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Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg

Kapitel 15: Der grosse Treck

Das neue Kleefeld "Camp E" -- Erinnerungen an eine Dichterklause -- Scheinwerferterror am Zaun in der Nacht -- Erinnerung an Leuchtbomben über Misburg 1944 -- der Regen verwandelt das Camp in ein Watt

aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat

präsentiert von Michael Palomino (2013)
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[Kniehoher Schlamm - "amerikanischer" Befehl für das Camp E, keine Tunnels mehr zu graben]

Anfänglich lebte ich im Camp C. Von da wurde ich eines Tages ins Camp D geschleust. Als der Schlamm dort einen Pegelstand von Kniehöhe erreicht hatte, wenigstens an de Hauptverkehrsadern [an den Hauptwegen], wurden wir in das Camp E verlegt, das soeben neu eingezäunt worden war. Im Camp D hatten wir wie überall in Rheinberg Erdhöhlen gebuddelt. Sie erregten das Missfallen des Kommandanten, wenn nicht das eines noch höheren Tieres, das in einem Hotel oder in einer beschlagnahmten, deutschen Villa schlief und nicht einsah, wozu erwachsene Männer in Sand und Lehm wühlten, um sich eine Unterkunft zu bauen. Der Unzufriedene erliess den strikten Befehl, im neuen Camp E keine Fuchsbauten mehr auszuschachten.

[Dieser Befehl gab den kriminellen "Amerikanern" später das "Recht", die Tunnels mit einem Bagger einfach zuzuschütten und die Menschen in den Höhlen lebendig zu begraben und die Ermordeten dort zu belassen, wo sie waren].

Es war ein echter Kommiss-Befehl, 08/15 amerikanischer Bauart, ungefähr so geistvoll wie der deutsche Befehl: Flak-Kanoniere, ihr habt zwar Russen zur Geschützbedienung zugeteilt bekommen, aber ihr dürft nicht mit ihnen sprechen. Es gab noch mehr sinnvolle Befehle ähnlicher Art: Soldaten, vor dem Einschlafen sind die Öfen in den Baracken auszuräumen. Jedes Feuer muss gelöscht werden. [Oder dieser Befehl]: Am 1. Oktober ist der oberste Knopf an der Luftwaffen-Feldbluse zu schliessen, am 1. April ist er zu öffnen, ungeachtet der herrschenden Witterung. Wie nett [S.141], dass die Dummheit auf Erden ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen und sogar die Ozeane stattfindet.

-- Blöder Hund! Vollidiot! Armleuchter! Das waren noch die gemässigten Verbalnoten, die an den Kommandanten gerichtet wurden. Und wenn er fünf Sterne an seinem Hut oder Kragen gehabt hätte, ein Mann, der solche Befehle gab, hatte den Anspruch, ernst genommen zu werden, verwirkt.

[Treck in den neuen Käfig "Camp E" - ein blühendes Kleefeld]

Gegen Mittag setzten wir uns also in Marsch. An Marschstiefeln fehlte es nicht. Fast bis zu den Knien steckten unsere Beine und Füsse in Lehmhüllen. Camp E war, als wir einzogen, ein blühendes Kleefeld. Wir wateten mit Genuss durch die knirschende, grüne Pracht. Kipling hat im Dschungelbuch etwas über den Tanzplatz der Elefanten erzähl, wie sie eine Waldwiese samt allem Gebüsch und Gehölz zu einer festen Tenne [Gastwirtschaft] niedertrampeln. So ähnlich verfuhren unsere 60.000 stampfenden Füsse mit dem Klee.

Vorläufig wurde noch nicht gegraben, nicht etwa deshalb, weil wir dem kommandierenden Einfaltspinsel die Illusion lassen wollten, als hätte er wirklich etwas zu sagen, aber wir hatten noch nicht Stellung bezogen, hatten unsere Lagerplätze noch nicht gewählt. Wir mussten erst noch unsere Claims wie die Goldgräber belegen. Das alles hatte Zeit. Wir würden unsere Landlos schon nicht verlieren.

