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Uwe Gartenschlaeger

DIE STADT MINSK WÄHREND DER DEUTSCHEN BESETZUNG (1941 - 1944)


5. Weissrussen und Russen: Überleben zwischen Kollaboration und Widerstand

Magisterarbeit im Fach Mittlere und Neuere Geschichte im Rahmen der Magisterprüfung an der
Philosophischen Fakultät der Universität Köln. Gutachter: Prof. Dr. M.Alexander

Abschrift: Michael Palomino (2000)

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Die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung Minsks können nur indirekt erschlossen werden, da direkte Aufzeichnungen dieser grössten Bevölkerungsgruppe nicht vorliegen, sieht man von den veröffentlichten Memoiren sowjetischer Widerstandskämpfer ab.

(1. Die Problematik sowjetischer Veröffentlichungen wurde bereits in der Einleitung erörtert).


Im folgenden soll trotzdem versucht werden, die Besatzungsjahre aus der Sicht der nichtjüdischen Zivilbevölkerung zu beschreiben, wobei auf eine Differenzierung zwischen Weissrussen und Russen verzichtet werden kann, da diese von den Deutschen zwar theoretisch vorgenommen wurde, in der Praxis aber keine Rolle spielte. (2. Vgl. z.B. Justiz XIX 266).

Oberstes Ziel dieser Bevölkerungsgruppe war erst einmal das Überleben. Für die grosse Masse war politische Betätigung demgegenüber zunächst zweitrangig. Allerdings wurde sehr schnell klar, dass vor allem die deutsche Besatzungsherrschaft, in geringerem Masse auch die sowjetische Widerstandsbewegung, nicht bereit waren, den Minskern eine "neutrale Existenz" zuzubilligen.

(3. Unter "neutraler Existenz" wird dasjenige Verhalten eingestuft, das keinen der beiden Kontrahenten über das für das eigene Überleben unerlässliche Mass hinaus begünstigte. Eine Tätigkeit für die Besatzungsmacht an nicht-exponierter Stelle etwa ist hiermit durchaus vereinbar).

So mussten die Menschen in einer Vielzahl von Situationen zwischen Kollaboration und Widerstand entscheiden. (S.69)

(4. Kollaboration beginnt dabei mit der Übernahme besonderer Hilfsleistungen für die Besatzungsmacht und reicht bis zur offenen Parteinahme für das nationalsozialistische System).

(5. Unter den Minsker Verhältnissen beginnt Widerstand erst mit konkreten Handlungen zum Schaden der Besatzungsmacht, etwa in Form von Arbeitsverweigerung oder Sabotage. Die Beschaffung von Informationen sowjetischer Herkunft, etwa durch das Abhören sowjetischer Sender oder das Lesen von Materialien der Widerstandsbewegung, kann nicht in jedem Falle als Widerstand bezeichnet werden, da es auch für das blosse  Überleben wichtig war (etwa wenn sowjetische Luftangriffe angekündigt wurden, Ereignismeldung UdSSR Nr. 184, BA R58/221 124). Eine exaktere Untersuchung des Widerstands- wie auch des Kollaborationsbegriffes im besetzten Teil der Sowjetunion steht noch aus).


5.1.1. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln und Kleidung

Die offizielle Lebensmittelausgabe war stark an den Arbeitsplatz gebunden. Hier wurden die Lebensmittelmarken verteilt,

(6. Karenkova 238. Durch die Ausstellung von Karten für verstorbene oder nicht existente Personen versuchten die einheimischen Angestellten, die Mengen zu erhöhen bzw. illegal Lebenden zu helfen, Ljachovskij 80).

hier fand eine zusätzliche Versorgung durch Betriebskantinen statt.

(7. Einsatzmeldung UdSSR Nr. 169, BA R58/220 358; Monatsberichte des Wirtschaftsstabes Ost über die wirtsch. Lage in den besetzten Ostgebieten, 21.4.44, BA R6/417 38).

Die nichtarbeitende Bevölkerung war offiziell auf Mitversorgung durch die Arbeitenden oder die wenigen Gemeinschaftsküchen angewiesen. (8. Ereignismeldung UdSSR Nr.23, BA R58/214 167).

Dabei waren die Rationen äusserst knapp bemessen: Im Februar (S.70)

1942 waren für jeden Bewohner beispielsweise 15 g Butter, 10 g Fett und 30 g Hefe oder Sirup vorgesehen. (9. Ereignismeldung UdSSR Nr. 169, BA R58/220 358). 

Arbeiter erhielten zudem Brot- und Kartoffelzuteilungen, die Angaben schwanken zwischen 80 und 500 g.

(10. Borba 1 58; Ereignismeldung UdSSR Nr. 92, BA R58/217 246. Das Brot enthielt neben 50 % Roggen Gerste, Hafer und Buchweizen, Meldung _Nr.50, BA R58/224 118).

Lassen sich insgesamt keine gesicherten Daten über die von den Deutschen organisierte städtische Nahrungsmittelversorgung ermitteln, so steht doch fest, dass diese kaum das Existenzminimum sicherte.

(11. Entsprechende Klagen deutscher Dienststellen finden sich über alle Jahre verteilt, z.B.: 1941: Ereignismeldung UdSSR Nr.42, BA R58/216 291; 1942: Ereignismeldung UdSSR Nr.183, BA R58/221 110; 1943: Meldung Nr. 50, BA R58/224 118; 1944: Bericht Dr. Schilling, BA R6/312 29).

Die Minsker waren also auf andere Quellen angewiesen. Legal und von der Besatzungsmacht durch Saatgutausgabe sogar gefördert war der Gartenbau auf Trümmergrundstücken.

(12. Minsker Zeitung vom 2.7. und 5./6.7.1942; vgl. den Artikel vom 17./18.5.42, in dem unter der Überschrift "Gärtchen hinter dem Haus - Minsker Familien sorgen für ihren Kochtopf" die Anlage von Nutzgärten propagiert wurde).

Da auch dies nicht ausreichte, bekam der Schwarzmarkt sehr schnell eine zentrale Bedeutung bei der Nahrungssicherung. Die Wege, auf denen Lebensmittel auf den Schwarzmarkt gelangten, waren dabei sehr unterschiedlich:

- Ein grosser Teil stammte von den Bauern der Umgebung, die bestrebt waren, ihre Mangelwaren hier teuer zu verkaufen. Teilweise gingen auch Städter - sogar während der Arbeitszeit - aufs Land, um sich dort mit (S.71) Lebensmitteln einzudecken.
(13. Ereignismeldung UdSSR Nr. 184, BA R58/221 223. Auf dem Land wurden aber z.B. auch Beeren gesammelt, Minsker Zeitung vom 7./8.2.43).

- Weit verbreitet waren offenbar auch Diebstähle bei deutschen Einrichtungen. Neben Lazaretten und Grossküchen
(14. Minsker Zeitung vom 22.5.43; Ereignismeldung UdSSR Nr.176 und 180, BA R58/221 36 und 77)

waren vor allem Fabriken betroffen; in einer Brotfabrik soll täglich eine Tonne Brot gestohlen worden sein (15. Borba 1 466). Es entstanden regelrechte Diebesbanden.

- Vereinzelt traten offenbar auch Deutsche als Verkäufer von Lebensmitteln auf
(16. Ereignismeldung UdSSR Nr. 168, BA R58/220 349)

- Alkohol stammte zumeist aus den diversen Schwarzbrennereien
(17. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 476, Meldung Nr.55, BA R58/224 191).

Die Bezahlung erfolgte z.T. durch astronomisch hohe Geldsummen. So kostete 1941 ein Stück Seife 10 RM, ein Ei 1 RM oder ein Kommissbrot 6 RM bei einem Monatsverdienst zwischen 15 RM (Aufwartefrau) und 80 RM (Beamter).

(18. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 474).

Auf Dauer setzte sich allerdings immer mehr der direkte Tauschhandel durch; die Minsker waren gezwungen, ihre gesamten Wertgegenständen einzutauschen: "Alles , was in den Verstecken geblieben ist, das wird nun ans Licht geholt und verhökert." (19. Minsker Zeitung vom 7./8.2.43).

Daneben erhielt die Zigarettenwährung eine gewisse Bedeutung (20. Ebenda). (S.72)

Der Schwarzhandel spielte sich in der öffentlichen Sphäre, auf den allen zugänglichen Märkten, ab. Die Orte waren allgemein bekannt und wurden in der Besatzungspresse sogar genannt (21. Minsker Zeitung vom 8.5.1943). Unter der Überschrift "Markttag in Minsk - Kleine Erlebnisse des Alltags" berichtete die Minsker Zeitung:

"Schwarzer Markt - es wimmelt von Menschen, Männern und Frauen, die sich auf engstem Raum drängeln. Dazwischen Kinder in allen Grössen... Das Tauschgeschäft herrscht vor. Fleisch von einer Ziege, vielleicht auch das eines Kalbes, wird in der nackten Hand gehalten, im günstigsten Falle ist es in ein halbes Blatt der "Minsker Zeitung" gewickelt. Stehend und sitzend wird gekauft, verkauft und getauscht. Hier flüstern zwei Frauen geheimnisvoll miteinander... In der Hand eines Mannes pendelt eine billige Uhr an einer noch billigeren Kette... Uns schwirrt der Kopf von dem Gewimmel und Wortgetümmel in der engen Strasse... Ein altes Mütterchen hält das Gestell eines langen, dünnen, vorsintflutlichen Regenschirms feil... Ein Betrunkener opfert eine halbe Flasche Wodka, spannt das Gestell auf..." (22. Minsker Zeitung vom 25.11.43).

Wie überall in den besetzten Ostgebieten (23. Dallin 408) wurde also auch in Minsk der Schwarzmarkt offenbar geduldet. Hierfür sprechen nicht nur die diversen Presseberichte zu diesem Thema, in denen zwar ein geringschätzig-arroganter Ton vorherrscht, aber keineswegs Verbotsforderungen auftauchen. Auch waren die Gegenmassnahmen kaum spürbar

(24. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 476).

oder beschränkten sich auf die Bekämpfung der Auswüchse. (S.73)

(25. Vor allem auf die Bekämpfung des Wuchers, vgl. Ereignismeldung UdSSR Nr. 182, BA R58/221 104; Minsker Zeitung vom 27.5.42).

Die einzige bekannte grosse Razzia richtete sich gegen die Widerstandsbewegung. Da bei der Bekämpfung des Untergrundes allerdings kaum Erfolge erzielt wurden, entschloss man sich in ihrem Verlauf offenbar, auch gegen den Schwarzmarkt vorzugehen.

(26. Meldung Nr.55, BA R58/224 190/191; vgl. den dazugehörigen Pressebericht in der Minsker Zeitung vom 22.5.1943).

5.1.2. Wohnraumsituation und städtischer Verkehr

Die Wohnraumsituation in der zu 80 % zerstörten Stadt blieb die ganze Besatzungszeit über katastrophal. Zwar lebten in Minsk nur noch ca. 45 % der Vorkriegsbewohner,

(27. Die Einwohnerzahl betrug  ca. 105.000 gegenüber 238.772 vor Kriegsausbruch; Wilenchik 194; Ortsverzeichnis BA R58/574 276).

doch wurde die Lage dadurch erschwert, dass die diversen deutschen Dienststellen die intaktesten Gebäude für sich in Anspruch nahmen, was die Bevölkerung stark verbittert.

(28. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 473).

Nach deutschen Angaben standen für die ca. 105.000 Minsker Mitte 1942 375.400 qm Wohnraum zur Verfügung.

(29. Minsker Zeitung vom 21./22.6.42. Für das Ghetto wurden 85.000 qm angegeben).

Knapp die Hälfte befand sich in Privatbesitz; hier war die deutsche Verwaltung gezwungen, einheimische Spitzel einzusetzen, die die Einhaltung der Mietpreise und des "angemessenen" Wohnraumes kontrollieren sollten (30. Ebenda; Minsker Zeitung vom 20./21.9.42). Reparaturen nahm die Besatzungsmacht (S.74)

offensichtlich nur an von ihr genutzten Gebäuden vor (31. Bericht Dr.Schilling o.Dat., BA R6/312 30). Über den Zustand der Wohnungen ist nur sehr wenig bekannt. Zumindest in den wärmeren Monaten befanden sich die Kochgelegenheiten oft auf der Strasse (32. Minsker Zeitung vom 19.6.42), die Häuser selbst waren zumeist aus Holz, Heizmaterial für den privaten Bedarf war nur sporadisch vorhanden, die Minsker waren in der Regel auf Eigeninitiative angewiesen.

(33. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 473; Nemecko 56).

Petroleum war nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich (34. Minsker Zeitung 7./8.2.43).

Ihre Wege mussten die Minsker zumeist zu Fuss zurücklegen. Ob sie die später von den Deutschen betriebene Strassenbahn, deren Linienführung im übrigen ganz den Bedürfnissen der Besatzungsmacht entsprach, benutzen durften, ist unklar.

(35. Auch der entsprechende Bericht der Minsker Zeitung vom 19.5.43 gibt hierüber keine Auskunft).

Für Transporte mussten Pferdewagen aus der Umgebung organisiert werden.


5.1.3. Die Gesundheitsversorgung

Wie auf kaum einem anderen Gebiet liess sich die Besatzungsmacht bei der Gesundheits- versorgung allein von ihren eigenen Bedürfnissen leiten. Dies bedeutete zunächst, dass ihre Sorge der Vermeidung von Seuchen galt. Die bereits 1941 ausgebrochene Fleckfieberepidemie, die auch unter den Deutschen Opfer forderte (36. Ereignismeldung UdSSR Nr. 152, BA R58/220 25-27), wirkte hier alarmierend. Behandelt wurden nur deutsche Erkrankte. Auch die Vorbeugemassnahmen, vorwiegend kontinuierliche Entlausungen - erstreckten sich nur auf die Minsker, die (S.75) ständig mit Deutschen in Berührung kamen (37. Ebenda).
Die grössten Krankenhäuser er Stadt wurden von Wehrmacht und SS genutzt,

(38. RKO Abt. II an Wehrmachtsbefehlshaber Ostland vom 27.1.43, BA R90/317).

während den Einheimischen nur drei kleine Einrichtungen mit je 50 bis 285 Betten zur Verfügung standen. Daneben führt eine Liste vom Januar 1944 vier Ambulanzen und zwei Apotheken sowie 86 Ärzte und 16 Zahnärzte für über 100.000 Einwohner auf (39. GKW an RKO vom 24.1.44, BA R90/317). Erst Mitte 1943 versuchte die Zivilverwaltung die Lage durch die Einrichtung einer "Weissruthenischen Schwesternschaft" zu verbessern, ohne allerdings Erfolge zu erzielen (40. GKW Abt. Gesundheit, Lagebericht 16.4.43, BA R90/35). Entsprechend schlecht war der Gesundheitszustand der Einheimischen: Hunger- und Krankheitsepidemien führten beispielsweise zu einem Arbeitsausfall von 30 bis 50 % (41. Meldung Nr.50, BA R58/224 20).

Für die Deutschen unmittelbar "wertloses" Leben wurde sofort vernichtet: Bereits im Winter 1941/42 wurden die in einer Spezialklinik am Stadtrand untergebrachten Geisteskranken ermordet (42. Justiz XIX 257; Prozess 133, 193-195). Abtreibungen, im Reich strengstens verboten, wurden in Minsk zumindest nicht bestraft.

(43. Anzeige des Mitarbeiters er deutschen Gesundheitsbehörde Dr.Kranow vom 13.3.43, BA R93/21; Krausnick 479).

5.1.4. Die Arbeit

Eine Arbeitsstelle oder zumindest einen entsprechenden Nachweis zu haben war für die Minsker aus zwei Gründen lebenswichtig:

- einerseits trug das System der Betriebsverpflegung zumindest in begrenztem Umfang zur täglichen Ernährung bei (s.o.);

- andererseits - und dies war weitaus existentieller - war der Besitz eines Arbeitsplatzes oder die Registrierung beim Arbeitsamt der Stadt verbunden mit dem Besitz von Arbeitsausweisen. Diese waren im August 1942 eingeführt worden (44. Minsker Zeitung vom 4.8.42) und mussten bei den häufigen Strassenkontrollen vorgezeigt werden; ihr Nichtbesitz konnte die Einweisung in das örtliche SS-Arbeitslager oder die Deportation ins Deutsche Reich nach sich ziehen.

(45. Ereignismeldung UdSSR Nr.184, BA R58/221 123; Meldung Nr.55, BA R58/224 20).

Versuchten die Minsker anfänglich noch in der Hoffnung auf baldige Wiederkehr der Roten Armee, nicht arbeiten zu gehen und sich mit den eigenen Vorräten durchzubringen, so erwies sich dies bald als zu gefährlich. Die meisten suchten sich Arbeit, für die illegal lebenden Untergrundkämpfer erhielt die Organisierung von Arbeitspapieren entscheidende Bedeutung.

(46. Hist. Inst. des ZK der KPB und Inst. für Marxismus-Leninismus der SED (Hg.): V  lesach Belorussii, Minsk 1977, 238/239 (fortan: Lesach).

Die Einheimischen wurden hauptsächlich in Fabriken, aber auch in der Verwaltung eingesetzt. Die Betriebsleiter waren stets Deutsche, die Weissrussen konnten bis zum Ingenieur aufsteigen (47. Nemecko 56). Sie waren der Willkür ihrer Vorgesetzten schutzlos ausgeliefert, diese konnten sie (S.77) straflos schlagen, vielleicht sogar töten Ebenda; (48. Borba 2 41). Dabei war die Bezahlung minimal: Als Höchstlohn werden monatlich 80 RM angegeben, ein Ungelernter verdiente täglich 1 RM (49. Nemecko 56), andere Quellen sprechen von einem Stundenlohn von 15 Pf (50. Ereignismeldung UdSSR Nr. 165, BA R58/220 359). Die Arbeitszeit betrug dabei 10 bis 12 Stunden täglich, in der Endphase sogar bis zu 16 Stunden (51. Ebenda; Borba 3 177).

Bei derartigen Bedingungen kann es nicht verwundern, dass die Einheimischen versuchten, möglichst wenig zu arbeiten. Die Produktivität war niedrig, die Deutschen klagten allenthalben über "Bummelei" und "Arbeitsverweigerung".

(52. Ereignismeldung UdSSR Nr.165, BA R58/220 359; Novikov 46).

Die Arbeitspflicht stellte die Minsker zwangsläufig vor die Frage, sich zwischen Kollaboration und Widerstand zu entscheiden. Dies galt vor allem für exponierte Stellungen, wie z.B. in der Stadtverwaltung, in Rüstungs- oder Nahrungsmittelbetrieben. Alle Aufträge zu erfüllen hiess hier den Besatzern aktiv zu helfen, es nicht zu tun, zu bummeln oder gar dem Untergrund zu helfen war Widerstand. Ein unbeteiligtes Beiseitestehen gab es im Arbeitsleben kaum. Obwohl keinerlei Zahlenmaterial vorliegt, aus dem hervorginge, wie die Minsker sich entschieden, sprechen doch einige Anhaltspunkte dafür, dass sich die Mehrheit ziemlich bald entschloss, den Widerstand zu unterstützen. Dies geschah zunächst hauptsächlich passiv, durch Arbeitsverweigerung. So sind die hohen Ausfallzeiten und die deutschen Klagen über Bummelei u.ä. also nicht nur auf Krankheiten und mangelnden Arbeitsanreiz zurückzuführen, sie sind bereits Teil des Widerstandes. In er Endphase mussten die Besatzungsorgane sogar dazu übergehen (S.78), die Belegschaften der wichtigsten Betriebe zu kasernieren (53. Borba 3 177).

Neben diesem von den Besatzungsbehörden erfassten Arbeitsmarkt gab es auch inoffizielle, z.T. illegale Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Neben dem schwarzen Markt und der Prostitution (54. Vgl. Krausnick 478) sind hier vor allem Gelegenheitsarbeiten von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung, auf die unten noch einzugehen sein wird.


5.1.5. Das kulturelle Leben

In den äusserst schwierigen Minsker Verhältnissen stand der Kampf ums Überleben natürlich im Mittelpunkt aller Anstrengungen. So verwundert es nicht, dass eigenständige kulturelle Aktivitäten der Zivilbevölkerung kaum überliefert sind.

(55. Ein anderer Grund ist sicherlich die schwierige Quellenlage. Die Minsker Zeitung druckte aber immerhin Fotos, auf denen blinde Sänger (10.2.43) und ein Strassenfotograph (10.11.43) zu sehen sind).

Auch die deutsche Verwaltung betrieb kaum Anstrengungen auf diesem Gebiet. Die Gründung des "Weissruthenischen Theaters" beruhte eher auf den Vorlieben des Generalkommissars (s.u.) (56. Vgl. den Bericht in der Minsker Zeitung vom 15.4.42), so dass die Eröffnungen zweier Filmtheater im Juni 1942 und März 1943 die einzigen Massnahmen waren, deren Motivation zumindest teilweise die Unterhaltung der Minsker war (57. Minsker Zeitung vom 26.3.43). Sie boten insgesamt 665 Menschen Platz. Der übliche Ablauf einer Vorstellung war fol- (S.79) gender: Am Anfang stand die deutsche Wochenschau, die ebenso wie der anschliessende Kultur- oder Propagandafilm weissrussisch synchronisiert war. Dann folgte der Hauptfilm, meist ein deutscher Unterhaltungsfilm mit weissrussischen Untertiteln (58. Minsker Zeitung vom 6.6.42).

Insgesamt stellte das kulturelle Angebot einen vernachlässigenswerten Faktor dar. Wichtiger war dagegen das Lesen von Büchern. Die fliegenden Buchhändler erfreuten sich riesiger, nicht zu stillender Nachfrage (59. Minsker Zeitung vom 11.12.42). Das Buch wurde in einer Zeit, in der alle Orientierungen zu wanken schienen, für viele zur Zufluchtsstätte und zum geistigen wie seelischen Rettungsanker.

(60. Ähnliches war z.B. auch im besetzten Warschau zu beobachten gewesen, vgl. T.Szarota: Warschau unterm Hakenkreuz, Paderborn 1985, 201).


5.2. Die Kollaboration

5.2.1. Arbeiten in exponierter Stellung

Es ist nicht immer leicht, eine scharfe Grenze zwischen dem Überlebenskampf dienenden Taten und der Kollaboration zu ziehen. Eine entscheidende Rolle kommt hier, wie bereits oben kurz erwähnt, dem Arbeitsleben zu. Hier kann versucht werden, solche Tätigkeiten festzustellen, die eben mehr waren, als das von der Besatzungsmacht erzwungene Minimum. Dass es dabei unter den menschenverachtenden Minsker Verhältnissen in einzelnen Fällen zu einer Entscheidung zwischen Kollaboration oder Tod kommen konnte, zeigt der Fall Kovalev: Dieser - ein führendes Mitglied des städtischen kommunistischen Widerstandes - war, vermutlich im Laufe der Verhaftungswelle Ende (S.80)  September/Anfang Oktober 1942, verhaftet worden. Er bekam vom SD das Angebot, am Leben zu bleiben, wenn er mit den Deutschen zusammenarbeite. Kovalev akzeptierte und wurde so Anfang 1943 in einer grossen Propagandakampagne gegen Partisanen und Widerstand eingesetzt.

(61. Meldung Nr. 38, BA R58/223. Vgl. den grossen Artikel in der Minsker Zeitung vom 23.1.43 unter der Überschrift "Ich bin überzeugt, dass Deutschland siegen wird"; Kovalev soll später nach Deutschland gebracht worden sein, Hist. Institut des ZK der KPB und Hist. Institut der Akademie der Wissenschaften der BSSR (Hg.): O partijnom podpol'e v Minske v gody Velikoj Otetschestvennoj vojny, Minsk 1961, 17 (fortan: Podpole).

Die meisten Fälle waren aber weniger extrem gelagert. Sie hingen eng mit dem in Weissrussland praktizierten System der "gemischten Verwaltung" zusammen (62. Vgl. Kapitel 4.2.3): Zeitweise hatten viele Minsker versucht, bei der Stadtverwaltung Arbeit zu bekommen, da hier die Versorgung mit Lebensmitteln besser war (63. Ereignismeldung UdSSR Nr. 92, BA R58/217 246). Allmählich mussten sie aber feststellen, dass viele von ihnen dort zu Beratern der Deutschen (64. Minsker Zeitung vom 3.7.42), Kreis- bzw. Stadtälteste (65. Minsker Zeitung vom 3./4.1.43) oder gar Leitern einer der später von den Deutschen geschaffenen und kontrollierten weissrussischen Organisationen aufrückten.

Dagegen musste denjenigen, die sich in den Dienst der Polizei oder gar des SD begaben, von Anfang an klar sein, dass sie zu Kollaborateuren wurden. Hier sind einmal die "fremdvölkischen" Hilfspolizisten des "Ordnungsdienstes" (66. Vgl. die Kapitel 3.2.1. und 4.1) zum anderen aber auch die vom SD seit Juli (S.81) 1941 (67. Ereignismeldung UdSSR Nr.20, BA R58/215 267) angeworbenen Spitzel und V-Leute zu nennen. Bleibt dieser Personenkreis im  allgemeinen anonym, so wird  die Person des ehemaligen "Schreibers" Boris Rudzjanko von der sowjetischen Historio- graphie besonders betont. Dies hängt in erster Linie mit seiner fatalen Rolle bei der verheerenden Verhaftungswelle vom Frühjahr 1942 zusammen, die den städtischen Untergrund fast völlig vernichtete. Rudzjanko war es gelungen, in deren inneren Kreis vorzudringen (68. Novikov 54, 60/61; Podpole 14).

Was die Herkunft der in deutschen Diensten stehenden einheimischen Polizisten und Spitzel angeht, so spricht zwar einiges für die These, dass es sich hierbei zu einem grossen Teil um Opfer des Stalinismus, zu einem kleineren Teil um Kriminelle handelte. Konkrete Belege für Minsk konnten aber nicht gefunden werden.

(69. Vakar nennt vier Personenkreise, aus denen sich die weissrussische Hilfspolizei rekrutiert habe: Opfer des Stalinismus, Kriminelle und Kriegsgewinnler, sowjetische Agenten und Kriegsgefangene, _Vakar 179. Hans-Heinrich Wilhelm betont vor allem die Rache-"Hysterie" vieler Opfer des Stalinismus, der besonders in den ersten Wochen der Besetzung viele tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten zum Opfer gefallen seien, Krausnick 490).

5.2.2. Die orthodoxe Kirche

Neben den in exponierter Stellung für Deutschland tätigen Kollaborateuren gab es aber auch eine gesellschaftliche Organisation, die in besonderer Weise für eine Zusammenarbeit mit den Besatzern anfällig war: die orthodoxe Kirche. Unter Stalin verfolgt, von der Gottlosen-Bewegung schon seit den 20er Jahren angefeindet, konnte sie ein wichtiger Partner der Deutschen werden. Dies um so mehr, (S.82) als das Bedürfnis nach Religion in der Besatzungszeit deutlich zunahm (70.Ereignismeldungen UdSSR Nr.42 und 122, BA R58/216 288 und R58/218 278).

Die Kirche wurde zu einem der wenigen verlässlichen Orientierungspunkte. In der Besatzungspresse wurde durchweg positiv über die Orthodoxie berichtet (71. Minsker Zeitung vom 24./25.5.42, 10./11.1.43 und 19.8.43). Deren Würdenträger revanchierten sich mit deutsch- freundlichen Grussadressen und Hirtenbriefen gegen das "Bandenunwesen"

(72. In der Minsker Zeitung vom 24./25.5.42 unter der Überschrift "Deutschland hat uns befreit...")
.

Über einen Minsker Geistlichen schrieb der SD, er sei der "beste Propagandist für die deutsche Sache", "seine Gottesdienste sind ausschliesslich Dankgottesdienste an den Führer" und in seinem Zimmer hinge "ein Führerbild, vor dem sich seine zahlreichen Besucher zu bekreuzigen pflegen."

(73. Ereignismeldung UdSSR Nr.91, BA R58/217 226. Vgl. auch Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 471).

Der Wille zur Zusammenarbeit erreichte jedoch seine Grenzen bei dem deutschen Bemühen, in "Weissruthenien" eine autokephale Kirche durchzusetzen und damit die Unabhängigkeit von Moskau zu erreichen. Zwar erfolgte die Deklaration der Autokephalie zusammen mit der Einsetzung des "geschäftsführenden Metropoliten" Philotheos (russ.: Filafej) noch 1941.

(74. Vertraulicher Bericht des wiss. Referenten Dr.H.Weidhaas über seine Erfahrungen und Tätigkeit während der nach Weissruthenien unternommenen Reise im April 1944, BA R90/127 7 (fortan: Weidhaas). Formales Oberhaupt blieb der grossrussisch eingestellte Panelejmon).


Diese fand aber bei der Geistlichkeit keinerlei Gegenliebe. Die lange russisch-patriotische Tradition liess die Deutschen immer wieder über "grossrussische Tendenzen in der autokephalen Kirche"  (S.83)

klagen (75. Mitteilung Nr.2, BA R58/697 576). Die seit 1939 liberalere Kirchenpolitik Stalins zeigte im übrigen auch hier ihre Wirkung (76. Weidhaas 39-43).

Insgesamt blieb die Kirche die einzige nennenswerte gesellschaftliche Organisation, die den Deutschen zumindest wohlwollend gegenüberstand, nicht zuletzt deshalb, weil sie als einzige von der deutschen Besatzung zunächst profitierte. Der Gegensatz zur hauptsächlich von Polen getragenen katholischen Kirche Minsks macht dies deutlich: Von Anfang an behindert und verfolgt arbeitete sie zu keinem Zeitpunkt mit den Deutschen zusammen, sieht man einmal von dubiosen Einzelpersonen wie dem Pfarrer Godlewski ab (77. Vgl. z.B. Justiz XIX 239-341).


5.2.3. Das Experiment mit den Emigranten

Nach dem Sieg der Oktoberrevolution hatte es eine beachtliche Emigration weissrussischer nationalistischer Intellektueller gegeben. Zwar war der grösste Teil in den 20er Jahren zurückgekehrt und dann Opfer der stalinistischen Säuberungen geworden; ein kleiner Teil jedoch hielt sich bei Kriegsbeginn 1939 bzw. 1941 immer noch in Wilna und Prag, Warschau und Berlin auf (78. Zur Geschichte der Emigration zwischen den Weltkriegen vgl. Vakar 96 bis 169).

Diese Menschen sahen nun ihre Chance gekommen und versuchten mit Unterstützung einzelner deutscher Dienststellen in ihre alte Heimat zurückzukommen. Fast alle fanden sich in Minsk wieder. Der Bürgermeister der militärverwalteten Zeit Tumasch aus Lodz gehörte ebenso dazu wie der Leiter des weissrussischen Zentrums in Warschau Schtschors, der Leiter des "Selbsthilfewerks" Dr. Ermatschenko aus Prag oder (S.84)  der Bürgermeister der zivilverwalteten Zeit Iwanowski, ein Katholik aus Wilna.

Ihre Hoffnungen währten aber nicht lange. Nachdem sie im Winter 1941/42 bereits die Unterstützung der Deutschen verloren hatten, kehrten Schtschors und Tumasch in ihre Emigrationsorte zurück (79. Ereignismeldung UdSSR Nr.91, BA R85/217 222). Ebenso wie Iwanowski, der eines unnatürlichen Todes starb

(80. Die Minsker Zeitung vom 10.12.43 spricht von einem bolschewistischen Attentat, in sowjetischen Darstellungen findet sich darauf kein Hinweis. Krausnick 358 lässt die Frage nach dem Attentäter offen).

zog sich Dr. Ermatschenko bald die Feindschaft des SD zu. Sein Protegé Kube konnte ihn zwar bis Anfang 1943 halten, dann jedoch kapitulierte er vor den Terrormethoden der Sicherheitspolizei. Strauch rühmte sich ganz offen, den Mann nach einem Jahr "zur Strecke" gebracht zu haben (81. Heiber 82), obwohl der SD den Foltervorwurf nach aussen dementierte (82. Vgl. die Akte Ermatschenko, BA R6/106).

Wichtiger als die Feindschaft zu einzelnen deutschen Dienststellen war für den Misserfolg der Emigranten aber die Tatsache, dass die deutsche Seite sich auf keinerlei verbindliche Zusagen einlasen wollte. So erkannten sie sehr bald, dass es ihnen unmöglich war, ihre auf Eigenstaatlichkeit abzielenden Ideen zu verwirklichen.

Hinzu kam als zweiter schwerwiegender Punkt die Entdeckung, über keinerlei Basis in der Bevölkerung zu verfügen. Nach den Veränderungen der letzten Jahre waren die Emigranten "Fremdlinge" im eigenen Land geworden (83. Rede Kubes vor Hoheitsträgern im April 1943, BA R93/20 6). Ein für den SD tätiger Emigrant beschreibt die Distanz (S.85) 

wie folgt:

"In jedem besser gekleideten Menschen wittert die Bevölkerung einen 'Ausländer'. Als der V-Mann sich im städtischen Rock unter die Bevölkerung mischte und sie russisch und weissruthenisch ansprach, stiess er auf eisige Ablehnung."

(84. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.1942, BA R90/126 473).

5.2.4. Marionettenorganisationen und die weissrussischen nationalistischen Kreise

Minsk war - besonders in der zweiten Hälfte der Besatzungszeit - der Sitz einer Vielzahl von mit den Deutschen kollaborierenden weissrussischen Organisationen. Ihnen allen gemeinsam war die totale Abhängigkeit von der Besatzungsmacht. Deren Hauptgrund war, dass es ihnen bis auf eine Ausnahme nie gelang, in nennenswerter Zahl Anhänger unter der Bevölkerung und damit eine eigene Machtbasis zu finden. Ihr Mitgliederreservoir blieb fast durchweg auf Leute beschränkt, die sich durch ihre Kollaboration so weit diskreditiert hatten, dass es für sie keine andere Möglichkeit als die weitere Zusammenarbeit mit den Besatzern gab. Dazu kam die deutsche Politik, keine wirklich souveräne Vertretung des weissrussischen Volkes zuzulassen, sich vielmehr der einzelnen Organisationen nach Belieben zu bedienen und se, wenn nötig, gegeneinander auszuspielen. Das Konzept der wenigen weissrussischen Nationalisten, mit Hilfe der Deutschen allmählich eine eigenständige, antibolschewistische Politik betreiben zu können, hatte so zu keinem Zeitpunkt eine reale Chance auf Verwirklichung.

Der erste derartige Versuch war das am 22.Oktober 1941 von Kube unter der Leitung des Emigranten Ermatschenko (S.86) gegründete "Weissruthenische Selbsthilfewerk" (WSW). (85. Minsker Zeitung vom 4.11.42; Handrack 63). Es sollte nach beider Vorstellung zunächst zwei Aufgaben erfüllen:

- Zum einen sollte es sich der sozialen und kulturellen Arbeit unter den Einheimischen widmen. Dazu dienten zum einen die Errichtung sogenannter "Volkshäuser", die die neuen kulturellen Zentren des Landes werden sollten, zum anderen der Aufbau eines sozialen Netzes der Kinder- und Kranken- betreuung sowie der Mütterberatung. Dies sollte in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz geschehen (86. Minsker Zeitung vom 4.11.42). Im Laufe des Jahres 1942 mehrten sich aber die Fälle von Korruption, Vettern- und Misswirtschaft derart, dass die Organisation auf diesem Gebiet kontraproduktiv wurde.

(87. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.42, BA R90/126 470; Handrack 63; Omi an Omi Abt. II/5, BA R6/106 57/58).

Die Mehrheit ihrer Mitglieder hatte offenbar den Glauben an den Sinn ihrer Arbeit verloren. Ange- sichts der extrem harten materiellen Lebensbedingungen war es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Korruption und Unterschlagung der zur Verteilung vorgesehenen Waren.

- Auf der anderen Seite wurde das WSW am 29.Juni 1942 als "einzige organisatorische Vertretung des weissruthenischen Volkes" anerkannt (88. Minsker Zeitung vom 4.11.42) und durch die Ernennung von Referenten für einzelne Fachgebiete aufgewertet. Auch dies ging auf eine Initiative Kubes zurück, die allerdings keinerlei einklagbaren Machtzuwachs beinhaltete.

Interne Streitigkeiten Meldung (89. Nr. 38, BA R58/223) Korruption und die SD-Kampagne gegen Ermatschenko liessen das WSW aber spätestens seit seiner Reorganisation im Juli 1943 in der Bedeutungslosigkeit (S.87)

versinken (90. Handrack 63; Wilenchik 235).

Am 27.Juli 1943 unternahm die Zivilverwaltung mit der Gründung eines aus 16 Personen bestehenden "weissruthenischen Vertrauensausschusses" einen weiteren Versuch, eine allgemeinpolitische einheimische Organisation zu gründen (91. Minsker Zeitung vom 26.6.43; Handrack 64). Das Gremium hatte lediglich beratende Funktion. Es setzte sich aus 11 von den einzelnen Gebietskommissaren ernannten "Kreisältesten" sowie fünf Vertretern anderer Organisationen (92. Kube an Rosenberg vom 28.6.43, BA R6/289 9) darunter des WSW, zusammen. Auch ihm konnte es - schon aufgrund seiner im Grunde rechtlosen Stellung - nicht gelingen, Rückhalt bei der Bevölkerung zu gewinnen.

Auch der auf Initiative von Kubes Nachfolger Gottberg am 21.12.43 gegründete "Weissruthenische Zentralrat" war völlig von der deutschen Verwaltung abhängig. Sein Präsident Ostrowsky wurde ebenso wie die anderen 14 Mitglieder vom Generalkommissar ernannt (93. Handrack 65; Wilenchik 235; Minsker Zeitung vom 23.12.43). Nur bei der kulturellen und sozialen Betreuung der einheimischen Bevölkerung erhielt der Zentralrat gewisse Rechte. Auch dieser Scheinvertretung des weissrussischen Volkes gelang es nicht, Anhänger zu gewinnen. Zu lange hatte man das deutsche Besatzungsregime ertragen, um von ihm etwas Positives zu erwarten, zu halbherzig war aber auch diese aus der extremen Bedrohungssituation geborene Massnahme. (S.88)

(94. Vgl. die Statuten des Zentralrates, BA R6/289 38. Der zwei Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee in Minsk zusam- mengetretene "Zweite Weissruthenische Konvent" war dann nur noch eine Farce. Die Zusammenkunft der ca. 1000 Delegierten sollte an den ersten Konvent von 1918 an knüpfen, blieb aber eine bedeutungslose Episode, Handrack 66).

Daneben gab es eine Reihe von Spezialorganisationen, die sich jeweils bestimmte Aufgabenfelder abgesteckt hatten. Unter ihnen befand sich auch die einzige zumindest ansatzweise erfolgreiche Gründung: das am 22.6.43, dem "Tag der Befreiung", ins Leben gerufene "Weissruthenische Jugendwerk" (WJW) (95. Minsker Zeitung vom 22. und 23.6.43). Vorausgegangen war die eigenmächtige, aber erfolgreiche, Gründung einer ähnlichen Gruppe durch einen Minsker, der daraufhin von Partisanen erschossen worden war (96. Handrack 185). Das WJW war in eine Jungen- und Mädelorganisation mit einheimischen Leitern aufgeteilt, die einem deutschen HJ-Führer unterstanden. Sie erhielten ein eigenes Abzeichen und eine eigene Zeitung (97. Minsker Zeitung vom 23.6.43; Handrack 186). Ende 1943 hatte die vom Generalkommissariat finanzierte Organisation bereits 30-40.000 Mitglieder (98. Handrack 186). Sie veranstaltete Lehrgänge für männliche und weibliche Führungskräfte und "Sportwarte", Deutschlandfahrten und Gedenkfeiern. Wie die HJ war sie nach dem Prinzip der "Selbstführung der Jugend" aufgebaut.

(99. Vgl. Minsker Zeitung vom 20.7., 24.8., 2.9. und 28.3.44; Vortrag Abteilungsleiter Schulz vor Hoheitsträgern in Minsk, BA R93/5 5-10. Die Gründung des WJW kann als Sieg der Befürworter einer konstruktiven Jugendpolitik angesehen werden, noch im Februar 1942 war empfohlen worden, 99 % der 17-bis 22-Jährigen zu ermorden; noch im Dezember 1943 wandte sich Gottberg gegen eine Angleichung des WJW an die HJ, Politischer Lagebericht vom 10.2.43; BA R6/308 2, Denkschrift Gottberg vom 1.12.43, BA R6/281).

Der Erfolg gerade dieser Organisation beruhte zum einen auf der vergleichsweise grosszügigen Förderung durch die (S.89) Zivilverwaltung, zum anderen zeitigte das schon bei der HJ erprobte Organisationsprinzip der Selbstführung auch hier Erfolge. Das wird belegt durch die Tatsache, dass die Minsker Untergrundbewegung, insbesondere die Komsomolzen, sich gezwungen sah, eine grossangelegte Propaganda- und Unterwanderungskampagne gegen das WJW zu führen (100. Borba 2 105). Auf die zentrale Rolle der Jugendlichen im besetzten Minsk wird unten noch näher einzugehen sein; die Gefahr ihrer zumindest teilweisen Vereinnahmung durch die Besatzungsmacht musste sofort Gegenmassnahmen hervorrufen.

Die anderen von den Deutschen gegründeten Spezialorganisationen blieben weitgehend bedeutungslos, ihre Gründung erfolgte zu spät, ihre Rechte waren zu beschränkt. Genannt sei hier die als Sammlung der weissrussischen Intelligenz gedachte "Weissruthenische Kulturgemeinde" unter A. Kolubovitsch (101. Nemecko 62; Minsker Zeitung vom 8.2.44).

Einzelne Kollaborateure versuchten, diese Organisationen als legales Standbein für eigene Zwecke zu benutzen. Diese Vertreter einer antisowjetischen, aber auch bedingt antideutschen , Politik fanden jedoch in Minsk kaum Rückhalt. In der Stadt gerieten sie sehr schnell zwischen die Mühlsteine der gnadenlosen deutschen Besatzungspolitik und der zunehmenden Sowjetisierung des Untergrundes. Ihnen fehlte die eigene Machtbasis.

(102. In einigen anderen Teilen Weissrusslands, vor allem in den Westgebieten, sah dies anders aus, Wilenchik 233-241).


So fielen die Exponenten dieser Linie entweder Attentaten des Widerstandes zum Opfer, wie vermutlich der Führer der kleinen weissrussischen nationalsozialistischen Partei Fabian Akinschtys (103. Goranskij 11; