Kontakt /
                contact       Hauptseite
                / page principale / pagina principal / home        zurück / retour /
                indietro / atrás / back
zurück / retour / indietro / atrás / backzurück   weiterweiter

Uwe Gartenschlaeger

DIE STADT MINSK WÄHREND DER DEUTSCHEN BESETZUNG (1941 - 1944)

6. Die Juden in Minsk
Magisterarbeit im Fach Mittlere und Neuere Geschichte im Rahmen der Magisterprüfung an der
Philosophischen Fakultät der Universität Köln. Gutachter: Prof. Dr. M.Alexander
Abschrift: Michael Palomino (2000)

Teilen:

Facebook







6.1. Die Juden als Opfer nationalsozialistischer Vernichtungsmassnahmen

Wie keine andere Bevölkerungsgruppe wurden die Juden Leidtragende der deutschen Besatzungspolitik. Im Gegensatz zu den Weissrussen blieb ihnen die Option einer Kollaboration mit der Besatzungsmacht schon theoretisch verwehrt. Zwar gelang einem sehr kleinen Teil der Anschluss an den Widerstand, die Wucht und Brutalität der deutschen Gewaltmassnahmen machte die überwältigende Mehrheit aber zu deren wehrlosen Opfern. So ist ihre Situation also von der direkten und dauernden Konfrontation mit dem Tod geprägt.

6.1.1. Die Ghettoisierung

Vor dem deutschen Einmarsch befand sich in Minsk eine der sowohl prozentual als auch in absoluten Zahlen grössten jüdischen Gemeinden der Sowjetunion. Sie stellte mit 100-120.000 Mitgliedern fast die Hälfte der Stadtbevölkerung.

(1. zur zahlenmässigen Entwicklung der Juden in Minsk 1941-44 vgl. Tabelle 3)
.

Zwar floh eine nicht näher bestimmbare Zahl mit der Roten Armee oder versteckte sich vor den deutschen Truppen in den Wäldern, es gelang der Besatzungsmacht aber dennoch ca. 70-80.000 Juden im Minsker Ghetto zu internieren. Diese Zahl erscheint relativ hoch, geht man für den Juli 1941 von einer Gesamtbevölkerung noch wesentlich über 100.000 Menschen aus. Es können jedoch einige Gründe für diese Tatsache angegeben werden:

-- Vermutlich handelte es sich bei den in Minsk Ghettoisierten nicht nur um die unmittelbar aus der Stadt stammenden Juden. Allem Anschein nach wurde auch (S.110)  die weitere Umgebung in die Aktion einbezogen.

-- Wie die Deutschen verwundert feststellten, war die jüdische Bevölkerung auffallend schlecht über den Nationalsozialismus und seinen Antisemitismus informiert.

(2. Bericht OMi-Vertreter beim OKH/GenQu Nr.33, Juli 1941, BA R90/126 3. Dabei spielte sicherlich die Tatsache eine Rolle, dass die Stadt bereits am sechsten Kriegstag erobert wurde. So hatten ihre Bewohner kaum etwas von der erneuten Umstellung der sowjetischen Propaganda auf einen antifaschistischen Kurs mitbekommen).


-- Zudem versicherte sich die Besatzungsmacht eines Instrumentes, mit dem sie schon in anderen Gebieten gute Erfahrungen gemacht hatte. Bereits in der Anordnung des Feldkommandanten zur Errichtung eines Ghettos wird der "jüdische Ältestenrat" für die Erfüllung des Befehls verantwortlich gemacht. (3. Die Anordnung findet sich in Prestuplenija 24-26; vgl. Feldkommandantur 812 17/18).

Dies erleichterte den Deutschen, die selbst Schwierigkeiten hatten, Juden von Nichtjuden zu unterscheiden, die Aufgabe.

(4. Ereignismeldung UdSSR Nr.31, BA R58/215 9. Trotzdem entschied letztlich der Gebietskommissar, wer als Jude eingestuft wurde, RKO: Vorläufige Richtlinien über die Behandlung von Juden im Gebiet des RKO, BA R90/146).

Denn der Judenrat - wie er auch genannt wurde - musste selbst Interesse an der Erfassung aller jüdischen Minsker haben, wollten seine Mitglieder nicht selbst unmittelbar ihr Leben riskieren. (5. Die Rolle des Judenrates wird in Kapitel 6.2. genauer untersucht).

