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Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 1: Schutt, nichts als Schutt
Verhaftung am 13. April 1945 -- die Vorgeschichte der Kapitulation an der Flak in Bemerode in Hannover -- die letzte Mahlzeit vor der Gefangennahme -- eine Brücke, ein Hauptmann, Transporte beschlagnahmen -- die Italiener an der Flak -- Ahlten -- alliierte Plakate gegen "ungefangene Soldaten" -- ein bisschen Alkohol für die kriminellen Alliierten -- Quetschungen im Lastwagen -- Stadtrundfahrt in den Ruinen von Hannover im Staub -- Fahrt nach Westen
präsentiert von Michael Palomino (2013)
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[Nowak als Journalist - die Verhaftung nach der Kapitulation am 13. April 1945]
Am Freitag, dem 13. April [1945] - nein, von Wahrsagern, Handlesern und Sternguckern halte ich nichts. Ich kenne die Künste der Magier, die die menschliche Dummheit besteuern, aber an mir haben sie noch keinen Pfennig verdient. So oft ich ihnen begegnete, war ich immer durch eine Pressekarte legitimiert. Da nun aber der Aberglaube schon in so zahlreichen Köpfen nistet, dass sogar die Staatsmänner mit ihm rechnen müssen, will ich das Datum nicht verschweigen. Es wird ein Fingerzeig für jeden sein, der nach der Ursache der Misshelligkeiten forscht, die ihm jetzt aufgetischt werden.
Am Freitag, dem 13. April [1945], gegen zehn Uhr morgens, bugsierten mich zwei kanadische Militärpolizisten, jeder mit einer Maschinenpistole am Hals, in eine leere Garage, die ihrem Hautquartier als Kerker diente. Genau 48 Stunden vorher hatte ich meinen Separatfrieden mit den alliierten Streitkräften geschlossen.
[Die Vorgeschichte von der Kapitulation bis zur Verhaftung: Die Flugabwehrkanone (Flak) in Bemerode in Hannover]
Die schwere Flak-Batterie, in der ich Kriegsdienste tat, lag in Bemerode, ein paar hundert Meter vom Haupttor des Hannoverschen Messegeländes entfernt. Wenn auch an der Front die schwere Flak als panzerbrechende Waffe hochgeschätzt war, in der Heimat war es ihre Aufgabe, in die Luft zu schiessen. An gutem Willen fehlte es ihr nicht, aber [S.7] ihre Granaten waren zu lange unterwegs. 28 Sekunden brauchten sie, bis sie oben in 9000 Meter Höhe platzten. In dieser Zeit legten die schnellen, feindlichen Flugzeuge drei, vier, ja fünf Kilometer zurück. Ausserdem war die Munition knapp. Wir mussten uns zu jedem Sperrfeuer erste einen Bezugsschein beim Reichsmarschall [Göring] holen.
Was die Katastrophe betrifft [die Kapitulation Deutschlands], so war sie ein paar Tage vor jenem 13. April in greifbare Nähe gerückt. Der Chef [der Flakstellung] stand in vorgerückter Abendstunde am Fernsprecher der Hauptbefehlsstelle. Er kritzelte etwas in sein Taschenbuch, las die Zahlen noch einmal vor. Die Stimme schnappte ihm über. Dann brüllte er den drei Entfernungsmessern Schusswerte zu. Die kurbelten wie die Irren.
-- E1 fertig! - E2 fertig! - E3 fertig!
-- Feuer frei!
-- Schnelles Gruppenfeuer! Gruppe! - Glocke ! - Gruppe! - Glocke!
Alle vier Sekunden krachten die Granaten aus den 16 Rohren. Ein paar Sekunden später hat jeder auf der Hauptbefehlsstelle begriffen, was los ist. Wir beschiessen ein Strassenkreuz, das kaum 16 Kilometer entfernt ist. Wir sehen die amerikanischen Panzer nicht. Wir können ihnen mit unseren Geschossen auch nichts anhaben. Aber sie schrecken vor dem Stahlhagel zurück und lassen sich tagelang aufhalten. Der Spass geht schnell zu Ende. Plötzlich bekommen wir Feuer aus der Flanke. Dort sind Panzerbatterien aufgefahren. Fair ist der [S.8] Kampf nicht. Unsre Kanonen ruhen auf schweren Zementsockeln. Wir können waagerecht in die Gegend und senkrecht in die Luft schiessen, wir können nach allen Seiten feuern, aber wir können die Geschütze nicht vom Platz bewegen. Die Panzer dagegen machen nach jeder Salve Stellungswechsel. Die Mäuse sitzen in der Fall. Die Katzen hacken mit ihren tödlichen Krallen durch die Gitter.
