Die Nationalsozialisten
teilten die Deutschen Minsks in zwei Gruppen ein: Da waren
zum einen die sogenannten Reichsdeutschen, d.h. aus dem
Deutschen Reich stammende Personen, die in der
weissrussischen Hauptstadt in den Jahren 1941-44 stationiert
waren. Diese Gruppe umfasste ca. 7-8000 Menschen.
(1. Zu den ca.
4-5000 Wehrmachtsangehörigen kamen ca. 3000 Zivilisten,
darunter fast 1500 Frauen, nemecko 53; Abschlussbericht,
Bez.-Ltg. Weissruthenien der NSDAP Frauenführung an die
NSDAP-Landesltg. Ostland, Frauenführung vom 20.3.43, BA
R90/229. Diese Zahlen stellten sicherlich den
Höchststand von Mitte 1943 dar, eine genauere
Verifizierung oder zeitliche Differenzierung lässt sich
aufgrund der Quellenlage leider nicht vornehmen).
Dazu kamen ungefähr 1500 sogenannte Volksdeutsche, also
Russlanddeutsche, die zur Zeit der forcierten
Industrialisierung aus ihren angestammten Siedlungsgebieten
an der Wolga gekommen waren.
(2. Janetzke
spricht in der Minsker Zeitung von 1700 Volksdeutschen.
Da einige Russen sich eventuell wegen zu erwartender
Vorteile als Deutsche registrieren liessen, erscheint
eine Korrektur der Zahl nach unten gerechtfertigt).
Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt bei den
"Reichsdeutschen"; die zweite Gruppe wird aber, wo dies
sinnvoll erscheint, mitberücksichtigt.
7.1. Konfrontation mit dem Fremden
Die Schilderung der Verwaltungsstrukturen und
Besatzungsinstitutionen wirft - steht sie allein - ein
schiefes Bild auf das Leben der Deutschen in Minsk. Im Osten
war die Existenz des einzelnen nicht allein von den
vorgegebenen Strukturen abhängig. Sich ad hoc entwickelnde
individuelle und kollektive Verhaltensweisen spielten eine
mindestens ebenso grosse Rolle. (S.128)
Dies traf zudem auf Minsk als der Hauptstadt desjenigen
Gebietes, über das sich die Planer in Berlin und Riga am
wenigsten Gedanken machten, in besonderer Weise zu. Das
Fehlen adäquater Konzepte korrespondierte mit der Tendenz,
nach Minsk diejenigen Leute abzuschieben, die anderswo als
unbrauchbar galten.
(3.
Vgl. die Klage Kubes auf der Tagung vom April 1943,
BA R93/20).
Diese Leute wurden mit dem Land, in das sie kamen, kaum
vertraut gemacht, eine Sprachausbildung fand nicht statt.
(4. Krausnick 289 zitiert entsprechende Klagen
bezüglich der Ausbildung der EGr. Es ist kein
Deutscher bekannt, der weissrussisch sprach).
Diese Unkenntnis musste gerade in einem Land, dessen Kultur
und Sprache noch bis vor kurzem nur von der bäuerlichen
Unterschicht getragen wurde, fatale Konsequenzen haben.
So kamen die Deutschen also in ein ihnen fremdes Land mit
Menschen, zu denen sie keinen Bezug hatten, die sie nicht
verstanden. Die historisch bedingte Armut führte dazu, dass
sie ihnen kulturlos erschienen. Zur Erklärung wurde auf ein
schon in der Weimarer Zeit weit verbreitetes ideologisches
Feindbild zurückgegriffen, das nach acht Jahren
nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland fest
verwurzelt war: den Bolschewismus. Dank seines verderblichen
Einflusses war die Minsker Bevölkerung "verproletarisiert".
(5.
Ereignismeldung UdSSR Nr.23, BA R58/214, 166. Hier
drückt sich in der Art einer Self-fulfilling-prophecy
das vom Bolschewismus erwartete aus).
Das widersprüchliche Stadtbild, in dem sich moderne Gebäude
und Holzhütten gegenüberstanden, war Ausdruck
bolschewistischer "Bau-Grotesken", die lange gewachsene
Rückständigkeit Ergebnis seiner Herrschaft.
(6. Sozgorod,
Minsker Zeitung vom 10.3.43, 4. Vgl. auch die dort
vorzufindenden, historisch unsinnigen Vergleiche Minsks
mit Nürnberg oder Frankfurt am Main).
Die Sinnbilder der Moderne, der (S.129)
Konstruktivismus in der Architektur oder das moderne
Theater wurden als seine Ausgeburt wahrgenommen; und dies
war in der ersten eroberten Unionshauptstadt "im Lande des
siegreichen Sozialismus" besonders gut zu beobachten.
(7. Ebenda;
vgl. Minsker Zeitung vom 1.5.42. Dass derartige
Erklärungsmuster nicht allein Propaganda waren, beweisen
Äusserungen Kubes, in denen er sich gegen diese häufig
wiederkehrenden, festverwurzelten Ansichten wendet und
den Bolschewismus als "Fortschritt" für Weissrussland
bezeichnet. "Und wenn man das Hochhaus (den
konstruktivistisch gebauten ehemaligen Regierungssitz in
Minsk, d.Verf.) kritisieren will - solche Kästen hat man
bei uns in der Systemzeit auch gebaut", Kube auf einer
Tagung im April 1943, BA R93/20).
Das folgende Zitat zeigt erneut deutlich diese aus
Unverständnis resultierende Verachtung, bietet allerdings
eine andere Erklärung an:
"Es ist gewiss nicht leicht für uns, die wir kein Organ
haben, um die Seele des osteuropäischen Menschen zu
durchschauen, über das Animalische seines Wesens
hinwegzusehen. Wir müssen über die Beobachtungen, die wir
auf sanitärem, hygienischem, wegebaulichem,
organisatorischem und manchem anderen zivilisatorischem
Gebiet... machen, zu einer weitergreifenden Erfassung dieses
Menschentypus durchstossen."
(8. Weidhaas
11. Hier wird nicht der Bolschewismus zur Ursache,
sondern eine pseudoanthropologische Andersartigkeit des
Osteuropäers).
Unvorbereitet auf die fremde Arbeitsmentalität, in der das
Improvisieren eine grosse Rolle spielte (9. vgl. Minsker
Zeitung vom 12.9.42 und 10./11.1.43),
erscheinen die Einheimischen den Deutschen als "unbrauchbar"
(10.
Ereignismeldung UdSSR Nr.152, BA R58/220 82).
Dies gilt auch für die politische Arbeit, die durch
"Passivität und politische Stumpfheit der Weissrussen" (11. Einsatzmeldung
UdSSR Nr.36, BA R58/215 170) unmöglich
gemacht werde. Die Fixierung der Menschen
auf (S.130) den Überlebenskampf erschien ihnen als
"unverständliche Sturheit".