Zudem gilt es zu bedenken, mit welcher Wucht und Geschwindigkeit die Ereignisse der ersten Wochen über die unvorbereiteten Minsker hinwegrollten. Dies traf natürlich auch auf die Juden zu. Bereits einen Monat nach (S.111).


Tabelle 3: Angaben über die Zahl der Juden im Minsker Ghetto 1941-1944
(6. Justiz XIX 188-195, 202-205; Krausnick 614)


insgesamt einheimische Juden deutsche Juden Opfer von Massenmorden

(7. Bei diesen Angaben handelt es sich fast ausschliesslich um die sehr zurückhaltenden Schätzungen bundesdeutscher Gerichte. Die tatsächlichen Zahlen dürften um einiges höher gelegen haben).
1941 Mai 100.0008




Juli 70-80.000
[bzw.40.000]9
  70-80.000
[bzw. 40.000]



[Anfang] November


  - 600010

[Mitte-Ende] November

    +  6 963
1942 Januar 25.000  18.000  7000

[Exekutionen März-Mai]


 [- 5600dt. Juden]
[-12.000 einh. Juden]

Mai

[+ 300,S.114]     3000 [direkt]

Juli

[+ 900,S.114]     9000 [direkt]                    (112)

August 8 600    6000 2600 13.50011
[direkt]

Oktober



1943 April/Mai


516

April/Oktober


  2000

Herbst 6500 4000 2500 4000

Winter 500


1944 Juni


500

8. Juden in Minsk vor der NS-Besetzung;  Meldung Nr.9, BA R58/697 7.

9. The Black Book, New York 1946, 335 und 453; Wilenchik 247; Prozess 201. Die Schätzungen werden nicht begründet. Reitlinger geht von nur 30.000 Bewohnern des Minsker Ghettos aus, indem er analog zur Vorkriegszeit den prozentualen Anteil der Juden an den  verbliebenen 100.000 Bewohnern ausrechnet, Gerald Reitlinger: Die Endlösung, Berlin 1956, 251. Auch diese Schätzung erscheint rein spekulativ. Allerdings spricht die durch eine Aktennotiz Ehrlingers gesicherte Angabe von 18.000 einheimischen Juden für Anfang 1942 eventuell dafür, dass eine Zahl von 70-80.000 Ghettobewohnern für 1941 eventuell zu hoch gegriffen ist.

10. Zahl der vor Ankunft der ersten deutschen Juden Getöteten, Justiz IX 512. Die Ereignismeldung UdSSR Nr.140, BA R85/219 222 gibt die Zahl mit 6624 an. Ein vermutlich vom Januar 1942 stammender Bericht der Einsatzgruppe ! (sog. Ehrlinger-Bericht) gibt die Gesamtzahl der bis dahin in Weissrussland getöteten Juden mit 41.000 an. Da Minsk das grösste Ghetto des Generalbezirks besass, dürfte die Zahl der hier Getöteten die 6000 vom November deutlich überschritten haben.

11. Hierbei handelt es sich um Juden aus dem Westen, die von Mai bis Oktober direkt nach ihrer Ankunft getötet wurden, Justiz XIX 192-195.

Kriegsbeginn wurden sie in einem Ghetto im nordwestlichen Stadtzentrum interniert. Alle mussten einen gelben Fleck auf Brust und Rücken tragen.

(12. Meldung Nr.9, BA R58/697 7; vgl. RKO: Vorläufige Richtlinien über die Behandlung der Juden im Gebiet des RKO vom August 1941, BA R90/146 441).

Die jüdische Intelligenz der Stadt war - soweit sie nicht mit der Roten Armee hatte fliehen können - mit Ausnahme der Mediziner ermordet worden (13. Ereignismeldung UdSSR Nr.32, BA R58/215 21).

Im Juli/August wurden jüdische Arbeitskolonnen für den Einsatz bei Wehrmacht und Stadtverwaltung zusammengestellt (14. Feldkommandantur 812 46).

Eine ihrer ersten Aufgaben war die Errichtung einer Ziegelmauer um das Ghetto (15. Prestuplenija 24/26).

In seinem Inneren wurde ein jüdischer Ordnungsdienst aufgestellt (16. ebenda; Feldkommandantur 812 46).

