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Der Friedensvertrag von Versailles, der kein Friede war

2. Die Formulierung "Kriegsschuld" für den Ersten Weltkrieg an der Friedenskonferenz von Paris 1918-1919

Clémenceau (links), Wilson (Mitte) und Lloyd
                  George (rechts) 1919 in Versailles [2]. Die
                  "Drei" wussten, dass Deutschland ganz Europa
                  germanisieren wollte, und sie wussten, dass sie dies
                  verhindern mussten, auf alle Zukunft
Clémenceau (links), Wilson (Mitte) und Lloyd George (rechts) 1919 in Versailles [2]. Die "Drei" wussten, dass Deutschland
ganz Europa germanisieren wollte, und sie wussten, dass sie dies verhindern mussten, auf alle Zukunft.

von Michael Palomino
(1994 / 2005 / 2010)

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aus: Dr.Wilhelm Ziegler: Versailles; Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg 1933.


1906
Kriegsschuld: Der "Schlieffen-Plan" der deutschen Militärs

Die deutsche Invasion Frankreichs über Belgien wird schon seit 1906 systematisch vorbereitet mit der "Umfassung des französischen Heere" [1]
Seit dem Bekanntwerden dieses Kriegsplans lehnt sich die belgische Politik an England an [2].

6.9.1914-März 1915
Deutscher Angriff gemäss dem "Schlieffen-Plan": Besetzung Belgiens, Angriff auf Frankreich
[3]

[Das Ziel der deutschen Armee ist die Germanisierung Europas. Die Benelux-Staaten und Frankreich haben nur mit England eine Überlebenschance gegen die rassistische, deutsche Armee. Deutschland wird am Ende mit einem Generalstreik zum Frieden gezwungen. Die deutsche Bevölkerung hat dabei die zerbombten belgischen und nordfranzösischen Städte nie gesehen und weiss nicht, was die deutsche Luftwaffe damals schon für Schäden angerichtet hat].

29.11.1918
Eröffnungssitzung der Konferenz
Kriegsschuld: Clémenceau hält bereits jetzt die deutsche Kriegsschuld fest

(S.165)

[Ergänzung:
Die deutsch-militärische Seite hat seit dem "Schlieffen-Plan" ab 1906 immer eine Invasion Frankreichs über Belgien und Holland geplant und hatte die Germanisierung ganz Europas im Sinn. Clémenceau hat mit der Bezeichnung "planmässige Vorbereitung und Entfesselung des Weltkrieges" m.E. nicht unrecht].

Januar 1919
Kriegsschuld: Frankreich will Deutschland alle Schuld am Krieg geben

Die Kriegsschuldfrage wird von französischer Seite immer in den Mittelpunkt der Verhandlungen gerückt, von Anfang an. Angestrebt wird ein Abschnitt unter dem Titel "Abmachungen moralischen Charakters". Deutschland muss für "schuldig" erklärt werden, nur so kann man es konsequent bestrafen. Zusätzlich will die französische Seite noch "Vorsichtsmassregeln" aufstellen. Bei Widerstand anderer Delegationen verstärken die französischen Delegierten ihren Drang zu diesem Ziel (S.160).

18.1.1919
Kriegsschuld: Tagesordnung Punkt 1: "Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges"
Clémenceau hält seine Rede mit Schlussbemerkung mit der Betonung der Dringlichkeit der Kriegsschuldfrage,  und er empfiehlt kürzlich erschienene Bücher der Professoren Larnaude und De Lapradelle zu diesem Thema (S.161).