[Erinnerung an einen tollen Oberstleutnant, der für Nowak eine Dichterklause bauen liess]

Als ich so obdachlos auf dem Acker stand, schickte ich einen drahtlosen Dankesgruss an meinen [S.142] ehemaligen Regimentskommandeur in Bensheim-Auerbach [südlich von Frankfurt]. Hoffentlich erging es ihm besser als mir. Ihn hatte man aus der Wehrmacht entlassen, weil er dem Gauleiter widersprochen hatte. Als der Oberstleutnant erfahren hatte, dass sich in seinem Flak-Regiment ein Autor befinde, der sogar auf der Bühne gespielt werde, da hatte er mich in meiner Baracke, die ich mit 13 Mann bewohnte, aufgesucht. Sofort verlangte er vom Batterie-Chef, dass ich einen eigenen Wohnraum erhalte. Und als der Chef erklärte, er habe keinen Raum, liess der Kommandeur am selben Tag eine kleine Baracke für mich anfahren. "Dichterklause" wurde sie von den Kameraden genannt. Sie war fast neutraler, heiliger Boden. Man hatte das Gefühl, hier habe selbst der Batterie-Chef weniger zu sagen. Solche hohen Offiziere gab es. Das darf nicht verschwiegen werden. Ich hatte auch einen Brigadekommandeur, der Zeit fand, sich um mich persönlich zu kümmern. Da er mir - auf Reichsmarschalls allerhöchsten Befehl - sechs Wochen Urlaub zur Niederschrift eines Drehbuchs für Carl Fröhlich nicht geben durfte, gab er mir eben zweimal drei Wochen. Mit dem Regimentskommandeur zusammen sorgte er dafür, dass ich baldigst Unteroffizier wurde, damit ich wenigstens vom Druck der unteren Militärhierarchie frei wurde. An diese beiden Männer dachte ich jetzt und ebenso an jenen Oberstleutnant bei der Wehrersatz-Inspektion zu Hannover, der mich im Jahre 1940 vom Wehrdienst freigestellt hatte [S.143], obwohl er das nicht durfte. Er hatte eben beschlossen, die Fussnote im Gesetz, in der sich Goebbels mit mir und meinesgleichen eine besondere Schlittenpartie vorbehalten hatte, zu übersehen.

[Das neue "Camp E" - mit etwas mehr Versorgung als bisher - Scheinwerferterror in der Nacht]

In der Mitte des Camps E war auch schon das Sanitätszelt aufgebaut, desgleichen die Küchen- und Proviantzelte. Diese bildeten wie überall ein kleines Konzentrationslager für sich.

Da die Gefangenen ruhelos hin- und herwogten, wurden die Maschinengewehrtürme mit Doppelposten besetzt. Man konnte von unten die Munitionsgurte erkennen. Neger lehnten faul, aber aufmerksam an den Brüstungen der Türme.

Als die Nacht hereinbrach, kam es zu einer regen Scheinwerfertätigkeit. Die vier Drahtwände waren taghell beleuchtet. Ab und zu flammten Lichtbündel in die schwankenden Massen. Wir glotzten geblendet wie Rotwild auf der Autobahn in die Lichtkegel und standen plötzlich wieder blind in der Nacht, so dass wir minutenlang keinen Schritt zu tun wagten.

[Erinnerung an eine helle Nacht 1944ca.: Alliierter Angriff auf die Öltanks von Misburg mit Leuchtbomben - die Flak sieht keine Flugzeuge mehr]

Mir kam eine andere helle Nacht in den Sinn. Zu Bemerode [bei Hannover] war es, da, wo heute das Haupttor zu Hannovers Messegelände liegt. Der Sender Primadonna hatte gemeldet, dass starke, feindliche Bomberverbände über Kassel ihr Karussell machten und dass sei dann auf Nordkurs drehten. Wir setzten schweigend, ohne einen Befehl abzuwarten, die Stahlhelme auf. Kassel - Nordkurs - das hiess, die Ölraffinerie Misburg wird angegriffen [S.144]. Unsere Batterie befand sich zwar auf dem Erdboden, lag aber der Luftflotte mitten im Wege.

