Die deutsche Besatzungspolitik in den
von der Wehrmacht okkupierten Gebieten der Sowjetunion war
auch von ihren eigenen Zielen her gesehen alles andere als
erfolgreich. Die geplante Unterstützung der Front durch eine
brutale, aber dabei so effektiv wie möglich organisierte
Ausbeutung des Hinterlandes gelang ebensowenig wie die
wirksame Unterdrückung des Widerstandes durch
Repressionsmassnahmen oder politische Einwirkung. Einzig das
Vernichtungsprogramm an den osteuropäischen Juden wurde
konsequent verwirklicht.
Ein Grossteil der Ursachen für diesen Misserfolg liegt in
Fehlern begründet, die bereits im Planungsstadium angelegt
waren. So gelang es nie, die unterschiedlichen Interessen
der beteiligten Institutionen zu koordinieren. Das Ergebnis
war, dass die verschiedensten Konzepte nebeneinander
existierten: Ökonomischer Ausbeutungskrieg, rassisch
motivierter Vernichtungsfeldzug, Präventiv- und
Befreiungskrieg stimmten schon vom Ziel her nur punktuell
überein. Dass Vertreter all dieser Zielvorgaben vor Ort
eingesetzt wurden, führte schon auf er strukturellen Ebene
zur festen Etablierung eines beachtlichen
Konfliktpotentials. So bildeten in Minsk beispielsweise die
Auseinandersetzungen zwischen SS und Zivilverwaltung eine
beinahe die gesamte Besatzungszeit durchziehende Konstante.
Erst als die Leitung beider Institutionen in der Hand einer
Person vereint wird, verlieren sie an Prägnanz.
Diese Reibungsverluste wurden durch persönlich motivierte
Auseinandersetzungen noch verstärkt. Durch die
institutionellen Strukturen sehr begünstigt, hatte das so
entstehende Klima ständiger Rivalität fatale Auswirkungen
auf die Effektivität deutscher Verwaltung in Weissrussland.
Die Verzahnung von strukturellen und persönlichen
Rivalitäten kann besonders an Hand der gut dokumentierten
(S.154)
Kontroverse von SSPF Strauch mit dem GKW Kube nachvollzogen
werden.
Hinzu trat das Desinteresse der Nationalsozialisten an einer
mittel- und langfristig angelegten Planung.
(1. Man glaubte, auf diese verzichten
zu können, da nach allgemeiner Einschätzung die
UdSSR in einem weiteren Blitzkrieg schnell besiegt
werden würde).
Dies traf insbesondere für die Gebiete ohne bedeutende
Rohstoffvorkommen zu. Minsk und Weissrussland lagen so nicht
nur im Windschatten der deutschen Planer, sie wurden darüber
hinaus auch zu dem Gebiet, in das persönlich unfähige oder
missliebige Funktionsträger abgeschoben wurden. Diesem
Personenkreis - zu nennen sind hier z.B. Kube, der sich
seinerseits über diese Praxis bitterlich beschwerte,
Janetzke, Strauch und Zenner - gelang es nie, das durch das
Planungsdefizit entstandene Vakuum produktiv zu füllen.
Vielmehr nutzten sie die entstandenen Freiräume zu
persönlichen Neigungen entsprechenden, aber politisch wenig
weitsichtigen Projekten. Kubes Sorge um die germanische
Vorgeschichte Minsks oder das Engagement eines als
Wetterdienst-Inspektor eingesetzten bayrischen
Archivassessors für die Archive der Stadt gehören in diese
Kategorie.
(2. In
Einzelfällen
stimmten
politisch Sinnvolles und persönliche Neigung
allerdings überein, wie im Falle der Jugendarbeit
eines HJ-Führers).
Weitere Unzulänglichkeiten trugen zum mangelhaften Niveau
der deutschen Besatzungsverwaltung bei. Viele der in Minsk
eintreffenden nationalsozialistischen Funktionsträger waren
erheblich mit ideologisch motivierten Vorurteilen
befrachtet. Für sie gehörten Slawen einer minderwertigeren
Menschenrasse an, die meisten waren wohlmöglich verkappte
Bolschewisten. Hinzu kam die sehr lückenhafte Ausbildung.
Nur wenige Deutsche beherrschten eine slawische Sprache; auf
den wenigen Vorbereitunsglehrgängen wurden den Teilnehmern
kaum Verständnis für (S.155)
das Land vermittelt. Der Personalmangel verschärfte die
Schwierigkeiten zudem ausserordentlich.
Das Ergebnis dieser Defizite war eine Besatzungspolitik, die
viele Chancen vergab. Die dringendsten Probleme der Stadt -
allen voran die Versorgung mit Lebensmitteln - konnten nie
gelöst werden. Das Anwachsen der Widerstandsbewegung wurde
hilflos beobachtet, die eingesetzten Mittel in erster Linie
eine Verschärfung des Terrors - waren völlig ungeeignet, ja
kontraproduktiv. Eine echte Chance wurde in der
Zusammenarbeit mit kollaborationswilligen Einheimischen
vertan. Zwar darf gerade hier der Handlungsspielraum nicht
überschätzt werden. Doch gehen einige Fehlentwicklungen
deutlich auf das Konto der Protagonisten vor Ort. Dies gilt
für Strauchs Privatkrieg gegen den Vorsitzenden des
"Weissruthenischen Selbsthilfewerks", Ermatschenko, ebenso
wie für die verfehlte Kirchenpolitik mit ihrem Beharren auf
der von den Orthodoxen ungeliebten Autokephalie.