25.1.1919
Kriegsschuld: Einsetzen einer Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des "Krieges und die aufzuerlegenden Strafen"

-- Vorsitz: Lansing

-- Beginn der Beratungen am 3.2.1919

-- Aufgaben der Kommission zur Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und der Strafen sind:

oo  Feststellen der Verantwortung für den Kriegsausbruch: Schuld am Kriege

oo  Feststellen der Verantwortung für die sogenannten Völkerrechtsverletzungen: Schuld im Kriege (S.161)

Einsetzen von drei Unterkommissionen
-- eine zweite Unterkommission soll die "Verantwortlichkeit am Kriege" prüfen
-- den Vorsitz führt der englische Jurist Sir Ernest Pollock

Die französische Seite arbeitet mit dem vorgegebenen Ziel, Deutschland die Schuld am Kriege zuzuschieben. Französischer Delegierter in dieser Kommission ist Professor Larnaude (S.161).

17./20.2.1919
Kriegsschuld: Larnaude will eine überzeugende Formulierung der Kriegsschuld
Er wünsche "eine unwiderlegliche und unwiderrufliche, durch die Wucht der Tatsachen das deutsche Volk selbst überzeugende Feststellung, dass die Schuld am Ausbruch des Krieges Deutschland zur Last falle." (S.161)

Die englische Seite ist gegen eine einseitige Kriegsschuld-Zuweisung
Der englische Delegierte und Vorsitzende, Sir Ernest Pollock, gemäss Wilhelm Ziegler ein gewissenhafter Jurist, widersetzt sich einer solch "unsachgemässen" Feststellung (S.161).

8.3.1919 ca.
Kriegsschuld: Beratungen der Kriegsschuldkommission unter Lansing

-- die französische Seite startet in der Vollkommission wieder ihre Bestrebungen der Zuteilung der gesamten Kriegsschuld an Deutschland, sogar mit Unterstützung von Staatssekretär Lansing

-- Gründung eines Entwurfkomitees für einen Bericht am 29.3.1919 (S.161).

Schwachpunkte:

-- sehr einseitige Quellenlage: Farbbücher der Mittelmächte und einzelne Dokumente aus den Beständen der Mittelmächte

-- Schnellverfahren von 8-14 Tagen

-- die Kommission findet es richtig, dass sie Anklägerin, Zeugin und Richterin gleichzeitig ist (S.162).

Von Mal zu Mal wird der moralische Charakter gegen Deutschland immer schärfer herausgearbeitet (S.164).

Die vermutliche Mitglieder des Entwurfkomitees sind:

Biggar, Kanadier, Oberstleutnant, zivil: Generalstaatsanwalt

Massey, Premierminister von Neuseeland

Masson, Franzose, Hauptmann, gelegentlich auch für Beratungen in Finanzfragen eingesetzt

Politis, Grieche, Diplomat, Völkerrechtler

-- es sind keine Protokolle vorhanden (S.163).

12.3.1919
Kriegsschuld: Entwurf eines Beschlusses mit der Kriegsschuld nur auf deutscher Seite

Entwurf des Vorsitzenden der Kriegsschuldkommission Lansing:

"Nach diesem Kriterium beurteilt war der 1914 begonnene Krieg ungerecht und unzulässig. Es war ein Angriffskrieg. Die Häupter der Zentralmächte, von dem Wunsch entflammt, in Besitz von Land und souveränen Rechten anderer Mächte zu gelangen, haben sich in einen Eroberungskrieg eingelassen, einen Krieg, der durch seine Ausdehnung, seine unnötige Vernichtung menschlichen Lebens und Eigentums, seine unerbittlichen Grausamkeiten und seine unerträglichen Leiden alle Kriege der modernen Zeiten übertrifft. Die Beweise für dieses moralische Verbrechen gegen die (S.161) Menschheit sind überzeugend und schlüssig. [...]

Die Urheber dieses schändlichen Krieges sollten nicht in die Geschichte eingehen, ohne gebrandmarkt zu werden. Sie sollten also vor die Schranken der öffentlichen Weltmeinung zitiert werden, um das Urteil zu erleiden, das die Menschheit gegen die Urheber des grössten gegen die Welt begangenen Verbrechens ausspricht." (S.162)

Kriegsschuld: Juristische Probleme

-- ein Angriffskrieg war völkerrechtlich überhaupt nicht erfasst

-- dar man jemand als schuldig verurteilen ohne rechtsgültige Verurteilung und ohne geordnetes Prozessverfahren, ohne Anhörung des Angeklagten?