(12. Meldung
Nr.19, BA R58/222 9/10: "Die Gedanken kreisen mit
unverständlicher Sturheit lediglich um Partisanen,
Lebensmittel und Sachgüter.")
Verstärkend hinzu trat die Tatsache, in einer fast völlig
zerstörten Stadt leben zu müssen - was man allerdings selber
zu verantworten hatte, sich aber nicht eingestand. Die
Abscheu vor dieser vermeintlich minderwertigen Welt wurde
dadurch noch grösser. In einem Artikel der Minsker Zeitung
über die Eröffnung eines Hallenbades für Soldaten heisst es
abschliessend:
"Doch dann blickt man einmal zu
den hohen Fenstern hinaus, sieht jenseits des hohen
Bretterzaunes vor dem Badegebäude wirre Trümmer. Ein
zerschlissener Bauer lässt seine Ziegen weiden. Dann erkennt
man: Kein Irrtum, wir sind doch in Minsk." (13. Minsker Zeitung
vom 9./10.8.1942).
Was in diesem Propagandaartikel noch mit eher amüsierter
Verzweiflung beschrieben wird, nennt die Minsker
Frauenführerin Morsbach "Ruinenkoller": ein Gefühl der
Verlassenheit in einer unwirtlich und bedrohlich
erscheinenden Umgebung (14. GKW an RKO, Abt. Frauen vom 10.8.42, BA
R/9 229. Vgl. auch den Ausdruck "Steppensender� für den
Landessender Minsk, Minsker Zeitung vom 15.5.42).
Sowohl die mangelnde Vorbereitung als auch die
Bedrohungsängste der Deutschen lassen sich gut an dem
Seuchen- und Ungezieferproblem aufzeigen. Einerseits waren
Erkrankungen wie Darminfektionen, Kreislaufschwächen oder
auch Fleckfieber sicherlich eine reale Gefahr in einer
Stadt, in der weder die Abwasserentsorgung noch die
Müllbeseitigung organisiert waren. Um so mehr verwundert es
daher, dass offenbar nicht ausreichend Vorsorge in Form
(S.131) von Filtrieranlagen (15. GKW an Gauleiter
A.Meyer vom 9.10.41, BA R6/27 18) oder
Schutzimpfungen getroffen wurde (16. vgl. die
Fleckfiebererkrankungen in Minsk, Ereignismeldung UdSSR
Nr.152 25).
Andererseits spricht neben der häufigen Behandlung des
Themas in der Presse und im internen Schriftverkehr
(17. neben den
bereits erwähnten Stellen vgl. Minsker Zeitung vom 31.7.
und 19.11.42; GKW, Abt. Verw.: Allg. Lagebericht vom
15.10.42, BA R93/3 12)
besonders die Brutalität, mit der einer Erkrankung
verdächtigte Personen ohne Prüfung des genauen Sachverhaltes
ermordet wurden, für die starke emotionale Komponente, die
die Seuchengefahr für die Deutschen bedeutete.
(18. Vgl.
Ereignismeldungen UdSSR Nr.144 und 152, BA R58/219 268,
R58/220 25-27 sowie den Reisebericht des Beauftragten
des Omi vom 6.3.42, BA R43II/684 125-127, wo es u.a.
heisst: "Die Erschiessungen (von 280 Zivilgefangenen,
d.Verf.) sollen zur Bekämpfung des Fleckfiebers
stattgefunden haben. Nach Angaben des Hauptwachtmeisters
Eichfeld sind Fleckfiebererkrankungen im Gefängnis weder
vorher noch nachher aufgetreten.")
Die Empfindung der Fremdheit wurde aber durch eine andere
Tatsache noch verstärkt: Der Kontakt zur einheimischen
Bevölkerung fand für die Deutschen fast ausschliesslich über
wenige Einzelpersonen vermittelt statt. Diese stammten, vor
allem anfangs, vielfach aus der Emigration, allmählich
stiessen aber auch kirchliche Würdenträger und einige
Intellektuelle zu diesem Kreis. Insbesondere die ersten
beiden Gruppen hatten aber selber erhebliche
Schwierigkeiten, Zugang zur Bevölkerung zu finden und die
Realitäten zu verstehen. Symptomatisch sind die
Schwierigkeiten eines aus dem Baltikum stammenden
Weissrussen, mit den Minskern in Kontakt zu kommen. Sein Auftreten im "städtischen
Rock" trifft auf "eisige Ablehnung". Aus dem ganzen, bereits
oben zitierten Bericht, spricht seine Distanz zu der
"verwahrlosten" Bevölkerung; bereits die (S.132) Kinder
seien "verkommen" (19. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom
22.8.42, BA R90/126 462-476).
Auch als Folge dieser Zustände kam es zu einer hohen
personellen Fluktuation (20. Für SS, Polizei, SD und EGr. vgl.
Krausnick 557). Das Verhalten dreier nach
Minsk beorderter Köche illustriert dies:
"Sie (die Köche, d.Verf.) haben aber
inzwischen die Trümmerstätte von Minsk fluchtartig wieder
verlassen. Die drei Herren haben geglaubt, es handele sich
hier um die Übernahme einer Hotelküche, wie sie etwa in
Berlin oder in Riga vorhanden sein soll... Unsere
Herdstellen entsprechen der Steinzeit und entsprechen
durchaus nicht modernen Anforderungen... Die von Dir
(gemeint ist der stellvertretende Ostminister Meyer,
d.Verf.) gesandten Köche erklärten mit Schaudern, dass sie
in derartigen Küchen (wohl aus Standesbewusstsein) nicht
arbeiten könnten..." (21. GKW an Dr. Meyer vom 9.10.41, BA
R6/27 18).
7.2. Sich-Festhalten am Vertrauten: Die Rolle
der "Heimat"
" 'Mondschein über Minsk - Mondschein über einer deutschen
Stadt' - geht es einem
unwillkürlich durch den Sinn. Die blaue Blume der Romantik
blüht auf: Spitzgiebeldächer, vertraute Strassen und Winkel,
Kindheitserinnerungen ziehen blitzschnell im Geiste vorüber
und lassen eine leise Sehnsucht zurück. Aber was soll uns
die - uns beherrscht die rauhe Wirklichkeit: Wir sind
gekommen um aufzubauen und zu gestalten! Und doch - wer
Minsk im Mondschein gesehen hat, den lässt dieses
erschütternde Bild nicht los!
Gespenstisch recken sich brandgeschwärzte Mauerreste dem
Himmel entgegen... Leeren Augenhöhlen gleich starren (S.133)
inmitten dunkler Schlagschatten Tür- und Fensteröffnungen
auf den Beschauer... Über allem aber versöhnend und
ausgleichend das Silberlicht des Mondes wie eine linde Hand,
die ein krankes Kind zurechtrückt. Plötzlich, ganz
unvermittelt, klinkt eine leise Mädchenstimme auf in der
Nacht: Ach - zu Hause scheint derselbe Mond mitten in mein
Zimmer, dass es ganz hell ist! Und nun steht mein schönes,
weiches Bett da ganz allein!