So hatten sich schon sehr schnell feste Strukturen des jüdischen Lebens unter der deutschen Besatzung herausgebildet (S.113). Innerhalb ihrer engen Grenzen musste sich der Überlebenskampf der folgenden Jahre abspielen.


6.1.2. Das Eintreffen deutscher Juden in der Stadt

Insgesamt trafen während zweier Perioden Juden aus dem Reichsgebiet einschliesslich Österreichs und dem "Protektorat" in Minsk ein (vgl. Tabelle 3). Beide Male ging die Initiative vom RSHA aus, wo man offenbar hoffte, die beabsichtigten Massenmorde in der anonymen Weite des Ostens ungestörter verüben zu können, als im dicht besiedelten Mitteleuropa. So trafen in der zweiten Novemberhälfte 1941 ca. 7000 Menschen in überfüllten und schlecht beheizten Waggons in der Stadt ein (17. Loewenstein 707).

Um sie unterzubringen, hatte der SD vom 7.-11.November ca. 6000 einheimische Juden ermordet. Der so gewonnene Platz wurde vom übrigen Ghetto durch einen Drahtzaun abgetrennt und den Ankommenden als "Sonderghetto" zugewiesen (18. Justiz IX 13). Ende November wurden die Transporte eingestellt. Dies geschah wahrscheinlich nicht wegen der Proteste Kubes und Janetzkes, sondern wegen der ungünstigen Witterung, die eine Fortsetzung der Massenerschiessungen unmöglich machte, da wegen des gefrorenen Bodens das Ausheben von Massengräbern unmöglich geworden war (19. zu den Beschwerdebriefen Kubes und Janetzkes vgl. Kapitel 8.4).

Ab Mai 1942 trafen dann wieder Juden in Minsk ein. Diese wurden nun aber entsprechend den in Berlin getroffenen Beschlüssen bis auf einen kleinen Rest von höchstens 10 % unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Um unter den Opfern, die den letzten Teil ihrer Reise dicht gedrängt (S.114) in Güterwagen absolvieren mussten (20. BA R70/SU 39 3) keine Panik aufkommen zu lassen, hielt ein SS-Führer am Bahnhof eine kleine "Begrüssungsrede". Darin hiess er die Ankommenden in ihrem neuen "Siedlungsgelände" willkommen und bat sie, ruhig in die bereitstehenden Lastwagen zu steigen. Dies geschah in der Regel auch ohne Zwischenfälle. So wurden die nichtsahnenden Menschen zu den bereits ausgehobenen Erschiessungsgruben auf dem Gelände des Gutes Trostinec unweit der Stadt gefahren. Dort mussten sie sich entkleiden und wurden erschossen.

Später wurde das Verfahren verfeinert. So setzte man seit Anfang Juni Gaswagen ein und nutzte seit Anfang August 1942 ein Stichgleis, das wenige hundert Meter vor Gut Trostinec endete. Daher gelangten diese Transporte nicht mehr auf das Gelände des Minsker Güterbahnhofs (21. Justiz XIX 195/196).


6.1.3. Das Leben im Ghetto

Leider kann aufgrund der äusserst schlechten Materiallage an diesem Punkt die sicherlich wünschenswerte Unterscheidung zwischen den Lebensverhältnissen im allgemeinen Ghetto und im deutschen "Sonderghetto" nicht vorgenommen werden.

(22. Von jüdischer Seite existiert nur der allerdings sehr gute Augenzeugenbericht des Deutschen Karl Loewenstein sowie die in The Black Book, New York 1946, gesammelten Berichte. Zur Verlässlichkeit Loewensteins vgl. seine Charakterisierung in: H.G.Adler: Theresienstadt 1941-1945, 2. Auflage, Tübingen 1960, 138).

Wer über die besseren Überlebenschancen verfügte, lässt sich nur schwer beurteilen. Zwar gelang es einigen deutschen Juden, Nutzen aus persönlichen Kontakten zu SS-Männern zu ziehen, die ihnen wegen der fehlenden Sprachbarriere sicherlich leichter fielen (S.115) als den einheimischen Ghettoinsassen. Andererseits war deren Rückhalt und Kontakt zu den ausserhalb der Ghettomauern lebenden Minskern wohl doch die letztlich wertvollere Verbindung, als die zu den unberechenbaren und hemmungslosen Wachmannschaften und SS-Chargen. Dies lässt sich deutlich an der Zahl der Überlebenden feststellen. Wenn auch keine zuverlässigen Zahlenangaben vorliegen, so ist doch die Tendenz der Einzelangaben eindeutig: Während von den deutschen Juden nur ungefähr zehn überlebten (23. Loewenstein 705), so flohen von den einheimischen allein von November 1943 bis Januar 1944 1050 zu den Partisanen (24. Wilenchik 249).