-- wieso wurde Wilhelm II. nicht vorgeladen, wenn er als Hauptdelinguent angesehen wurde?

-- Holland gab deutliche zu erkennen, dass sie ih nicht ausliefern würden

-- juristisch ist die Abstempelung Deutschlands unter Wilhelm II. zum Kriegsschuldigen im Vertrag eine Unmöglichkeit

-- juristisch kann man keine Kriegsverbrechen einklagen ohne Prozessordnung und ohne Anhörung der Angeklagten

-- es ist höchstens eine moralische Diskriminierung Deutschlands und der anderen Mittelmächte als "Kriegsschuldige" möglich (S.162).

Wilhelm Zieglers Vorschlag für ein Verfahren zur Feststellung von Kriegsschuld

-- historisch-politische Untersuchung über die Vorgeschichte des Weltkriegs

-- bei einseitiger Quellenlage ist eine solche Untersuchung unmöglich

-- in einem Schnellverfahren ist diese Feststellung nicht möglich (S.162).

29.3.1919
Kriegsschuld: Abschlussbericht der Kriegsschuldkommission
Beginn der Endphase der Reparationsverhandlungen.

Ziegler hegt den Verdacht, dass die Arbeit der Kriegsschuldkommission der Reparationskommission zur Verarbeitung übergeben wird, damit die hohen Reparationen durch die Kriegsschuld quasi moralisch gerechtfertigt erscheinen (S.164).

Kriegsschuld: Kommissionsbericht, der nicht verwendet wird - anderer Bericht
Das Entwurfkomitee stellt seinen Bericht vor:

"Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden, und er ist das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen. In Übereinstimmung mit Österreich-Ungarn hat Deutschland vorsätzlich daran gearbeitet, die zahlreichen vermittelnden Vorschläge der Entente-Mächte auf die Seite zu schieben und ihre wiederholten Bemühungen, um den Krieg zu verhüten, zunichte zu machen." (S.162)

Die "amerikanische" Seite hat einen besonderen Vorbehalt: Bruch der Neutralität
(S.162):

"dass die Handlungen (insbesondere der Bruch der belgischen Neutralität) in ausdrücklichen Worten verurteilt werden müssten, und dass ihre Urheber Gegenstand des Abscheues der Menschheit werden sollten." (S.163)

Dieser Bericht wird durch eine Indiskretion in der Presse bekannt und in der ganzen Welt abgedruckt (S.163).

-- dem Rat der 4 wird der Bericht nicht vorgelegt und er wird dort auch nie beschlossen. Der Rat der 4 zieht einen anderen Entwurf vor (S.163)

-- Lloyd Georges spricht von finanzieller Verantwortlichkeit ("financial liability")

-- Lloyd Georges hält sich an die Note von Lansing vom 5.11.1919 (S.164).

1.4.1919
Kriegsschuld: Entwurf von Lloyd Georges

Entwurf von Lloyd Georges Artikel 1:

"Die Alliierten und Assoziierten Regierungen bestätigen die Verantwortlichkeit der Feindstaaten für sämtliche Verluste und allen Schaden, den die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen als Folge des Krieges erlitten haben, der ihnen durch den Angriff der Feindstaaten aufgezwungen wurde." (S.163)

-- Lloyd Georges hat die "finanzielle Verantwortlichkeit" ("financial liability") in eine moralische "Verantwortlichkeit" ("responsibility") umgewandelt

-- der Angriff der Feindstaaten sei den Alliierten aufgezwungen worden (S.164).