In einer Feuerpause - die Amerikaner hielten die Stunde des Mittagessens streng und verlässlich ein - kam von Hannover das Mädchen Lissy dahergeradelt. Lissy liebte einen unserer Geschützführer. Liebe gibt den Frauen übernatürliche Kräfte. Lissy brachte bemerkenswerte Nachrichten mit. Wir holten den Batterie-Chef herbei. Wir sahen es seinem Gesicht an, dass er nunmehr begriff, weshalb er weder von der Abteilung noch vom Regiment noch von der Brigade etwas zu hören oder zu lesen bekam. Es gab keine Brigade, kein Regiment, keine Abteilung mehr. Die Amerikaner waren von Westen her in Hannover eingedrungen und standen schon in den nördlichen Vororten. Wenn wir am Kriegsgeschehen noch teilnehmen wollten, dann verblieb uns nur der schleunigste Rückzug aus unserer Igelstellung. Eine schmale Lücke schien es noch zu geben, durch die wir uns nach Osten absetzen konnten. Der Chef öffnete den für solche Umstände vorgesehenen Umschlag mit dem Geheimbefehl. Die Kinnlade fiel ihm fast bis zum Verdienstkreuz an seiner Brust herunter [S.9].
[Die letzte Mahlzeit vor der Kapitulation - zwei Schweine werden geschlachtet]
Er befahl, unverzüglich die beiden Batterie-Schweine zu schlachten. Er zauberte auch eine Kiste Cognac herbei. Wir waren erschüttert. Das Ende der Welt musste nahe sein. Wir setzten uns nieder zum Festessen. Für viele Mitglieder der Batterie war dies die letzte gute Mahlzeit ihres Lebens, für die anderen die letzte Mahlzeit, bei der sie sich satt assen, bevor der Hunger begann. Wir stopften das Fleisch in uns hinein wie die Eskimos an der Melville-Bay, wenn sie nach langem Winterhunger beim Eisbruch ein paar Seehunde gefangen haben. Dazu tranken wir reichlich Schnaps, um nicht an Gallenkolik zu sterben, falls uns der Heldentod erspart bleiben sollte. Ohne dass einer davon sprach, wir wussten es, der Krieg war in wenigen Stunden zu Ende. Wie und wo für jeden von uns, das war die einzige Frage.
[Der Abmarsch von der Flak]
Es war eine gemischte schwere Flak-Batterie, in der wir dienten. Sie bestand aus 40 deutschen Soldaten, 50 italienischen Polizisten, in ihrer Heimat Carabinieri genannt, aus 28 Flakhelfern im Alter von 15 bis 17 Jahren und aus 22 Flak-Mädchen, die in der Schreibstube, in der Küche, am Funkmessgerät das Vaterland verteidigten. Der Chef beschloss auf unser Drängen, zunächst die Mädchen und Knaben in Marsch zu setzen. Aber die Jugend revoltierte. Sie verlangte stürmisch, ihr einen Unteroffizier mitzugeben. Wen sie haben wolle, fragte der Chef. Ich atmete auf. Mich wollten sie haben. Der Chef sträubte sich lange und nicht ohne Grund. Ich war [S.10] der einzige in der Batterie, der Italienisch sprach, der einzige auch, dem diese verlassenen Kinder des Südens ihr volles Vertrauen schenkten. Die Jugend siegte. Die Disziplin bekam schon Risse wie das Eis in der Februar-Sonne. Jeden Moment konnte die Decke zerspringen und sich in Schollen auflösen.