Das Ghettoareal bestand aus einstöckigen Holzhäusern; nur vereinzelt existierten Steinbauten. Jedem Bewohner standen ungefähr 1,5 qm zur Verfügung, wobei die Küche als Wohnraum mitgezählt wurde (25. Loewenstein 708; The Black Book, New York 1946, 454). Elektrizität war nicht vorhanden (26. Loewenstein 708, Justiz XIX 260), Wasser musste aus Gemeinschaftsbrunnen herangeschafft werden. Latrinen mussten sich die Bewohner erst selber graben, Betten bauten sie sich notdürftig aus den Türen zerstörter Häuser. Daher bezog man auch das knappe Heizmaterial (27. Loewenstein 709). Dies war allerdings schnell verbraucht und so fror man besonders im Winter 1942 bitterlich  (28. The Black Book, New  York 1946, 458; Loewenstein 709).

Neben der Kälte wurde der Hunger von Anfang an zum existentiellen Problem. Während im "Sonderghetto" die tägliche Ration aus Wassersuppe mit 5 g Buchweizen und (S.116) 150 g Buchweizenbrot bestand (29. Loewenstein 709), gab es im übrigen Ghetto zeitweise keinerlei Lebensmittelzuteilungen. Im Winter 1942/43 ernährte man sich überwiegend von Kartoffelschalen (30. The Black Book, New York 1946, 453, 458). Krankheiten wie Skorbut, Beri-Beri und Typhus grassierten (31. ebenda 458). Ein Augenzeuge fasst die Situation so zusammen:

"Die Schreie der Kinder, das Stöhnen der Kranken hallten durch die jüdischen Häuser. Die Leute hielten sich mit den Abfällen der deutschen Küchen über Wasser" (32. ebenda).

Die "erstaunliche" Tatsache (33. Gerald Reitlinger: Die Endlösung, Berlin 1956, 104), dass das Minsker Ghetto überhaupt noch so lange existierte - immerhin gut zwei Jahre - ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass die Deutschen bald feststellen mussten, wie angewiesen sie auf die jüdischen Arbeitskräfte waren. Zu Arbeitseinsätzen abkommandierte Juden wurden vorübergehend in dem mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegten Minsker SS-Arbeitslager untergebracht  (34. The Black Book, New York 1946, 454; Justiz IX 16). Hier waren die Lebensbedingungen offenbar etwas erträglicher, vor allem die Wachmannschaften galten als humaner (35. ebenda). Im deutschen "Sonderghetto" erfolgte die Einteilung der Arbeitskolonnen durch ein vom Judenrat geführtes Büro, das jeden Morgen die Arbeitskolonnen zusammenzustellen hatte. Diese mussten dann auf einem Platz im Ghetto antreten und wurden dort einem Vertreter des anfordernden Betriebs übergeben. Ein Augenzeuge schätzt, dass von den ca. 7000 (S.117) Insassen 1425 Arbeit hatten  (36. Loewenstein 712).

Jüdische Arbeitskräfte wurden in fast allen Betrieben und Verwaltungen der Stadt eingesetzt, egal ob diese der Zivilverwaltung, der Wehrmacht, der Organisation Todt, der Reichsbahn oder privaten Unternehmern unterstanden  (37. Loewenstein 712; Justiz IX 19). Dort wurden sie keineswegs nur zu manuellen Hilfstätigkeiten wie Schienen legen oder dem Sortieren von Kleidungsstücken Ermordeter eingesetzt. Sie arbeiteten vielmehr ebenso als Bürokräfte, Krankenschwestern oder Friseure.

(38. Zu den einzelnen Arbeiten vgl. Loewenstein 712; Justiz IX 16-18, 26; Justiz XIX 259).

Die Arbeiten brachten für die Eingesetzten minimale Verbesserungen der Lebensbedingungen. So wurde ihnen notgedrungen eine etwas grössere Bewegungsfreiheit in der Stadt eingeräumt.