5.4.1919 ca. / später nach dem 1.4.1919
Kriegsschuld: Das Ausweichen auf einen englisch-"amerikanischen" Entwurf - die "Urfassung" des Art. 231 im Reparationsabschnittsentwurf von Lloyd Georges

Die Reparationskommission beschliesst, den Entwurf im Memorandum über die Reparationsbestimmungen vom 1.4.1919 zu verwenden, der auf der Grundlage des Planes von Lloyd Georges vom 29.3.1919 basiert.

Artikel 1 des Reparationsabschnittes lautet:

"Die Alliierten und Assoziierten Regierungen bestätigen die Verantwortlichkeit der Feindstaaten für sämtliche Verluste und allen Schaden, den die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen als Folge des Krieges erlitten haben, der ihnen durch den Angriff der Feindstaaten aufgezwungen wurde." (S.163)

-- Verabschiedung der moralischen "Verantwortlichkeit" ("responsibility" der Mittelmächte

-- der Angriff der Feindstaaten sei den Alliierten aufgezwungen worden

-- Zusatz: "und die Feindstaaten erkennen an": den Mittelmächten wird ein Eingeständnis der moralischen Minderwertigkeit aufgezwungen

-- der Entstehungsprozess dieser Zusätze ist nicht rekonstruierbar (S.164).

Ziegler bezeichnet dies als "Kriegsschuldlüge" (S.163). Die Aufnahme eines eigenen Eingeständnisses der moralischen Minderwertigkeit in einem von diesen zu unterschreibenden Friedenspakt steht gemäss Ziegler ohne Vorgang in der Weltgeschichte da. Die französische Seite hatte ihr Ziel erreicht (S.164).

Juni 1919
Kriegsschuld im Vertrag

-- der "Amerikaner" James Brown Scott gibt gemäss Ziegler der Formulierung "die letzte Prägung"

-- die französische Seite hat die Herrschaft über die Platzierung des Kriegsschuldartikels

-- die Alliierten und Assoziierten Mächte seien nacheinander unmittelbar oder mittelbar in den Krieg verwickelt worden

-- die Kriegserklärungen der Mittelmächte und der Einfall in Belgien seinen Ursprung des Krieges gewesen (S.165).

Die französische Seite versucht, den Kriegsschuldartikel in die Einleitung des Vertrags einzubringen, was aber den Widerstand von Präsident Wilson zur Folge hat (S.165).

Kriegsschuld: Art.231: Deutschland und seine Verbündeten sind "Urheber"

"Die Alliierten und Assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands uns seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben." (S.160)

16.6.1919
Kriegsschuld: Clémenceau-Antwort auf deutsche Einwände gegen die "Kriegsschuld"

Clémenceau: Deutschland habe die Verantwortlichkeit für die "planmässige Vorbereitung und Entfesselung des Weltkrieges" (S.165).

1930er Jahre
Kriegsschuld: Französische Seite wiegelt ihre Formulierung der Kriegsschuld gegenüber Deutschland ab

Die Franzosen unternehmen krampfhafte Anstrengungen, den Art. 231 lediglich als die Feststellung einer Schadensersatzverpflichtung zu deuten. Dabei sind die Anstrengungen zur Schuldzuweisung ja belegbar: Clémenceau hat am 16.6.1919 auf dem Vorwurf der "planmässigen Vorbereitung und Entfesselung des Weltkrieges" bestanden (S.165).

[1936
Frankreichs Olympiadelegation erweist in Berlin bei der Eröffnung der Spiele Hitler mit Hitler-Gruss die "Ehre"

(Zeitungsberichte)]


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Quellen
[1] in: dtv-Atlas zur Weltgeschichte 1986 Bd.2, S.125
[2]
in: dtv-Atlas zur Weltgeschichte 1986 Bd.2, S.85
[3]
in: dtv-Atlas zur Weltgeschichte 1986 Bd.2, S.125

Fotoquellen
[1] Clémenceau, Wilson und Lloyd George 1919 in Versailles: http://www.deutschlanddokumente.de/vvtMarx1929.htm


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