Vom Vorwurf der Inkompetenz kann kaum eine der in Minsk
eingesetzten Dienststellen freigesprochen werden. Er trifft
gerade auch die Militärverwaltung, deren Massnahmen -
insbesondere die Inhaftierung aller männlichen Erwachsenen
Minsks - eine erste schwere Hypothek für das Ansehen der
Deutschen darstellten. Bemerkenswert ist dabei, dass sich
die Motivation der Militärs, soweit sie erkennbar ist, kaum
von der anderen Institutionen unterscheidet.
(3. Allenfalls
lassen
sich Nuancenverschiebungen ausmachen: So ging es den
Militärs in erster Linie um die Sicherung des
eroberten Gebietes, der SS hingegen primär um die
Verwirklichung ideologischer Ziele. Elemente
rassischen Denkens beispielsweise lassen sich aber
auch bei der Militärverwaltung ausmachen).
Die geschilderten Defizite hatten aber nicht nur
Auswirkungen auf die konkrete Besatzungspolitik. Sie (S.156)
zeigten sich auch in der emotionalen Hilflosigkeit vieler
Deutscher. Unvorbereitet fanden sich die meisten in einer
Lage wieder, in der sie keineswegs als die strahlenden
Eroberer in ein Land mit völlig demoralisierter,
untertäniger Bevölkerung einzogen. Der immer zäher werdende
Widerstand der Einheimischen, ihre Fremdartigkeit und z.T.
auch die gnadenlose Brutalität des Besatzungsregimes zeigten
bei vielen Wirkung. Die Reaktionsweisen waren recht
unterschiedlich: Manche waren der Situation nicht gewachsen,
erlitten Nervenzusammenbrüche, baten um Versetzung. Andere
versuchten sich mit Alkohol zu betäuben, verloren mit der
Zeit alle moralischen Schranken. Wieder andere begannen, an
der Richtigkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung
zu zweifeln. Besonders die Anwesenheit der aus demselben
Kulturkreis stammenden, gleichwohl aber zu tötenden
deutschen Juden trug hierzu bei.
Die jüdischen Bewohner Minsks, sofern sie nicht mit der
Roten Armee fliehen konnten, erwarteten die Deutschen
zunächst ohne besondere Furcht. Ihr Verhalten unterschied
sich anfangs nicht von dem apathischen Vor-sich-Hinleben der
anderen Minsker. Doch die Massnahmen der Besatzungsmacht -
Ghettoisierung und permanente rassische "Siebungen" und
Erschiessungen von Juden im Kriegsgefangenenlager - machten
ihnen sehr schnell ihre verzweifelte Lage klar. Ein kleiner
aktiver Kern reagierte darauf mit der Organisierung von
Widerstand und Versuchen der Kontaktaufnahme zum
gesamtstädtischen Untergrund.
(4. Der Untergrund verhalf aber nur sehr wenigen,
jungen und sowjetpatriotischen Juden zum Überleben).
Die Mehrheit jedoch verhielt sich auch weiterhin passiv.
Neben der Empfindung eigener Machtlosigkeit trug dazu die
von den Deutschen angewandte Taktik bei, die Angelegenheiten
des Ghettos durch einen von ihnen ernannten Judenrat
verwalten zu lassen. Diesem oblag es, für Sicherheit und
Ordnung, aber auch für den reibungslosen Ablauf der (S.157) verschiedenen "Aktionen" zu
sorgen. Ihm gelang dies weit besser, als es die mit den
Gepflogenheiten der Ostjuden kaum vertrauten Besatzer je
vermocht hätten.
(5. Uneingeschränkt
gilt
dies aber erst, nachdem die im Widerstand aktiven
Mitglieder des Judenrates von den Deutschen ausfindig
gemacht und ermordet worden waren).
Die Lage der nach Minsk deportierten deutschen,
österreichischen und tschechischen Juden war von vornherein
hoffnungslos. Den völlig entwurzelten und im Osten fremden
Menschen war eine wirkungsvolle Kontaktaufnahme zum
Widerstand unmöglich. Dem SD gelang es auch in diesem Fall,
den Judenrat zur Disziplinierung einzusetzen. Allerdings war
das Widerstandspotential im deutschen Ghetto sowieso schon
geringer als im russischen. Die kollektive Haltung seiner Bewohner schwankte zwischen
apathischer Resignation und dem Wunsch, sich die letzten
Tage so angenehm wie irgendmöglich zu machen.