(39. Vgl. die diesbezügliche Beschwerde, OMi: Arbeitsgruppe Weissruthenien: Politischer Lagebericht vom 10.2.1942, BA R6/308 2).

Der entscheidendere Vorteil war aber die bessere Verpflegung, die an den Arbeitsplätzen in der Regel geboten wurde.

(40. Allerdings gab es auch hier Ausnahmen. Einige Betriebsleiter und Vorarbeiter teilten die für die Juden bestimmten Rationen untereinander auf, Loewenstein 712).

Teilweise gelang es sogar, vom Munde abgesparte Essensrationen ins Ghetto zu schmuggeln  (41. ebenda).

Zu den schon an sich menschenunwürdigen Lebensbedingungen kam als erschwerendes Moment die Willkürherrschaft der Wachmannschaften. Da wurden Erwachsene und Kinder aus den nichtigsten Gründen ermordet, brutal misshandelt und (S.118) ausgeraubt.

(42. So wurden im März 1942 drei im Ghetto plündernde lettische Schutzmänner festgenommen, Ereignismeldung UdSSR Nr. 180, BA R58/221 77).

Den periodischen Massenexekutionen fielen jeweils Tausende zum Opfer. Wie hilf- und rechtlos die Juden den Launen und dem Terror der Wachmannschaften ausgeliefert waren, sollen einige Beispiele zeigen:

-- So liess SS-Hauptscharführer Rübe - lange Zeit der faktische Chef des Ghettos - jeden siebten jüdischen Beschäftigen eines Minsker Depots erschiessen, weil er dort ein angeblich von Juden verstecktes Gewehr gefunden hatte  (43. Loewenstein 711).

-- Wegen der dadurch hervorgerufenen "frohen Stimmung" wurden gerade erst erlaubte musikalische Darbietungen nach der ersten Vorstellung wieder verboten  (44. Loewenstein 714).

-- Der SS-Mann Stark tötete "aus Rache für eine vermeintliche Kränkung" seitens des Generalkommissars dessen drei jüdische Friseure, ohne dass ihm irgendetwas passierte  (45. Justiz XIX 260/261, 266).

-- Während eines einzigen Tages, am 2. März 1942 wurden ca. 5000 einheimische Juden von betrunkenen SS-Männern ermordet.

(46. Loewenstein 715/716; The Black Book, New York 1946, 458. Um die Überlebenden zu terrorisieren, verbreitete die SS zudem das Gerücht, es seien 25.000 Menschen getötet worden, Loewenstein 716)

-- Als im Sommer 1943 zeitweise die Gefahr bestand, dass Minsk geräumt werden müsste, entschloss man sich, die bei einem Rückzug hinderlichen Kranken des Ghettokrankenhauses "aus reiner Bequemlichkeit" zu töten. Viele wurden kurzerhand in ihren Betten erschossen, die Leichen aus den Fenstern geworfen.

Diese von Terror und dauernder Lebensgefahr geprägte (S.119) Atmosphäre hatte schnell verheerende Wirkung auf den psychischen Zustand der meisten Ghettobewohner. Besonders viele deutsche  Juden standen unter einem Schockzustand, wurden apathisch und verloren jeden Lebensmut  (47. Loewenstein 709).

Die fremde Umgebung, die dauernde Unsicherheit und Existenzbedrohung nahmen ihnen jeden Willen. Bei einer anderen Gruppe drückte sich diese völlige Desillusionierung durch die Verletzung moralischer Gebote aus: So wurden Sterbende bestohlen oder  für das Lager  bestimmte Lebensmittel unterschlagen (48. Loewenstein 714).

Die Mehrheit der Lagerinsassen jedoch versuchte, durch Solidarisierung der Lage Herr zu werden. "Es ist entschieden zu betonen, dass die Kameradschaft unter der Masse der Lagerinsassen geradezu hervorragend war. Jeder suchte dem anderen zu helfen, wo er nur konnte. Vielleicht war es die Ahnung des nahen Todes, die bewirkte, dass die gegenseitige Hilfsbereitschaft im allgemeinen an erster Stelle stand. Wir waren - kurz gesagt - eine grosse Familie", heisst es bei Loewenstein (49. Lewenstein 715). Religiöse Feiertage nahmen in dieser Hinsicht eine Schlüsselfunktion ein.

(50. Loewenstein 714. Die Religion war schon an sich für sehr viele der grosse Rückhalt in dieser ständigen existentiellen Bedrohungssituation).