... Einen Augenblick will uns das Bewusstsein; weit, weit
weg auf vorgeschobenen Posten zu stehen, bedrücken."
(22. Deutsche Zeitung im Ostland, 12.10.41. Die innere
Stimme - der "innere Schweinehund" - , die den Autor
offenbar zum Verlassen der Front aufruft, wird hier
bewusst nach aussen verlegt, also angesprochen, aber
nicht als eigene Schwäche eingestanden).
In diesem Zitat kommt exemplarisch eine Reaktion zum
Ausdruck, die unter den in Minsk stationierten Deutschen
typisch war: Man stellte der Unverständlichkeit der Umwelt
und den täglichen Grausamkeiten, deren Komplize man war,
eine vermeintlich heile Welt entgegen, in die man quasi
unbeschadet wird zurückkehren zu können glaubte. Neben der
Kindheit eignete sich die Heimat in ganz besonderer Weise
als ein solcher Fluchtpunkt. Dies hatten auch die für die
Betreuung der Deutschen verantwortlichen Stellen bald
erkannt. Deshalb lag ein Hauptgewicht ihrer Aktivitäten in
der Inszenierung von Heimat in der Fremde.
(23. So zum
Beispiel, wenn die Minsker Zeitung vom 24./25.3.42 das
Pflanzen einer "Sonnenblume aus Deutschland" feiert. Ins
Auge springt ebenso die Organisation von deutschen
Fussballmannschaften, ja richtigen Stadtmeisterschaften,
vgl. z.B. Minsker Zeitung vom 16.5., 26.5., 23.7. und
23.10.1942).
Daneben springen aber auch einige konkrete Verhaltensweisen
von Einzelpersonen ins Auge, die deutlich zeigen, dass sich
viele Deutsche mehr auf ihre Heimat bezogen, als (S.134) auf
die in Minsk zu erfüllenden Aufgaben: Da ist
zunächst das Beibehalten heimatlicher Rangbezeichnungen zu
erwähnen, um so mehr, als
diese meistens niedriger waren als die im Besatzungsregime
bekleideten oder gar nur auf dem Papier standen. So liess
sich ein Angestellter der Zivilverwaltung als "Altpartei-
genosse und Ortsgruppenleiter" anreden (24. Heiber 91. Hier
bleibt allerdings der Minsker Rang des Angesprochenen
unklar).
Deutlicher tritt dieses Phänomen allerdings bei
Stadtkommissar Wilhelm Janetzke und bei Generalkommissar
Kube zutage: Beide liessen sich mit ihren alten
Rangbezeichnungen "Gauamtsleiter" (25. Minsker Zeitung
vom 17.2.43; GKW an RKO vom 6.2.42, BA R90/146 518)
bzw. "Gauleiter" ansprechen (26. Vgl. z.B. Minsker Zeitung vom
8.9.42, 27.10.42 und 27./28.6.43; GKW an RKO vom
16.12.41, BA R90/146),
obwohl sie diese Ämter längst nicht mehr
ausübten (27.
Zu Janetzke vgl. Krausnick 329; zu Kube Heiber 69/70,
78).
Daneben fällt vor allem bei den Spitzen der Zivilverwaltung
das Bemühen auf, bereits aus Deutschland bekannte
Mitarbeiter - wenn möglich aus dem Heimatgau - nach Minsk zu
holen (28.
Vgl. die entsprechenden Anmerkungen Strauchs, zitiert
bei Heiber 82/83).
Doch die Bemühungen um Kontakte zu Landsleuten machten auch
keineswegs vor den deutschen Juden halt. Es liegen eine
ganze Reihe von Zeugnissen vor, dass z.T. ansonsten äusserst
brutale Menschen versuchten, zu deutschen Juden näheren
Kontakt zu bekommen. Oft stammten sie sogar aus derselben
Stadt:
-- Der als äusserst brutaler Mensch beschriebene Wiener
SS-Mann Schmiedel "liebte die Konversation (mit den Juden,
d.Verf.), sah sich in den Wohnungen die Familienbilder an
und verteilte im Wiener Lager (S.135) grosszügig Zigaretten.
Er verlangte, nicht mit Herr angeredet zu werden..."
(29.
Loewenstein 709. Das Sonderghetto war in nach den
Herkunftsorten der Juden benannte Teile unterteilt).
-- Der KdO Herf weigerte sich, an einem Pogrom teilzunehmen,
da "im Ghetto Frankfurter Juden sein sollten, unter denen
ich Bekannte hatte, z.T. noch aus gemeinsamer
Kriegsteilnahme (im 1.Weltkrieg, d.Verf.)" (30. Prozess 212).
-- Ein "deutscher Polizeimeister" hatte sich mit der ersten
aus Hamburg stammenden jüdischen Lagerleitung angefreundet
und beförderte sogar insgeheim Post für sie (31. Loewenstein
711).
-- Ein anderer Schutzpolizeioffizier hatte sich eine wie er
aus Frankfurt/Main stammende Jüdin als Hausangestellte
vermitteln lassen und mit ihr ein Liebesverhältnis
angefangen (32.
Justiz IX 16).
-- Das bekannteste Beispiel aber ist
sicherlich Generalkommissar Kube selbst. Bei ihm geriet
über freundschaftliche Kontakte zu einzelnen hinaus gar
die gesamte antisemitische "Weltanschauung" ins Wanken,
wie unten zu zeigen sein wird. Zudem schloss Kube aber
auch schnell persönliche Bekannt- schaften zu einzelnen
Juden. Er umgab sich mit jüdischen Klavierstimmern
(33. Heiber
84/85), Friseuren usw. (34. Justiz XIX 260.
Diese brauchten auch den Judenstern während der Arbeit
nicht zu tragen).
Der einzige auf Fürsprache Kubes aus dem
Minsker Ghetto Entlassene, Karl Loewenstein, verdankte seine
Rettung nicht zuletzt der Tatsache, dass der
Generalkommissar in ihm einen vermeintlichen Studienkollegen
wiederzuerkennen glaubte und sich mit (S.136) ihm über diese
Zeiten unterhielt.
(35.
Loewenstein 717. Dies ist um so bemerkenswerter, als
dass Kube gerade während seiner Studienzeit als rabiater
Antisemit aufgefallen war).
Eine andere Form des Fluchtverhaltens bildete die
Beschäftigung mit altbekannten Hobbys und Steckenpferden.
Dieses Phänomen wird im anschliessenden Kapitel einzuordnen
sein.