[Eine Brücke - ein Hauptmann - Transporte beschlagnahmen]
Wir rückten ab. [Die Ortschaft] Ahlten, halbwegs zwischen Misburg und Lehrte, war das erste Marschziel. Auf der Brücke an der Hindenburg-Schleuse trat mir ein forscher Hauptmann der Luftwaffe entgegen. Ich wies meinen Marschbefehl vor.
-- Flakhelfer und Flakhelferinnen können gehen, wohin sie wollen, Sie, Unteroffizier, bleiben hier!
Vergeblich berief ich mich auf meinen Marschbefehl, auf meine Pflicht, für die Mädchen und Kinder zu sorgen. Er habe einen Korpsbefehl, erklärte der Hauptmann. Die Brücke werde bis zum letzten Blutstropfen verteidigt. Bis wohin? Mir blieb das Wort nicht nur im Hals stecken, es rutschte mir in den Magen hinunter. Am Ende der Brücke stehe schon eine 8,8-cm-Kanone. Ich als Artillerist sei hinfort der Geschützführer. Jeder Soldat sei anzuhalten und der Kampftruppe, die vorläufig nur aus mir und dem Hauptmann bestand, einzugliedern. Ob er Panzergranaten hätte? Nein, die habe er nicht, aber sie seien im Anrollen.
Ein paar Stunden vergnügten wir uns damit, jeden Wagen anzuhalten, der die Brücke passierte. Wir trieben es wie die Strauchritter zur Zeit des Götz von Berlichingen [S.11]. Zwei Männer schoben eine Karre daher. Sie hatten einen Doppelzentner Zucker an Bord. Gestohlen ohne Zweifel.
-- Abladen!
Ein Lieferwagen wollte in schneller Fahrt über die Brücke preschen. Ich winkte ihm freundlich mit der Pistole zu. Die Fahrer hatten ein Proviantamt ausgeräumt. Bier, Schnaps, Wein --
-- Abladen!
Ein Bäcker flitzte heran.
-- Abladen!
Die Ausgeplünderten fluchten. Warum sollten sie nicht fluchen? Wir hatten volles Verständnis im Herzen. So war der Krieg eigentlich ganz nett. Ein paar Tage konnte man das fortsetzen, wenn man Zeit dazu hatte.
Am späteren Nachmittag konnte ich den Mädchen unter Inanspruchnahme aller Beredsamkeit klarmachen, dass sie mir nur im Wege waren, wenn es galt, schnelle Entschlüsse zu fassen. Ich hatte die Absicht, meine letzten Blutstropfen für andere Gelegenheiten aufzusparen. Die Mädchen zogen als Vorhut ab. Die Jungen aber blieben. Da half kein Befehl, kein Rat, keine Bitte. Nein, sie dächten nicht daran, mich jetzt im Stich zu lassen. Der Hauptmann war zufrieden. Besser diese Streitmacht als gar keine. Als es aber Abend wurde, hielt ich mit meinen Bengeln Kiegsrat ab. Ich empfahl ihnen, einen halben Kilometer geradeaus zu marschieren und dort auf mich zu warten. Ich käme [S.12] nach. Ich suchte den Hauptmann in seinem Bunker auf, liess mir vorsichtshalber an Hand der Karte genau die Kriegslage erklären und meldete mich ab, um meinen Posten auf der Brücke zu beziehen. Fünf Minuten später hatte ich meine Jungen erreicht und brachte sie ohne Zwischenfall nach Ahlten, wo die Mädchen bereits grosse Mengen von Kartoffeln gekocht, geschält und geschnitzelt hatten, um sie uns geröstet zu servieren.
[Die Flak in Bemerode hat Probleme wegen der Italiener - das letzte Gefecht - die Selbstzerstörung]
Ich hatte gerade die Gabel in die Faust genommen, als draussen ein Wagen vorfuhr. Es war der Chef [vom Flakturm]. Er riss mich von den Bratkartoffeln weg, stiess mich in das Auto hinein und jagte mit mir nach Bemerode zurück. Die Italiener hatten den Gehorsam verweigert, stellten sich taub und stumm, machten Gesichter wie müde Ochsen im Hochsommer. Schön. Wie aber sollte ich über die Brücke kommen, an dem Hauptmann vorbei, der dort nach meinem Blut lechzte? Wir gelangten ohne besondere Vorkommnisse über den Kanal.