(6. Schwer
zu
beurteilen
ist dabei das Mass an gegenseitiger Solidarität. Die
Materiallage lässt hier, wie überhaupt zum Komplex des
jüdischen Schicksals, noch viele Fragen offen).
Die schnelle deutsche Besetzung ihrer Stadt hinterliess bei
vielen weissrussischen und russischen Minskern einen
schweren, tiefsitzenden Schock. Die verzweifelte Stimmung
wurde durch die bald zu Tage tretende Härte des deutschen
Besatzungsregimes noch verstärkt. Dies alles erschwerte die
ohnehin schon prekäre Lage der Minsker, die in einer zu 80%
zerstörten Stadt leben mussten, in der jegliche
Infrastruktur ausgefallen war. So galt die Hauptsorge der
Organisierung des täglichen Überlebens: der Beschaffung von
Lebensmitteln, Wohnraum und Heizmaterial. Besonders die
Lebensmittelversorgung war auf legalem Wege nicht
sicherzustellen. Wes entstanden weitverzweigte illegale
Strukturen, die im von den Deutschen im allgemeinen
geduldeten Schwarzmarkt zusammenliefen. (S.158)
Daneben war die Beschaffung einer legalen Existenz
angesichts der vielen Kontrollen in Minsk zweite Sorge der
Bewohner. Sie hing eng untrennbar mit dem Nachweis einer
Arbeitsstelle zusammen, da die Deutschen eine
Registrierungspflicht beim städtischen Arbeitsamt eingeführt
hatten. Mit der Fortdauer und Zuspitzung der deutschen
Unterdrückungsmassnahmen wurden an diesem Punkt immer mehr
Menschen vor die Frage gestellt, ob denn die weitere Arbeit
für die Besatzungsmacht nicht einer Kollaboration gleichkam.
Die Frage nach dem Widerstand stellte sich immer häufiger.
Er wurde mit der Zeit zu einer Überlebensfrage, da die
Deutschen zum einen immer deutlicher auf die
Verliererstrasse gerieten, und man bei den voraussichtlichen
Siegern auf keinen Fall in den Geruch der Kollaboration
kommen wollte. Zum anderen trieb das brutale
Besatzungsregime selbst die Menschen zu der Erkenntnis, dass
der Widerstand eine realistischere Überlebenschance biete.
Zunächst bestand die in der Stadt aktive Untergrundbewegung
aber nur aus wenigen überzeugten Kommunisten.
(7.
Eine nennenswerte nichtkommunistische
Widerstandsbewegung ist in Minsk nicht nachweisbar).
Ihre Aktionen blieben zunächst unkoordiniert. Sie konnten
die Besatzungsmacht kaum beeinträchtigen. Kontinuierlich
gewann der Widerstand - unterbrochen allerdings durch zwei
verheerende Verhaftungswellen - an Breite und
Organisiertheit. Für die Deutschen zu arbeiten, wurde auch
moralisch unhaltbar. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch
eine geschickte sowjetische Politik: Appelle an den
"Sowjetpatriotismus" fielen ebenso auf fruchtbaren Boden wie
konkrete Zugeständnisse, etwa in der Kirchenpolitik. Durch
die Politik des nationalsozialistischen Deutschlands, die
den Minskern keine realistische Existenzmöglichkeit anbot,
gewann so die stalinistische Sowjetunion immer mehr
Unterstützung. (S.159)
Zunehmend gelang es der Sowjetführung, den Minsker
Untergrund im Sinne einer für den Kriegsverlauf möglichst
effektiven Arbeit durchzuorganisieren. Dies betraf
einerseits die Verfeinerung der konspirativen Techniken,
andererseits die umfassende Lenkung der Aktionen.
(8. Dem
Ziel der Minimierung der Gefahr diente in der letzten
Phase auch die Verlegung der Zentrale zu den
Partisanen. Inwiefern dieser Schritt auch einer
verbesserten Kontrolle des Minsker Untergrundes durch
die Partei dienen sollte, muss offen bleiben. Dies
Motiv spielte aber vermutlich schon deswegen nicht die
entscheidende Rolle, weil die Kontrollmöglichkeiten
schon in der dritten Phase recht umfassend waren).
Die Bereitschaft zur Kollaboration war am Anfang nur schwach
entwickelt. Dies lag zum einen an den Stalinschen
Massenmorden gegen die potentiell kollaborationsbereiten
nationalistischen Eliten. Andererseits bestand auf deutscher
Seite nie die Bereitschaft zu einer gleichberechtigten
Zusammenarbeit. So gaben die 1941 nach Minsk gekommenen
weissrussisch-nationalistisch eingestellten Emigranten sehr
schnell resigniert auf.
(9. Die
Emigranten waren im Grunde die einzige Gruppe, die aus
politischen Motiven heraus mit den Deutschen
zusammenarbeitete).
Was blieb, waren einige aus den unterschiedlichsten Motiven
kollaborierende Menschen. Ihr Wert blieb für die
Besatzungsmacht äusserst begrenzt. (S.160)
Quellen
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
154
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
155
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
156
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
157
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
158
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
159
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
160
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