6.1.4. Das Ende des Ghettos

Über die Zahl der Überlebenden des Minsker Ghettos liegen keine verlässlichen Angaben vor.

(51. Loewenstein beziffert die Zahl der überlebenden deutschen Juden auf ungefähr zehn. Für die einheimischen Juden gibt es keinerlei Schätzungen, Loewenstein 705).

Sie dürfte aber nur (S.120) wenige tausend Menschen umfassen. Der Rest fiel entweder den harten Lebensbedingungen - besonders im strengen Winter 1941/1942 -

(52. Die Zahl der Toten lag hier auch deshalb so hoch, weil es der erste Winter unter den Existenzbedingungen des Ghettos war. Es ist anzunehmen, dass viel Alte, Kranke und Kinder diesem Leben nicht gewachsen waren).

zum Opfer oder starb bei einer der Massenexekutionen (53. vgl. Tabelle 3).

Diese Aktionen fanden meist in den Sommermonaten statt. An ihnen war in der Regel die gesamte Dienststelle des KdS beteiligt, z.T. erhielt sie auch Unterstützung durch Beschäftigte der Eisenbahn und der Schutzpolizei. Anfangs wurden die Opfer zu vorher ausgehobenen Gruben transportiert und dort per  Genickschuss getötet, später wurden auch Gaswagen eingesetzt, deren Insassen dann bereits tot bei den Massengräbern ankamen und dort verscharrt wurden. Die letzte derartige Aktion war die Ghettoauflösung im Herbst 1943, bei der bis auf 500 Facharbeiter alle bis dahin überlebenden Juden auf dem Exekutionsgelände des SS-Gutes Trostinec

(54. Bis auf die Aktion vom März 1942 fanden alle Erschiessungen hier statt)

bei Minsk getötet wurden (55. Justiz XIX 202).

Während des Koblenzer Prozesses gegen Mitglieder der Minsker Dienststelle des KdS wurde eine der Aktionen - die vom März 1942 - rekonstruiert. Ihr Ablauf war bis auf einige Einzelheiten - (56. So etwa lag das Exekutionsgelände hier bei dem Ort Koidanov; Gaswagen wurden noch nicht eingesetzt) - typisch:

Nachdem es misslungen war, die Juden unter einem Vorwand zum freiwilligen Verlassen ihrer Häuser zu bewegen, (S.121) wurden sie zwangsweise zusammengetrieben, teilweise sogar schon an Ort und Stelle erschossen. Nach einem Fussmarsch durch die Stadt wurden sie in Güterwagen nach dem 30 km von Minsk gelegenen Koidanov gebracht.

Hier begannen am nächsten Morden die Exekutionen:

"Zunächst wurden die Juden entladen und gesammelt, dann wurden sie von Letten in jeweils kleinen Gruppen an die vorbereitete Grube geführt, teilweise auch mit Schlägen getrieben. Hier wurden sie zunächst veranlasst, ihre Mäntel und Oberbekleidung abzulegen... Alsdann wurden sie gezwungen, hintereinander an einer der beiden Längsseiten der Grube entlangzugehen, an der auf der gesamten Strecke in geringem Abstand zur Grube die Schützen Aufstellung genommen hatten... Jeder Schütze suchte sich... selbst ein Opfer aus. Das geschah meist in der Weise, dass er einem der Vorübergehenden ein Zeichen zum Stehenbleiben gab... Befand sich das Opfer in geeigneter Schussposition, richtete der Schütze seine Waffe auf dessen Genick und schoss." Die Opfer fielen dann meist direkt in die Gruben.

"Die ausgehobenen Gruben waren so breit, lang und tief, dass sie mindestens mehrere Hundert Leichen aufnehmen konnten. Die Todgeweihten konnten in der Regel schon auf grössere Entfernung die Schüsse hören und hieran erkennen, dass eine Massenexekution im Gang war, als deren Opfer sie vorgesehen waren. Spätestens im Anblick der Grube und der darin liegenden Leichen wurde ihnen, zumindest den Erwachsenen klar, was auch ihnen bevorstand. Manche fluchten, schrien und weinten, andere flehten um ihr Leben; die meisten ergaben sich jedoch gefasst und ohne Wehklagen in ihr Schicksal."  (57. Justiz XIX 191) (S.122)


6.2. Die problematische Rolle der Judenräte

(58. Zur allgemeinen Problematik der Judenräte vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München 1964).