Ich war wieder in Bemerode. Camerati [Kameraden], schrie ich, amici [Freunde], und hielt eine kurze Ansprache, für die mich der Chef, wenn er sie verstanden hätte, auf der Stelle niedergeschossen hätte.
-- Evviva, dottore, evviva [Es lebe der Doktor, er lebe hoch]! brüllten die Italiener, drückten mir die Hand, umarmten mich und waren plötzlich sanft und fügsam. Mit einem strahlenden Morgen begann der nächste Frühlingstag. Der letzte Mann musste zufassen und Munitionskörbe an die Geschütze schleppen. Über 400 Granaten [S.13] hatte jede Kanone zu verschiessen. Wir jagten die Geschosse bei einer Rohrerhöhung von zehn Grad in die Landschaft. Ein Höllenlärm brach los. Das Trommelfell schmerzte unter den hämmernden Explosionen. Der Schweiss floss in Strömen über Brust und Rücken. Wir glotzten betäubt in die beizenden Luftwirbel, atmeten keuchend in Pulverdampf und treibendem Staub. Dann war plötzlich tiefe, unheimliche Stille. Die ganze Schöpfung schien tot zu sein. Die Geschütze hatten ihren letzten donnernden Choral hinausgeschmettert. Während wir uns wuschen und zum Abmarsch rüsteten, brachten die Geschützführer die Sprengladungen an. Ich werfe noch einen Blick auf die zwei Kommandogeräte, diese Wunderwerke, die wie schnelle Gehirne aus Entfernung und Höhe den Zielhöhenwinkel errechneten, die von elektrischen Gedanken gesteuert das steigende, das fallende, das drehende Flugzeug verfolgten und seinen Standpunkt im Raum für den Bruchteil der Sekunde bestimmten, in dem die Granaten seinen Weg kreuzten. Ich werfe noch einen Blick auf das Funkmessgerät mit dem magischen, grünen Kreis, in dem das kommende Flugzeug sich als gezackte Flamme anzeigt. Ich werfe noch einen Blick auf das Marburg-Gerät. Drei solcher Geräte soll es nur gegeben haben. Sie waren noch ganz neu. Vor ihren empfindlichen Sehnerven konnten sich die Flugzeuge auch durch elektrische Störungen nicht tarnen. Schade - [es folgt die Sprengung des Flak-Turms].
[Der Abzug nach Ahlten]
Wir sind schon unterwegs, als die aufgerissenen [S.14] Leiber der Geräte zur Seite fallen. Trümmer, Schrott, Asche, das ist das Ende allen menschlichen Schaffens.
Als wir zur Hindenburg-Schleuse kamen, war die 'Brücke zum letzten Blutstropfen' menschenleer. Kein Verteidiger war mehr zu erblicken. Auch den Hauptmann mit seinem Korpsbefehl hatte das Schicksal verschluckt. Nur die Kanone stand noch da und streckte einsam und melancholisch ihr Rohr in die Luft. Die Italiener lehnten sich phlegmatisch ans Brückengeländer und liessen ihre Panzerfäuste sacht ins Wasser gleiten. Pietro Bertolino, der Maresciallo, zu deutsch der Hauptfeldwebel, wandte sich mit vorwurfsvollem Blick an mich:
-- in somma, dottore - in queste circostanze - mi sembra, dottore - cosa fare - bisogna salvare la pelle -
[Nun also, Doktor - unter diesen Umständen - scheint mir, Herr Doktor, dass wir nur noch unsere Haut retten können].
Mir schien es auch so, im grossen und ganzen und unter diesen Umständen. Die Italiener hatten jetzt genug und wollten ihre Haut retten.
-- Addio, amici, arrivederci, signori, sia in campo di concentramento, sia nel cielo -
[Deutsch]: Lebt wohl, Freunde. Wir sehen uns im Gefangenenlager oder niemals auf Erden wieder.