Diesmal kam sie mit neuer Taktik angeflogen. 9000 Meter hoch flog der erste Verband. Er setzte eine Fülle heller Lichter, die wie grosse Glaskuppeln wirkten. Wir begannen mit der sinnlosen Schiesserei bei fünf Kilometer Vorhalt. Kaum hatten die Geschütze ihre elektrischen Schusswerte empfangen, da rauschte der zweite Verband in 3000 Meter Höhe heran. Das Marburg-Gerät fasste ihn auf.

-- Elektrisch Ost!

Der Batterie-Chef brüllt wie ein Irrer. Denn jetzt sind wir dran. Bei solcher Höhe könne wir treffen. Der zweite Verband setzt kleine, aber intensiv strahlende Laternen. In wilder Hast drehen wir am Kommandogerät die neuen Werte ein. Doch nun fasst das Funkmessgerät West den dritten Verband auf, der in 5000 Meter Höhe heranzieht.

-- Elektrisch West!

Ein Tohuwabohu bricht aus. So strahlend hell die Nacht ist, die Entfernungsmesser können keine Maschine sehen. Es ist zu viel Licht zwischen Himmel und Erde. Auch der dritte Verband hat Lampen in grosser Zahl abgeworfen, um uns völlig zu verwirren. Und dann ist ein Donner über uns, dass uns die Knie zittern. Hunderte von Flugzeugen ziehen stur auf Misburg zu. Wir haben neue Munition erhalten, Brandschrapnell-Granaten. Die platzen in allen Höhen wie kleine Sterne, alle vier Sekunden 16 Stück, und jeder der Sterne fächert einen [S.145] Kometenschweif aus. Es ist ein Feuerzauber, wie ihn kein Filmregisseur jemals zustandebrächte. Der ganze Nachthimmel lodert und flammt und sprüht und glüht. Beinahe ist es so weit, dass wir schreien und tanzen. Das ist doch nicht mehr der Krieg. Das ist die Götterdämmerung selbst. Wo ist denn das Orchester, das uns Wagners Untergangs-Musik ins Parkett hämmert? Hier kann man doch nicht mehr schiessen. Hier kann man sich nur noch fertigmachen zur Katastrophe.

Vorbei braust das wilde Heer. Es knattert, kracht, donnert in den Lüften, als würden ganze Wälder von Orkanen zertreten. Dann schiessen Stichflammen empor, Hunderte von Metern hoch. Öltanks sind getroffen, sind explodiert, brennen wie berghohe Fackeln mit schwarz-roten Flammenbahnen aus.

Wir blieben unbehelligt. Keine Bombe waren wir dem Zug der Luftkreuzer wert.

Wieder schneidet mich ein Scheinwerferkegel aus der Rheinberger Nacht heraus. Wollen uns die Amerikaner ins Bett leuchten oder was haben sie vor? Sie fassen es nicht, dass wir immer noch stehen, gehen, stehen, gehen.

[Camp E: Regen und Sanitätszelt - ein Gerücht vom Tor - das neue Watt und die Höhlen]

Mitten in der Nacht begann es zu regnen, erst wolkenbruchartig, dann etwas massvoller, aber zäh, unerbittlich. Es war ein ausgewachsener Landregen, der nicht nur die Kleider, der schon die Haut darunter aufzuweichen drohte. Langsam, ganz langsam, aber wie ein paar Dutzend Lokomotiven [S.146] unter Dampfdruck schoben sich die Massen von allen Seiten gegen das Sanitätszelt, das einzige Dach im Camp E. Die Ärzte wurden leichenblass, wie man mir später erzählte. An den Rändern des Zelts stauten sich die Wellen, holten noch einmal kurz Atem. Gleich würden sie das Zelt überrollen. In wenigen Sekunden waren Ärzte, Sanitäter, Kranke zerstampft, zertreten, zerquetscht.

