weisen zumeist noch
andere Eigentümlichkeiten auf, welche sie a priori
unglaubhaft erscheinen lassen [S.277].