7.3. Die Weite des Handlungsspielraumes
Dass das deutsche Besatzungsregime keineswegs ein bis ins
letzte durchstrukturiertes, hierarchisches System war, wird
besonders bei der Betrachtung der Freiräume deutlich, die
den hier Eingesetzten zur Verfolgung eigener Interessen
blieben. Dies verwundert auch gar nicht weiter, zieht man
das oben geschilderte Desinteresse der deutschen Planer an
diesem Gebiet sowie die alles andere als lückenlose Präsenz
der Besatzungsorgane in Betracht.
So entfalteten einzelne bald unabhängig von ihrer
Arbeitsstelle beträchtliche Aktivitäten, deren gemeinsame
Kennzeichen es waren, dass sie weder durch unmittelbare
Notwendigkeiten des Besatzungsregimes motiviert wurden, noch
aufgrund einer Anordnung von oben erfolgten. Sie entsprangen
vielmehr den Bedürfnissen der jeweils Handelnden, auch wenn
- zumindest teilweise - ein wie auch immer geartetes
Pflichtbewusstsein eine Rolle gespielt haben mag. (36. Dies trifft vor
allem auf den ersten der geschilderten Fälle zu).
Dabei nutzten sie einen offenbar bestehenden
Handlungsspielraum. Drei sehr unterschiedlich gelagerte
Beispiele sollen dies demonstrieren. (S.137)
Seit Winter 1941 hielt sich der bayerische
Staatsarchivassessor Dr. Rall als Wetterdienst-Inspektor der
Wehrmacht in Minsk auf.
(37. Bericht Staatsarchivrat Dr. Mommsen vom 20.9.42, BA
R 93/5 2 (fortan: Mommsen).
Ohne offiziellen Auftrag begann Rall, sich mit der
Bestandsaufnahme und Sicherung der Minsker Archive zu
befassen. Da örtliche Stellen seine ehrenamtliche Arbeit
nicht unterstützten, machte sich Rall daran, einheimische
Kräfte notdürftig auszubilden und geeignete Räumlichkeiten
zu suchen. Hiermit stiess er offenbar auf wenig Gegenliebe
sowohl bei der Zivilverwaltung (38. Mommsen 3) als auch
bei Wehrmachtsstellen, die die Räumlichkeiten lieber als
Soldatenquartiere genutzt wissen wollten (39. Mommsen 21/22;
vgl. Ralls Bericht an Dr. Mommsen vom 27.2.42, BA
R93/5).
Rall, der jederzeit von seiner Dienststelle aus Minsk
abgezogen werden konnte, hatte dann allerdings das Glück,
Unterstützung beim Facharchivar des RKO zu finden, was seine
Position etwas verbesserte. Allerdings gelang es ihm bis
September 1942 nicht, eine offizielle Position in der
Zivilverwaltung zu erhalten (40. Mommsen 2/3).
Angefangen hatte Ralls Tätigkeit mit dem freiwilligen
Engagement eines Wehrmachtsangehörigen, den es offenbar
persönlich reizte, in seinem alten Beruf tätig zu werden.
Im Gegensatz dazu stiess der Leiter der Abteilung Jugend
beim GKW, HJ-Bannführer Schulz
(41. Minsker
Zeitung vom 23.6.43. Schulz ist im 2.Halbjahr 1943 zum
Oberbannführer ernannt worden, Fernsprechverzeichnis des
GKW, BA R93/11. Die Abt. Jugend war seit ihrer Gründung
im September 1942 der HAbt. Politik zugeordnet, vgl.
Minsker Zeitung vom 2.9.43),
mit seinem Interesse an Jugendarbeit bei der Zivilverwaltung
von Anfang an auf Gegenliebe. Beim zuständigen
Ostministerium hatte man nämlich keinerlei Vorstellungen,
was mit der einheimischen (S.138) Jugend geschehen solle, so
dass die Verantwortlichen vor Ort weitgehend auf eigene
Faust handeln konnten.
(42. Handrack
184. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Stellung
der Jugendorganisationen sich in den einzelnen besetzten
Ostgebieten stark unterschied).
Schulz' Vorstellungen von Jugendarbeit spiegeln sich so in
dem von ihm organisierten WJW wieder. Deutliche Parallelen
zur HJ waren unverkennbar: Es sollte nach dem Prinzip
"Jugend führt Jugend" eine "Selbsterziehungs-" und
"Selbstführungsgemeinschaft" geschaffen werden
(43. Vortrag Schulz vor Amtsträgern in Minsk im April
43, BA R93/20 1521 (fortan: Schulz),
das Emblem (44.
Minsker Zeitung vom 23.6.43) erinnerte
ebenso wie die Organisationsstruktur (45. Minsker Zeitung
vom 22.6.43) an die HJ. Persönlich
engagierte sich Schulz besonders für die "Einsatzgruppe
Deutschland", d.h. die Organisierung von freiwilligen
Arbeitseinsätzen weissrussischer Jugendlicher im Reich.
Hierbei wollte er besonders eine gegenüber den anderen
"Ostarbeitern" bessere
Behandlung gewährleistet wissen (46. Schulz 1522).
Die Jugendarbeit war aber auch ein Feld, auf dem das
Interesse von Generalkommissar Kube selbst lag (47. Minsker Zeitung
vom 2.9.43; Handrack 185). Überhaupt ist
das Phänomen einer ausgeprägten Beschäftigung mit den
eigenen Vorlieben und Hobbys bei ihm am besten zu
beobachten. Dies liegt wohl an seiner herausgehobenen
Stellung, die ihm die Macht zur Erfüllung seiner Wünsche
gab; zudem liegen über ihn die weitaus meisten Zeugnisse
vor. Kube als rabiater, selbstbewusster Charakter kannte
keine Hemmungen, seine Wünsche in die Tat umzusetzen.
(S.139)
Kubes Vorliebe galt schon zu seiner Zeit als Gauleiter der
Kurmark der germanischen Vorgeschichte. So
verwundert es nicht, dass ein "Hügelgräberfeld"
unweit von Minsk seine Aufmerksamkeit erregte. Auf seine
Veranlassung hin fanden dort ausgedehnte Grabungen statt,
bei der Ausgrabung des ersten Hügels wirkte Kube sogar "in
vorbildlicher Weise" selbst mit. Er beauftragte dann einen
Archäologen aus Greifswald mit der Fortsetzung der Grabungen
und veranlasste die Gründung eines "Bezirksamtes für Vor-
und Frühgeschichte Weissrutheniens". Kube nahm an allem "mit
dem lebhaftesten Interesse teil".
(48. Minsker
Zeitung vom 19.9.42. Natürlich waren die Funde von
"vorgeschichtlicher Bedeutung�, da die "nordische
Rassenzugehörigkeit� auf germanische Ursprünge hinwies,
was die historische Nähe Minsks zum Reich unterstrich).