Kurz vor dem Abmarsch von Ahlten ins Ungewisse Richtung Ost meldete ich mich beim Chef ab. Ich wolle noch einen Abschiedsbesuch bei meinen Freunden in Lehrte machen und die Batterie am Eingang zur Stadt erwarten. Ich schwang mich auf mein Rad, einen belgischen Karabiner über der [S.15] Schulter, vier Handgranaten und eine Pistole am Koppel, und trat kräftig in die Pedale. Auf dem Weg nach Lehrte öffnet sich unversehens das Tor eines Ausländerlagers. Männer und Frauen quollen heraus. Sie denken gewiss, ich sei der letzte Soldat, der Hannover verlassen habe. Hier ging es um Totschlag. Das war ganz augenscheinlich. Ich steige ab, reisse die Pistole aus der Tasche -
Die Totschläger ziehen sich knurrend zurück. Ohne Risiko würden sie ganz gern morden, aber sterben will keiner dabei. Ich schiebe mein Rad am Tor vorbei und steige wieder auf. Arme Irre, denke ich noch, wie gut, dass ihr keine Ahnung habt, was euch geschehen wäre, hätten die beiden nachfolgenden Batterien meine Leiche vor dem Tor gefunden. Kein Mann und keine Frau hätte diesen Mord in der Morgenstunde überlebt.
Meine Freundin Annemarie war zu Haus. Während ihr Vater meine Feuerwaffen in einem nahen Gewässer versenkte, übergab mir die Tochter im Rahmen des Leih- und Pachtvertrags einen blauen Anzug und ein Paar braune Schuhe. Beim Umkleiden hörte ich die Ketten der schweren Panzer General Eisenhowers auf der nahen Autobahn rasseln. Ich hatte den Kriegszustand mit ihm beendet. Mitten durch die amerikanischen Panzer- und Wagenkolonnen bin ich dann nach Hause geradelt. Frau und Tochter zögerten nicht, meine Intelligenz zu preisen. Der Krieg war für mich aus. War er es wirklich? [S.16]
[Plakate der "amerikanischen" Besatzung - Stellungsbefehl für deutsche Soldaten bei Sippenhaft für Frauen und Kinder mit schwersten Drohungen]
Tags darauf klebten überall in der Stadt [Hannover] Plakate, auf denen allen Bürgern, die einen noch ungefangenen Soldaten zu beherbergen sich erdreisteten, die schrecklichste Vergeltung angedroht wurde. Die Frauen und Mütter deutscher Krieger waren in dieses drohende Strafgericht ausdrücklich einbezogen. Diesen Ton kannten wir schon. Auch im Dritten Reich hatte man ja den Eltern zugemutet, ihre Kinder, den Kindern ihre Eltern zu denunzieren. Die Tradition riss nicht so schnell ab.
[Die Stellung bei den Kanadiern - Filzung in der Garage]
Am Freitag, dem 13. April 1945, begab ich mich also, um Weib und Kind vor dem amerikanischen Tod des Erschossenwerdens zu bewahren, zur benachbarten, kanadischen Militärpolizei, um sie von meinem guten Gewissen nebst der Tatsache zu überzeugen, dass ich mich niemals freiwillig im bewaffneten Konflikt mit den Alliierten befunden und dass ich die erste Gelegenheit dazu benutzt habe, um die Feindseligkeiten einzustellen. Hätte ich diesen Gang nicht am Freitag, dem 13. April, angetreten, vielleicht wäre es mir gelungen, mich einem Offizier verständlich zu machen. Als ich aber ein Feldwebel in Empfang nahm und dieser keinerlei Anstalten traf, mich weiterzureichen, begriff ich, dass ich mich in die Nesseln gesetzt hatte. Der kanadische Feldwebel verstand von meinem Vortrag so viel, wie jeder Feldwebel jeder anderen Wehrmacht auf Erden verstanden hätte. Er übergab mich kurzerhand den beiden schon erwähnten Maschinenpistolenträgern, die mich in die schon erwähnte [S.17] Garage schoben. Dort stöberten sie zunächst meine Taschen durch und beraubten mich sämtlicher Metallgegenstände, deren bedeutendster eine Nagelfeile war. Nur ein winziges Taschenmesser in der Westentasche entging ihrem Scharfblick. Ich sank merklich in ihrer Achtung, als sie an meinem linken Handgelenk keine Armbanduhr vorfanden. Sie lehnten sich rechts und links an die Garagentür und begannen, mich zu bewachen. Ihre soldatische Pflicht hinderte sie aber nicht, mir hin und wieder eine Zigarette zuzuwerfen. Ihr Vorrat war unerschöpflich. Ein Volk, das über solche Reserven verfügte, musste den Krieg gewinnen.