Zur inneren Verwaltung des Ghettos hatten die Deutschen nach bewährtem Muster schon im Juli 1941 einen Judenrat und einen jüdischen Ordnungsdienst gegründet. Mit der Eintreffen deutscher Juden erhielten diese in ihrem Teil dieselben Organisationen. Deren in der Regel zwangsverpflichtete Mitglieder befanden sich in einer schwierigen Lage. Einerseits musste ihnen in Minsk mehr noch als in anderen Ghettos klar sein, dass die ihnen zugewiesene Rolle die eines Handlangers bei der Ermordung ihrer Leidensgenossen war. Die Massaker des Herbstes 1941 liessen daran keinen Zweifel. Andererseits hafteten sie der ständig misstrauischen SS gegenüber für die korrekte Ausführung aller Befehle durch die Ghettobewohner und die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung im Inneren des Lagers.

Besonders die Mitglieder des Judenrates befanden sich also in einem ständigen Dilemma: Sie mussten einige Anordnungen der SS missachten oder zumindest abschwächen, mussten Unerlaubtes durchgehen lassen, wollten sie nicht über die Massen Komplizen bei der Vernichtung ihres eigenen Volkes werden. Der geringste Widerstand aber bedeutete unmittelbare Lebensgefahr. Da dieser Widerspruch im Grunde unlösbar war, kam es zu keinen generellen Verhaltensweisen. Diese wichen vielmehr sehr stark voneinander ab, wie folgende Beispiel zeigen:

-- Das eine Extrem bildete die Kollaboration mit den Deutschen. Diese Personen gaben der SS Tips über Lagervorgänge, beteiligten sich an Plünderungen und Schiebereien. Im Gegenzug erfreuten sie sich des besonderen Schutzes der Deutschen,  wenn die Zusammenarbeit auch letztlich niemandem das Leben rettete. Vor allem aber verbrachten die kollaborierenden jüdischen Funktionäre die letzten Monate ihres Lebens in einem (S.123) für Minsk geradezu phantastischen Luxus.

(59. Loewenstein 712, 714; Justiz IX 14/15, 22. The Black Book, New York 1946, 458 berichtet sogar über eine Orgie, die SS-Leute und jüdische Funktionäre während eines Massakers gemeinsam inszenierten).

-- Die andere Möglichkeit bildete die Mitarbeit im städtischen Untergrund. Diese bot sich nur den einheimischen Juden, da den Fremden der Zugang zu den sowjetisch geprägten Widerstandsstrukturen so gut wie unmöglich war. Vor allem in der Anfangsphase wählten einige Angehörige des Judenrates diesen Weg, sie wurden aber von der SS entlarvt und umgebracht (60. The Black Book, New York 1946, 455-457).

-- Zwischen diesen Extremen gab es eine ganze Palette von fein abgestuften Handlungsweisen. Sie alle verband die eindeutige Parteinahme für die jüdischen Leidensgenossen ebenso wie die Unfähigkeit in der Organisation von Widerstand.

(61. So  verwundert es denn auch nicht, dass diese Fälle insbesondere aus dem "Sonderghetto" bekannt wurden).

So gab es einzelne Vertreter, wie etwa den ersten Judenrat des "Sonderghettos", die ängstlich darauf bedacht waren, bloss nicht den Unmut der Deutschen zu erregen. Sie verboten auch Dinge, die zwar nicht ausdrücklich untersagt waren, von denen sie aber annahmen, dass sie irgendwann auf den Unmut der SS stossen würden. Das Tauschgeschäft mit den Minskern war so ein Fall.

Andere standen auf dem - im nachhinein gesehen angemesseneren - Standpunkt, dass es falsch wäre, den sowieso Todgeweihten die letzte Freude einer guten Mahlzeit zu nehmen (62. Loewenstein 712). Letztlich handelte es sich bei diesen Unterschieden aber wohl nur um aus den Einzelcharakteren herrührende Nuancen, zumal der zur Verfügung stehende Spielraum eine wirkliche Wahl zwischen (S.124)  verschiedenen Optionen von vornherein illusorisch machte.

(63. Ein Ausweg eröffnete sich wie erwähnt erst durch en Anschluss an die Untergrundbewegung).

6.3. Der jüdische Widerstand

Ein autochthoner jüdischer Widerstand, wie es ihn in West-Weissrussland gegeben hatte, ist in Minsk nicht nachweisbar  (64. Wilenchik 246). Wie im gesamten altsowjetischen Gebiet dominierten auch hier Kommunisten und sowjetische Patrioten den Ghettountergrund.

(65. In die Arbeit war auch der erste Judenrat unter Muschkin mit einbezogen, Wilenchik 248; The Black Book, New York 1946, 457. Über den Zeitpunkt der Ermordung Muschkins durch die Deutschen gibt es zwei divergierende Angaben: Wilenchik nennt den Herbst 1941, The Black Book März 1942).

die im August 1941 gegründete Untergrundparteiorganisation beschäftige sich anfangs mit der Herausgabe von Flugblättern, die vor allem über die Erfolge der Roten Armee informierten und so zur Stärkung der Moral beitragen sollten. Zur Nachrichtenbeschaffung diente offenbar ein illegaler Radioapparat. Die Arbeit stiess dank des immensen Nachrichtenhungers auf breite Resonanz (66. The Black Book, New York 1946, 455).

Im September 1941 gelang die Kontaktaufnahme zum städtischen Widerstand ausserhalb der Ghettomauern. Die Verbindung riss zwar in den folgenden Jahren immer wieder kurz ab, konnte aber über die meiste Zeit hin aufrechterhalten werden. Zum Teil wurden sogar nichtjüdische (S.125) Kontaktpersonen ins Ghetto eingeschmuggelt (67. ebenda 459).

Ohne Zögern stellte sich der jüdische Widerstand nun in den Dienst der Partei, für die gerade die jüdischen Facharbeiter, die in allen Betrieben beschäftigt waren, als Informationsquelle von immenser Bedeutung waren. Daher war man von kommunistischer Seite aus natürlich nicht daran interessiert, die Juden aus der Stadt in die sicheren, von Partisanen beherrschten Wälder zu bringen. Dieser Ausweg wurde wie bereits erwähnt nur relativ wenigen, jungen und gut bewaffneten Juden eröffnet. Der jüdische Minsker Untergrund war also von Anfang an bereit, das eigene Leben für den sowjetischen Sieg zu opfern, und dies, obwohl die Partei nicht unbedingt im Interesse der Juden agierte.

Der jüdische Beitrag zum Widerstand erschöpfte sich allerdings nicht in Informantendiensten, wenn diesen auch die zentrale Bedeutung zukam. Hinzu kam die illegale Produktion von Waffen und Ausrüstungsgegenständen für Partisanen und Untergrund durch die Ghettowerkstätten (68. ebenda 456). Ausserdem wurden kleinere Anschläge ausgeführt (69. ebenda 460; Ereignismeldung UdSSR Nr. 92, BA R58/217, 291).

Ihren Höhepunkt erreichte die jüdische Untergrundbewegung im Frühjahr 1942, als sie nach der Zerschlagung des gesamtstädtischen Widerstandes einen wichtigen Beitrag zu dessen Wiederaufbau lieferte (70. Wilenchik 248). Danach verlor sie offenbar allmählich an Schlagkraft, und zwar nicht, weil es den Deutschen gelungen wäre, die nach streng konspirativer Methode aufgebauten Gruppen auffliegen zu (S.126) lassen.

(71. Wilenchik 243 spricht von der "Kettenmethode". Gemeint sind damit kleine, nur über ein oder zwei Personen miteinander verbundene Gruppen. Sie boten den Vorteil, dass bei der Aufdeckung einer Gruppe die anderen relativ ungefährdet waren, da die Verhafteten nur sehr wenig über sie wussten).

Vielmehr ging der Untergrund des Ghettos als eigenständige Grösse in den furchtbaren Massakern der Jahre 1942-1943 unter, vor denen sich nur wenige retten konnten.

Teilen:

Facebook








Quellen
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 110
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 110
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 111
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 111
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 112
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 112
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 113
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 113
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 114
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 114
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 115
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 115
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 116
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 116
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 117
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 117
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 118
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 118
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 119
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 119
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 120
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 120
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 121
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 121
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 122
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 122
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 123
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 123
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 124
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 124
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 125
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 125
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 126
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 126
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944,
                        Seite 127
Gartenschläger: Die Stadt Minsk 1941-1944, Seite 127



zurück / retour / indietro / atrás / backzurück   weiterweiter


^