Ebenso datierte die Vorliebe des Generalkommissars für das
Theater aus früheren Zeiten. Bereits in den zwanziger Jahren
hatte er das Stück "Totila" geschrieben, in dem es um die
Verherrlichung "germanischen Heldengeistes und deutscher
Frauengrösse" (49.
Minsker Zeitung vom 18.8.42) an Hand eines
Stoffes aus der Völkerwanderungszeit ging. Der Rückgriff auf
die vermeintliche Grösse der "alten Germanen" ist also auch
hier unverkennbar. In Minsk liess Kube nun sein Stück
uraufführen. Doch selbst hier war das Echo sehr
zurückhaltend. "Totila" gelangte danach nie wieder zur
Aufführung (S.140) .
(50. Vgl. die
Kritik in der Minsker Zeitung vom 18.8.42; Handrack
98/99; Boris Drewniak: Das Theater im NS-Staat,
Düsseldorf 1983, 138).
7.4. Degeneration moralischer Wertvorstellungen
Erscheinungen "moralischer Indifferenz" (51. Krausnick 112)
waren nach neuen Jahren Nationalsozialismus und zwei Jahren
Krieg weit verbreitet. Sie betrafen alle im Osten
eingesetzten Gruppen: die Wehrmacht, SS und Polizei,
Zivilverwaltung und Wirtschaftsführer. Allerdings sorgten
auch einige Faktoren dafür, dass moralische Hemmschwellen
hier besonders gesenkt wurden.
(52.
Dabei ist natürlich zu bedenken, dass die folgenden
Aussagen nicht alle im Osten eingesetzten Deutschen
betrafen, auch sind natürlich nicht bei jedem alle
Merkmale anzutreffen. Allerdings können sie als
typisch gelten).
So fällt auf, dass viele Funktionsträger mit einer
vorbelasteten Biographie nach Minsk kamen (53. Vgl. die
Untersuchung des Führerkorps der EGr. bei Krausnick
281-284).
Sie alle hatten die Erfahrung von sozialem Abstieg machen
müssen. SSPF Strauch beispielsweise war in seinem
Theologiestudium gescheitert, sein Bearbeiter für
Judenfragen Burkhardt hatte den Niedergang seines
grossbürgerlichen Elternhauses verkraften müssen (54. Krausnick
282/283). Auf Seiten der Zivilverwaltung
ist Ähnliches von Generalkommissar Kube und Stadtkommissar
Janetzke bekannt. Kube hatte wegen von ihm angezettelten
Intrigen sein Amt als Gauleiter der Kurmark verloren und war
in Ungnade gefallen (55. Heiber 69/70), Janetzke
hatte seinen Gauamtsleiterposten wegen disziplinarischer
Verfehlungen verloren. Auch seine Bewerbungen um eine
Bürgermeisterstelle im Havelland oder in den besetzten
Westgebieten waren erfolglos gewesen (56. Krausnick 329)
(S.141).
Ähnlich lag der Fall des Kriminalsekretärs Rübe. Der "reine
Büroarbeiter" hatte schon einige berufliche Enttäuschungen
erlebt, als er nach Minsk kam.
(57. Rübe war von 1933-1945
Kriminalsekretär gewesen, ohne je befördert worden
zu sein, Justiz IX 8).
Er neigte zum Denunziantentum und wurde von seinen Kollegen
als Einzelgänger beschrieben, der nicht allzu beliebt war.
Rübe war in seiner Heimatstadt Karlsruhe durch sein
ungewöhnliches Interesse am Prostituiertenmilieu
aufgefallen. Seine Ehe wird als unglücklich beschrieben.
(58.
Ebenda. Natürlich kann dies alles kein
repräsentatives Bild bieten. Die Häufigkeit
derartiger Fälle bleibt aber auffällig).
Die biographisch bedingte Labilität vieler Funktionsträger
hatte zwei, nur auf den ersten Blick widersprüchliche
Haltungen zur Folge: Einerseits fühlten die Betroffenen sich
in der "Weite des Raums" frei von aller Bevormundung, ja sie
selber waren hier die Herren, die Leben und Tod in ihren
Händen hielten. Andererseits waren diese Personen mit allem,
was sie erreicht hatten, an den Nationalsozialismus
gebunden, so dass sie es nicht wagen würden, sich Befehlen
eines Vorgesetzten - und seien sie noch so unmenschlich - zu
widersetzen (59.
Justiz IX 41; Krausnick 284).
Hinzu kam der häufige Gebrauch von Alkohol
(60. Vgl. z.B.
Loewenstein 711, 712 und 715; Heiber 82. Allerdings gab
es auch Gegenbeispiele von Leuten, die nie einen Tropfen
tranken und die trotzdem die grausamsten Morde
ausführten, vgl. Loewenstein 709),
der z.T. offenbar planmässig eingesetzt wurde, um an
Mordaktionen Beteiligte zu enthemmen und etwaige Bedenken zu
betäuben (61.
Loewenstein 711 und 716; Krausnick 480).
Mit derselben Zielsetzung wurden Zigaretten (S.142)
eingesetzt (62.
Justiz XVII 528).
Die Schwächung natürlicher oder angeborener Hemmungen lässt
sich entlang einer Stufenleiter der Eskalation beschreiben,
wobei diese allerdings nicht als zeitlich abfolgender
Prozess verstanden werden darf, sondern nur der
systematischen Gliederung dient.
Zunächst fällt die häufige Erwähnung cholerischen Schreiens
bzw. Brüllens auf. Dieser "schroffe Umgangston" (63. Ereignismeldung
UdSSR Nr. 23, BA R58/214 167) herrschte
nicht nur im Verkehr mit den Einheimischen oder den
deutschen Juden, sondern auch untereinander.
(64. Justiz
XIX 259, 260, 440; Heiber 91; vgl. das Benehmen Zenners,
der auf einem "Kameradschaftsabend einen
Verwaltungsbeamten, der ihm... lästig wurde, in die
Visage schlug...", Brief Herfs, Justiz XIX 551).
Wenig Beachtung fanden die Eigentumsverhältnisse in Minsk.
Vom ersten Tag an kam es zu Plünderungen oder zur Zerstörung
von Sachwerten. Zwar gibt es Berichte über die Beteiligung
von Angehörigen fast aller zivilen und militärischen
Institutionen, die Häufigkeit der Klagen über marodierende
Soldaten und Offiziere ist jedoch auffällig. Es wurde kaum
unterschieden zwischen Privateigentum, ehemaligem
Staatsbesitz oder dem Eigentum lokaler deutscher Instanzen.