[Die Hausmutter will ihren Alkoholvorrat teilen - und die Soldaten nehmen alles mit]
An Stelle des Mittagsmahl, das inzwischen fällig gewesen wäre und das mir sowohl nach der Haager Landkriegsordnung wie nach der Genfer Konvention zustand, bekam ich wenigstens etwas zu lachen. Auf der Bildfläche erschien die mir vom Ansehen bekannte Besitzerin des Hauses und der Garage. Sie sprach zwar nicht fliessend Englisch, aber fliessend Unsinn. Sie machte die Kanadier darauf aufmerksam, dass sich in der Mitte des Zementfussbodens eine hölzerne Falltür befinde, und ermunterte die beiden Sieger, das Versteck zu öffnen. Die taten ihr den Gefallen und hoben alsbald eine mit Spirituosen gefüllte Kiste ans Tageslicht. Mutti, dachte ich, bist du denn ganz verblödet? Wenn du auch wahrscheinlich die Ilias und Odyssee nicht kennst, zwei Weltkriege hast du doch schon erlitten und solltest wissen, dass der Soldat [S.18] in seiner Vernichtungswut nicht Bier, nicht Wein, nicht Schnaps schont. Alte Dame, vielleicht hast du gedacht, es sei jetzt Zeit zu feiern. Vielleicht hast du gedacht, die Militärpolizei werde sich mit einer Flasche Aquavit als Bergungslohn begnügen. Nach langem Feilschen war Madame so weit, dass sie schluchzend um eine einzige Pulle für sich bettelte. Die Krieger blieben hart:
-- This is for American soldiers! [Das ist für amerikanische Soldaten!]
Bei Tafelsilber hätten sie zur Not noch Spass verstanden. Der Alkohol war eine ernste Sache. Der durfte so wenig wie Schusswaffen in den Händen der Besiegten bleiben. Madame ging von dannen und weinte bitterlich. In diesem Augenblick hatte auch sie den Krieg verloren.
Jetzt nimmt die Frau wohl enttäuscht und traurig das Mittagessen vom Herd. Sie hat sich heute zum Tag der Heimkehr angestrengt.
[Der Gang zum überfüllten Lastwagen - Menschen wie Sardinen zusammengepresst]
Mein Teil bleibt unvergessen. Was denken Frau und Tochter jetzt? Stehen sie draussen am Zaun? Haben sie einen Offizier erwischt, um ihn zur Vernunft zu bringen? Mehr als zwanzig Zigarettenstummel liegen schon am Boden. Endlich, endlich erscheint der Feldwebel in der Tür.
-- Come on!
Ich komme on. Sie schieben mich wie einen Koffer in den Jeep. Rechts herum - links herum - geradeaus und wieder rechts herum. Da steht eine lange Wagenkolonne, unabsehbar, ein mobiles Gefängnis für Tausende von Kriegern. Es ist kein [S.19] Viehtransport, was da vor sich geht. Nie habe ich Vieh mit so wenig Verstand und Sorgfalt verladen gesehen. Die Lastwagen gleichen riesigen, hochgestellten Kisten voll grosser Sprotten [Spargelspitzen]. Keine fällt aus der Kiste. Keine kann aus der Kiste fallen. Sie sind dicht zusammengepresst, dass sie aneinander kleben. Da ist kein Platz mehr. Ich schaue die Kanadier an.
-- Come on!