Einer aber nutzte die Schrecksekunde aus. Gott allein weiss, wie er es gemacht hat. Er hatte einen strategischen Einfall. Plötzlich ging die Parole von Mund zu Mund: "Alle ans Tor!"

Bald war kein Halten mehr. Der konzentrische Druck liess nach. Die Ringe lockerten sich. "Zum Tor! Wir werden heute noch abtransportiert!" Keiner wollte zu spät kommen. Keiner wollte aus Versehen im Lager zurückbleiben. Genaues wusste niemand. Jeder hatte von den unerforschlichen Plänen der Amerikaner gehört. Es war kein Aufruhr im Camp, auch keine Freude, es war nur Bereitschaft, diesem grausigen Wassersturz unter freiem Himmel zu entkommen.

Aber wo war das Tor? Wir waren ja erst vor ein paar Stunden ins Camp E gekommen. Wir konnten uns nicht orientieren. Und selbst wenn wir gewusst hätten, in welcher Richtung das Tor lag, wie sollten wir es finden? Um jeden Körper schlossen sich Wasserwände, undurchdringliche, dicke Wasserwände. Gingen wir oder traten wir nur den Schlamm an Ort und Stelle? [S.147]

Die Scheinwerfer wurden aufgeregt, schleuderten ihre Lichtbahnen auf uns. Aber sie vermochten den dichten Wasserschleier nicht mehr zu durchdringen. Was war denn los im Camp E? Was war denn in diese verdammten Deutschen gefahren? Bisher ging doch alles ganz glatt. Man konnte sie schlechter als Russen, schlechter als Galeerensträflinge, schlechter als Farbige, schlechter als chinesische Kulis behandeln. Die hatten doch täglich mindestens eine Handvoll Reis verlangt. Den Deutschen brauchte man hin und wieder gar nichts zu geben. Sie meuterten nicht. Hatten sie bisher nur mit heuchlerischer Geduld jede Gemeinheit ertragen? Sollte der Aufstand der Misshandelten beginnen?

Panzer fuhren auf. Infanterie ging mit Maschinengewehren in Stellung. Wie schön, dass auch diese Kerle einmal gründlich nass wurden.

Weisse und Schwarze späten wütend durch den Draht. Sammelten sich die Lemminge zu ihrem Marsch in den Tod? Jeden Augenblick konnte das Schnellfeuer, der Massenmord beginnen. Es brauchte nur noch irgendein Hornochse die Nerven zu verlieren. Seltsam eigentlich, dass das nicht geschah. Ob die Scharfschützen am Ende einsahen, dass man den Gefangenen, die kein Dach über dem Kopf hatten, erlauben musste, im Regen herumzulaufen, so lange sie wollten?

Als der Regen endlich etwas nachliess, als ich allmählich begriff, dass in einer solchen Nacht [S.148] kaum noch an Abtransport zu denken sei, warf ich mich irgendwo nieder, erschöpft wie nie zuvor. Ich weinte auch ein bisschen. Vielleicht habe ich sogar heftig geweint. Ich nahm keine Rücksicht mehr auf mich, blieb im Schlamm liegen, nahm eine flache Pfütze als Kopfkissen, wurde fast in die Erde hineingeregnet. Da lag ich, bis ich einen bleigrauen Streifen ins Auge bekam. Es war der Sonnenaufgang hinter den Regenwolken.

Es [das Leben] war also noch nicht zu Ende. Ich stand auf, mühselig wie ein Greis, den man scheintot in den Sarg gelegt hat und der mit seiner letzten, nichtigen Kraft versucht, gegen diesen Irrtum zu protestieren.

Als ich mich umsah, war das Kleefeld verschwunden. Das ganze Camp E war nur noch ein Watt, von dem soeben die Flut zurückgewichen war. Kein grünes Blatt war mehr zu sehen. Wir machten uns wie Feldmesser daran, das Land aufzuteilen und zu beziehen. Eine Stunde später waren schon die ersten Stollen in die Erde getrieben [S.149].
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