Ausschlaggebend für die Aktionen scheint eher die
Möglichkeit gewesen zu sein, sie gefahrlos zu begehen. So
ist es nur logisch, dass die Plünderungen unmittelbar nach
dem Einmarsch der deutschen Truppen, als die Kontrolle über
die Stadt noch lückenhaft war, einen ersten Höhepunkt
erreichten. Das "brutale und fast stets entschädigungslose
Beschlagnahmen privaten Eigentums durch Einheiten oder
einzelne Wehrmachtsange- (S.143) hörige" (65. Feldkommandantur
812 47) wurde allseits beklagt (66. Vgl. auch
Einsatzmeldungen UdSSR Nr. 23 und 43, BA R58/214 167 und
R58/215 163; Dallin 226).
Auch Offiziere nahmen Wertgegenstände mit:
"Der General Stubenrauch hat einen wertvollen Teil (der
Gemäldesammlung, d.Verf.) aus Minsk mit nach vorn ins
Operationsgebiet genommen. Sonderführer, die mir noch nicht
gemeldet werden konnten, haben 3 Lastkraftwagen (ohne
Quittung) mit Möbeln, Bildern und Kunstgegenständen
verschleppt."
(67. Kube an
Rosenberg vom 3.10.41, zitiert nach: IMGN, Band VII,
108-109. Vgl. den Bericht Kubes an Meyer vom 9.10.41,
der mit der Klage endet: "Der dünne Gesellschaftsfirnis
der Generäle und Stabsoffiziere fällt ab wie schlechte
Emaille, sobald die Herren sich an deutsche
Eigentumsbegriffe gewöhnen sollen. Mein abendliches
Stossgbebet bleibt: Reichsleiter Rosenberg, gib mir die
Macht, dass ich mich für Adolf Hitler durchsetzen kann!�
Kube beklagt sich in diesem Brief auch, dass
Wehrmachtsbetriebe in Minsk für den Privatbedarf der
Offiziere arbeiteten, BA R6/27 18/19).
Flauten die Diebstähle durch Wehrmachtsangehörige während
der Jahre 1942/43 ab, so erreichten sie während des in
seiner letzten Phase ungeordneten deutschen Rückzuges einen
neuen Höhepunkt. Wie schon im Sommer 1941 (68. Vgl.
Feldkommandantur 812 47) wurden auch
diesmal deutsche Einrichtungen keineswegs verschont:
"Trotz der (vor den Betrieben aufgestellten, d.Verf.) Wache
haben Plünderungen stattgefunden. Wesentlich an diesen
Plünderungen waren deutsche Soldaten beteiligt. Das deutsche
Kaufhaus wurde bereits am Donnerstag, das Deutsche Haus am
Freitag geplündert. Angehörige der OT (Organisation Todt,
d.Verf.) beteiligten sich ebenfalls dabei, Einheimische
schlossen sich sofort an. Die aufgestellte Wache, auf die
Plünderungen von mir aufmerksam gemacht, erklärte 'Wenn ich
schiesse, schlagen sie mich tot.'... Die verlassenen
Wohnungen der Reichsdeutschen wurden von deutschen (S.144)
Soldaten auf Radios, Einrichtungsgegenstände, Wäsche und
besonders Zivilanzüge untersucht. Was nicht mitnehmbar war,
wurde sofort weggeworfen oder zerstört. Am Vormittag des
1.Juli kamen 3 Soldaten in meine Wohnung, um sich nach
Mitnehmbarem umzusehen. Sie meinten, 'sie müssen ja doch
bald fort'." (69. Abschlussbericht
18).
Wie schon 1941 (70. IMGN VIII, 109-110; Mommsen 1,7) wurden
die Plünderungen also von willkürlichen Zerstörungen
begleitet.
Für die SS-Leute waren die deutschen Juden ebenso wehrlose
wie lohnende Opfer. Sie requirierten im Ghetto alle
Pelzwaren, neu Ankommenden wurden die Koffer gestohlen (71. Loewenstein 709,
714).
Auch die Angehörigen der Zivilverwaltung waren an den
Plünderungen beteiligt. So wurden einige Eisenbahner beim
Diebstahl von Wehrmachtsverpflegung erwischt. Zwei von ihnen
wurden daraufhin sogar zum Tode verurteilt, später
allerdings begnadigt (72. Todesurteile des Sondergerichts
beim Deutschen Gericht in Minsk, o.Dat., BA R6/397).
Andere versuchten, Einheimische auszurauben:
"In der Nacht vom 26. zum 27.3.42 wurden zwei
Reichsdeutsche, die bei einer zivilbehördlichen Dienststelle
beschäftigt sind, in Minsk festgenommen, weil sie in
betrunkenem Zustand in das Haus eines Ortsbewohners
eingedrungen waren und mit vorgehaltener Waffe Lebensmittel
beschlagnahmen wollten." (73. Ereignismeldung UdSSR Nr.193, BA
R58/221 345; vgl. Heiber 79).
Korruption war in vielen Dienststellen eine verbreitete
Erscheinung. Beliebte Tauschobjekte waren dabei Pässe (74. Heiber 89)
(S.145) und Lebensmittel (75. Loewenstein 712).
Besonders mit dem Ghetto entstand ein schwunghafter, nicht
zu unterbrechender Handel.
Die von ihrem Anspruch her sehr rigide
nationalsozialistische Sexualmoral wurde in Minsk kaum
eingehalten. Man glaubte, sich vor allem gegenüber
Einheimischen und Juden einiges erlauben zu können. So
äusserte ein SS-Mann ungestraft, dass die
Rassenschande-Bestimmungen im Osten nicht gelten würden (76. Loewenstein 709;
Krausnick 479). Es kam zu einer ganzen
Reihe von Vergewaltigungen (77. Dallin 226; Justiz IX 17;
Loewenstein 708; Heiber 79).
Besonders GKW Kube nutzte seine Machtposition gegenüber
Frauen, die ihm gefielen, aus (78. Krausnick 4789; Heiber 83; zu den
erotischen "Festen" vgl. Heiber 82).
Die einheimische Bevölkerung, besonders aber die gefangenen
Widerstandskämpfer und die Juden wurden Opfer von schweren
Misshandlungen. Sobald die "Gefahr" bestand, dass sie an
etwas Freude haben könnten, wurde es verboten (79. Vgl. das Verbot
musikalischer Darbietungen, Loewenstein 714),
willkürliche, völlig überzogene Strafen waren an der
Tagesordnung (80.
Loewenstein 713). Die "Verhöre" endeten
häufig mit schweren Körperverletzungen (81. Loewenstein 715),
ankommende Juden wurden mit Peitschenhieben traktiert.
(82. Justiz
XIX, 259. Es gab allerdings auch Gegenbeispiele von
SS-Leuten, die bei ihrem Mordhandwerk physische Gewalt
vermieden, Loewenstein 715).
Den Mordaktionen waren nicht alle in Minsk Eingesetzten
gewachsen, In der ersten Zeit erlitten einige
Nervenzusammenbrüche (S.146); auch Fälle von beginnendem
Irrsinn sind belegt (83. Loewenstein 715; vgl. den Fall v.d.
Bach-Zelewski, Krausnick 557). Bald aber
wurde nur noch "ein Haufen verkommener Subjekte" mit
"landsknechthaftem Auftreten (84. Krausnick 557/558),
denen das Morden z.T. sogar Spass machte, zu diesen
Einsätzen herangezogen. Einige Beispiele mögen die Situation
illustrieren:
-- Ein Chauffeur lenkte in betrunkenem Zustand seinen
Lastwagen absichtlich in eine jüdische Arbeitskolonne (85. Loewenstein
716);
-- Ein SS-Mann kommentierte einen von ihm begangenen Mord
mit der Bemerkung: "Bums" hat's gemacht, dann war es vorbei
(86. Justiz
XIX 226);
-- SS-Oberscharführer Burkhardt, der nie trank -
"anscheinend wollte er seine Mordtaten bewusst auskosten" (87. Loewenstein 715)
- tötete die erste Lagerleitung des deutschen Ghettos
folgendermassen:
"Von Fusstritten und Peitschenhieben begleitet, mussten sie
einzeln von dem Wagen herunterklettern, sich mit dem Gesicht
zur Erde gewandt hinlegen und sich mit den Füssen
ausrichten. Dass stellte sich SS-Obersturmbannführer
Burkhardt dorthin, wo ihre Füsse lagen, und erschoss zuerst
den rechten Flügelmann. dann machte er einen grossen Bogen
um die auf der Erde Liegenden, um den linken Flügelmann zu
erschiessen. Wiederum in einem grossen Bogen kehrte er zu
dem zweiten von rechts zurück, erschoss diesen und
wiederholte das Manöver des Umgehens so lange, bis der
letzte erschossen war. Anscheinend machte er den Umweg
jedesmal, um die Ungewissheit der armen Opfer und damit
(S.147) ihre Angst zu
vergrössern."
(88.
Loewenstein 711. Die Beispiele stammen fast alle aus dem
Lager der deutschen Juden nicht etwa, weil es hier am
grausamsten war, sondern weil hierüber ein
Augenzeugenbericht vorliegt).
-- Im russischen Ghetto wurde ein Jude auf grausame Weise
gehängt. Anschliessend warf man Hand- granaten in die
umliegenden, vollbelegten Häuser. "Das gab ein grosses
Gaudium bei der SS." (89. Loewenstein 711).
Einige waren sogar stolz auf ihre Mordtaten, wie jener
Luftwaffensoldat, der damit "prahlte, er habe soeben eine
Judensau erschossen, und so erginge es jeder, die sich vor
der Arbeit drücke" (90. Loewenstein 712). Man fühlte
sich - wie SSPF Zenner - offenbar "als Held, der im
'scharfen Wind' des Ostens seinen Mann stand, und sprach zu
dem Neuankömmling... prahlerisch von den im Osten
herrschenden 'rauhen Sitten', an die jener sich gewöhnen
müsse, ... von 'Tausenden von Juden', die soeben 'über die
Klingen springen' mussten" (91. Justiz XVII 550).
Allmählich jedoch, scheint sich eine ungeheure
Gleichgültigkeit dem Menschenleben gegenüber durchgesetzt zu
haben. Selbst für die geringsten Vergehen galt die
Todesstrafe. Sie wurde verhängt, indem der KdS die
entsprechende Akte mit einem roten "L" (=Liquidieren)
versah. Der KdS Isselhorst versah dann jede ihm vorgelegte
Akte routinemässig mit einem "L" (92. Justiz IX 14).
Als Sühne für einen Fluchtversuch sollten 300 Ghettobewohner
erschossen werden. Die SS empfahl dem jüdischen
Ordnungsdienst, einfach jeden zwanzigsten nach der
alphabetischen Liste zu benennen. Als dieser sich weigerte
und nur offen Tbc-Kranke (S.148) schickte, bemerkte
SS-Oberscharführer Schmiedel:
"Ich weiss gar nicht, warum Sie so viel Theater machen. Sie
klagen über zu wenig Essen; Sie sollten sich freuen, wenn
ich Ihnen Luft mache und Sie dadurch mehr zu essen haben." (93. Loewenstein
710).
Manchen Opfern wurden vor ihrer Ermordung die
Goldzähne und -blomben herausgebrochen (94. Justiz IX 15).
Als die Räumung der Stadt drohte, wurden die Insassen des
Ghettokrankenhauses aus "reiner Bequemlichkeit" umgebracht.
Man wollte sich auf dem Rückzug nicht mit ihnen belasten (95. Justiz IX 17/18).
Da das Stadtgefängnis ständig überfüllt war, wurden
wöchentliche Gefangenenerschiessungen vorgenommen, die
derart willkürlich waren, dass in einem Fall sogar 25
polnische Facharbeiter erschossen wurden, die im Gefängnis
nur provisorisch untergebracht worden waren (96. BA R43II/684a
126/127; vgl. Justiz XIX 203).
In anderen Fällen wurden Menschen getötet, um dadurch Rache
an rivalisierenden Angehörigen der Besatzungsverwaltung zu
nehmen (97.
Vgl. den unter 6.1.3. geschilderten Fall der Tötung von
drei Friseuren aus Rache am Generalkommissar).
Im Herbst 1943 kam es in Minsk zu einem Fall von
Lebendverbrennung: Drei angebliche Widerstandskämpfer - zwei
Männer und eine Frau - wurden auf einem Stapel von Leichen
festgebunden. Die Toten waren vorher aus einem Massengrab
ausgegraben worden und sollten vernichtet werden, um Spuren
zu beseitigen. Dann wurde der Stapel mit Benzin und
Steinkohleteerheizöl übergossen und angesteckt. Während ein
Mann lautlos starb, stiess die Frau einen gellenden
Todesschrei aus. Dem zweiten Mann gelang es, von dem Stapel
herunterzuspringen; er wurde (S.149) sofort erschossen. Die
zuschauenden SS-Leute verfolgten die Szene offenbar ohne
grössere Gefühlsäusserung.
(98. Justiz
XIX 229-231. Der die Aktion leitende SS-Mann pflegte
jeweils auf die Stapel zu steigen und von dort oben
Anweisungen zu erteilen).
7.5. Erschütterung der Weltanschauung
Im Minsker Klima kam es bei einigen nationalsozialistischen
Amtsträgern zu einer nachhaltigen Erschütterung der eigenen
Weltanschauung. Das ungeheure Mass der Zerstörungen, das
tägliche Elend der Einheimischen und die unglaublichen
Brutalitäten, die von ihnen und ihresgleichen begangen
wurden, führten dazu, dass Ansichten, die in Deutschland
ungefragt, oft sogar fanatisch vertreten wurden, plötzlich
ihre Bindungswirkung verloren. In dieser Extremsituation
verloren viele ihren festen Glauben an die so lange
vertretene Ideologie. Dass die neuen Ansichten fast nur von
alten Nationalsozialisten öffentlich geäussert wurden, mag
daran liegen, dass einzig das Selbstbewusstsein dieser
Personengruppe die Jahre seit 1933 nicht nur unbeschadet,
sondern erheblich gestärkt überstanden hatte.
Als Katalysator für das Infragestellen der eigenen Ideologie
wirkten die vom RSHA nach Minsk deportierten Juden. Gerade
ihre Anwesenheit liess bei einigen NSDAP-Mitgliedern Zweifel
an der Richtigkeit des rassisch legitimierten Antisemitismus
aufkommen. Waren die deutschen Juden zu Hause das Fremde,
das Bedrohliche gewesen, so erschienen sie hier geradezu als
das Gegenteil: als das Vertraute in einem unbekannten,
vermeintlichen kulturlosen Land (S.150).
Obwohl er keineswegs der einzige Zweifler war
(99. Vgl. z.B.
den Brief Janetzkes an Rosenberg vom 3.1.42, BA R90/146,
512/513. Schon 1941 war den deutschen Soldaten die
Unterscheidung zwischen Weissrussen und Juden
schwergefallen, Ereignismeldung UdSSR Nr.31, BA R58/215
9),
soll näher auf die Vorbehalte des "Generalkommissars von
Weissruthenien", Wilhelm Kube, eingegangen werden, da sie
die am besten dokumentierten sind (100. Vgl.
insbesondere die Arbeit von Heiber). Kube,
ein Mensch mit brutaler antisemitischer Vergangenheit (101. Heiber 67/68),
hatte nichts dagegen, dass die russischen Juden vernichtet
wurden (102.
Heiber 89). Er wandte sich zunächst allein
gegen die "eines deutschen Menschen und eines Deutschlands
Kants und Goethes" unwürdigen Methoden (103. Heiber 79, vgl.
72).
Der hier schon auftauchende kulturelle Argumentationsgang
setzte sich mit dem Auftauchen deutscher Juden völlig durch.
Kube entdeckte unter ihnen Frontkämpfer des ersten
Weltkrieges, Halbarier, Kriegsverletzte und Facharbeiter,
die sauberer und arbeitsamer seien als die Einheimischen.
"Ich bin gewiss hart und bereit, die Judenfrage mit lösen zu
helfen, aber Menschen, die aus unserem Kulturkreis kommen,
sind doch etwas anderes, als die bodenständigen vertierten
Horden", schrieb er an Lohse.
(104. GKW an
RKO vom 16.12.41, BA R90/146 558/559. Vgl. auch Kubes
Äusserung, man könne Mendelssohn und Offenbach nicht aus
der Musikgeschichte streichen, ohne dass eine Lücke
entstünde, Heiber 90).
Der biologisch begründete Rassismus hatte sich also in einen
kulturellen verwandelt. Der Generalkommissar versuchte,
einige Juden durch Petitionen an das RSHA und den RKO zu
retten, was ihm in einem Fall auch gelang (105. Loewenstein 717).
Demselben (S.151) Zweck diente der allerdings vergebliche
Versuch, sie in einer eigens gegründeten Panjewagenfabrik zu
beschäftigen (106.
Robert Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, München
1983, 166).
Durch diese Haltung geriet Kube vor allem mit jüngeren
NS-Führern in Konflikt. Sein Hauptkontrahent Strauch zitiert
ihn mit der Äusserung:
"Wir jungen Nationalsozialisten hätten wohl biologisch die
richtige Einstellung, aber geistig würden wir doch nicht das
Richtige treffen." (107. Heiber 90)
Es scheint sich also auch um einen Generationskonflikt
gehandelt zu haben. (108. Diese Erklärung bietet auch Heiber an, 71).
Dieser resultierte aus den unterschiedlichen Erlebnissen
beider Generationen. Waren die Älteren um Kube und Janetzke
noch durch Kaiserreich und Weimarer Republik beeinflusst
worden - auch wenn sie letztere scharf bekämpft hatten -, so
waren die Jüngeren fast ausschliesslich vom
Nationalsozialismus geprägt worden. Dazu kam, dass sie ihm
allein ihren Aufstieg verdankten (109. Vgl. Kapitel
7.3).
Etwas anders verliefen die Frontlinien in bezug auf die
Behandlung der als "asiatisch" eingestuften Kriegsgefangenen
und muslimischen Minsker.
(110.
Diese lebten seit ca. 300 Jahren in der Stadt; sie
waren Angehörige westtatarischer Stämme, ihre Zahl
betrug 1942 1232, Minsker Zeitung vom 22.7.42).
Hier stimmten nationalsozialistische Rassenlehre und
weitverbreitete Ressentiments deutscher Soldaten und
SS-Männer völlig überein. Es kam zur Ermordung von
"asiatisch" aussehenden (S.152) Insassen
des Internierungslagers (111. Ereignismeldung UdSSR Nr.21, BA R58/214
146; Krausnick 159, 401).
Mit dem Wandel der deutschen Politik gingen die
Verantworltichen in Minsk dazu über, insbesondere die
muslimische Gemeinde zu fördern. Es kam zur Eröffnung einer
Moschee (112. Minsker Zeitung vom 19.5. und
22.7.42).
In den Presseberichten erschienen die Tataren jetzt nicht
mehr als bedrohlich und fremd; sie wurden als nette,
arbeitsame und antikommunistische Menschen mit fremdem, aber
achtbaren kulturellem Hintergrund geschildert.
In ihrer Konsequenz führten die hier beschriebenen
Veränderungen in der Weltanschauung einzelner
Nationalsozialisten zu zumindest zeitweisen Erleichterungen
namentlich für die deutschen Juden. Damit stehen sie
scheinbar im Widerspruch zu den unter 7.4. geschilderten
Erscheinungen moralischer Indifferenz. Aus Sicht der
Mitglieder des Besatzungsregimes sind sie aber durchaus
Ergebnisse ein und desselben Prozesses. Er kann als
Anpassung an die rauhe Lebenswirklichkeit Minsks
gekennzeichnet werden. Diese wies als kollektiver Prozess
betrachtet widersprüchliche Seiten auf. Sie umfasste die
Verrohung der Sitten, ohne die es schwer war, physisch und
psychisch zu überleben, ebenso
wie die Erfahrung der kulturellen Nähe zu den deutschen
Juden in dieser unbekannten Umwelt; beide Vorgänge wären im
Reich nicht möglich gewesen (S.153).
Quellen
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
128
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
129
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
130
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
131
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
132
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
133
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
134
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
135
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
136
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
137
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
138
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
139
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
140
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
141
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
142
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
143
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
144
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
145
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
146
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
147
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
148
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
149
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
150
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
151
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
152
|
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite
153
|
|
|
^