Ich steige ab und wieder auf, stehe erst lange auf fremden, allmählich dann auf eigenen Füssen. Wir warten noch ein Weilchen. Soldaten haben Zeit, Gefangene noch viel mehr. Ausser dem Essen versäumen sie nichts, gar nichts. Alle schweigen, starr und regungslos, stumm wie Weidevieh im Regen. Es ist, als hätte ein Schock alle Zungen gelähmt. Kein Wort fällt, keine Frage, nicht einmal ein Fluch. So eng sie sich auch aneinanderdrücken, sie gehören nicht zusammen. Jeder ist, obschon der Raum bis auf den allerletzten Millimeter von Schuhen ausgenutzt ist, allein. Leer sind die Gesichter, ausdruckslos, als seien sie eben erst aus Ton geformt worden und noch nicht angerührt von dem, der sie lebendig macht. Sie sind aus ihrer Ohnmacht noch nicht aufgewacht. Sie haben die neue Welt, in die sie hineingeschleudert worden sind, noch nicht erfasst. Vielleicht müssen sie sich erst von dem dabei erlittenen Schädelbruch erholen. Sie haben das neue Sein, das ihnen das Schicksal dekretiert, noch nicht erkannt. Sie sind noch nicht so weit [S.20], um zu begreifen, wo sie sind, wohin sie gehen. Sie haben vergessen, woher sie kommen. Sie sind entgleist und warten ohne Gefühl und Hoffnung, dass einer sie wieder auf die Schienen hebt. Und einigen von ihnen ist vielleicht zumute wie dem Odysseus und seinen Gefährten, nachdem sie der schauerlichen Höhle des Riesen Polyphemos entronnen waren. Nur zu erzählen vermögen sie noch nicht.
[Die Stadtrundfahrt durch die Ruinen von Hannover - eine staubige "Umerziehung" - Fahrt in Richtung Westen]
Rollt die Wagenkolonne immer noch nicht? Doch, ja, sie rattert durch die Stadt. Die Stadt? Es ist der geschändete, in Stücke gehackte, halb verbrannte Leichnam einer Stadt. Die Wagen fahren mitten hinein in ihr zerrissenes Herz. Schuttpflüge haben die Strassen geräumt und die Trümmer beiseite geschoben. Die Sieger haben an alles gedacht. Ihre Ingenieure wussten, dass man eines Tages vor lauter Schutt nicht vorwärts kommen würde. Darum konstruierten sie die grossen Pflüge, die den Panzern Fahrbahnen durch die zerschlagenen Städte brachen. Hohlwege tun sich auf. Stünden die Häuser noch, bis zu ihren ersten und zweiten Geschossen reichten die hohen Halden rechts und links.
Da liegt die ganze Herrlichkeit der Gotik und Renaissance. Schutt, nichts als Schutt - Asche, nichts als Asche - Dreck, nichts als Dreck. Das nordische Nürnberg ist in ein paar hunderttausend Tonnen Müll verwandelt. Das Pfeilerhaus, das Wedekindhaus, den umgestülpten Zuckerhut, das Rolandshospital [S.22], das Knochenhaueramtshaus, das alles kannst du mit zwei, drei Pferdegespannen in zwei, drei Tagen zur grossen Schuttkippe fahren.
-- Sancte Pater, sic transit gloria mundi [Heiliger Vater, so vergeht der Ruhm der Welt] - singt der Kardinal-Diakon bei der Papst-Krönung, indem er vor dem Herrn der Christenheit einen Strohwisch abbrennt. Um den modernen Diktatoren zu zeigen, wie der Ruhm der Welt vergeht, brannte man ganze Städte ab. Hier wurde Weltruhm in wenigen Minuten in ein Gelände von flachen Lehmhügeln verwandelt, aus denen nur ab und zu verkohlte Balken ragten. Wohl 20.000 Menschen hätten die Flieger allein in dieser Stadt bei lebendigem Leibe geröstet und gekocht, wären die Bewohner nicht gleich zu Beginn des Alarms in wilder Panik auf die nahen Berge geflohen, getreu den Ratschlägen des Evangelisten Matthäus, die er den Juden zum Untergang Jerusalems gab:
-- Wer auf dem Dach ist, der soll nicht erst in seine Wohnung hinuntersteigen, um etwas mitzunehmen, und wer auf dem Felde ist, soll nicht noch umkehren, um seinen Mantel zu holen. Wehe den Schwangeren und Wöchnerinnen in jenen Tagen! Betet, dass eure Flucht nicht in den Winter falle -
Diese Flucht fiel in das Frühjahr, aber dennoch verbrannten ganze Hundertschaften von Menschen in den Strassen und ihre Leichen wurden [im Feuersturm] so klein wie die Puppen, mit denen die Mädchen am Christfest beschenkt werden.
Wir drehen eine Runde durch diesen Friedhof [S.22] der Architektur. Wir drehen die zweite, die vierte, die sechste Runde. Wir drehen immer weiter und haben längst aufgehört zu zählen. Die Wagenkolonne reisst Wirbel von Staub hoch, dass sie um die ausgebrannten Kirchturmspitzen kreisen. In einem gelbroten Schleier tauchen wie Gespenster die zerbrochenen Leiber der Kirchen auf und verlieren sofort wieder ihre ausgezackten, grotesken Konturen. Die Neger in den Führersitzen der Lastwagen drehen unersättlich eine Runde nach der anderen. Haben sie Befehl erhalten, uns zu zeigen, was es heisst, den Helden aus Übersee zu trotzen? Müssen sie uns ins Gedächtnis ätzen, dass der Stolz des Abendlandes den modernen Städtezerstörern keine Stunde, keine Viertelstunde standhält? Schade um jeden Tropfen Benzin, der da vergeudet wird. Diese ausgebooteten Gestalten der Weltgeschichte, die durch die hingerichtete Stadt gefahren werden, nehmen keine Lehre auf. Sie sehen, hören, schmecken, fühlen, riechen nichts. Sie merken kaum, dass sich der Lehm- und Ziegelstaub zentimeterdick auf ihre Gesichter gelegt hat. Dort wird er liegenbleiben, viele Wochen lang. So schliessen sie apathisch Kameradschaft mit dem Dreck und gehen, ohne es zu ahnen, eine lange Lebensgemeinschaft mit ihm ein. In Flocken hängt er an den Augenbrauen, an den Wimpern, an den Haaren. Er kriecht in Nase, Augen, Ohren, Mund und Lungen. Der letzte Tropfen Speichel ist vertrocknet. Mit aufgerissenen Mäulern wie die Fische, bevor [S.23] sie einen barmherzigen Schlag oder Stich ins Genick bekommen, schnappen die Kriegsgefangenen nach Luft.
Die Education hat begonnen.
Die da mit staubblinden Augen, mit dreckverstopften Kehlen die Qualen des Todes durch Ersticken leiden, die haben den Krieg verloren. Die sollen das erkennen. Im trojanischen Krieg kannte man noch eine andere Nuance. Da band man sogar die Leiche des erschlagenen Feindes an seinen Kampfwagen und schleifte sie um die Mauern der belagerten Stadt. Die römischen Feldherren führten ihre Gefangenen, bevor sie abgeschlachtet oder als Sklaven verkauft wurden, im Triumphzug zum Kapitol. Hier leistete sich ein kleiner Kommandeur, Bankier im Zivilberuf oder Rechtsanwalt, das Vergnügen, seine menschliche Kriegsbeute zu verhöhnen und zu quälen.
Einmal aber muss die Lust an diesen Ehrenrunden zu Ende gehen. Der Staubschleier wird allmählich dünner. Man verliert langsam das Gefühl, bei Sonnenfinsternis durch einen Sandsturm zu fahren. Strassen, Häuser, bewaldete Höhen werden sichtbar. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die tote Stadt zurück, sehe die russgeschwärzte, zerfetzte Ruine des Domes, der [angeblichen] Weihestätte Karls des Grossen und seiner Söhne und Enkel. Mittendurch ist die Apsis gespalten, wie von einem ungeheuren Blitzschlag zerteilt. Unter den zerbrochenen Sandsteinquadern, unter dem flüssigen Blei und den [S.24] glühenden Kupferplatten des Daches war der Tausendjährige Rosenstock, das heilige Symbol der Stadt, begraben, verbrannt, erstickt.
Es gab keine Verheissung, keine Zukunft mehr. Und wir, die sie verspielt hatten, fuhren nun nach Westen, gefangen und mit unbekanntem Ziel. [S.25]
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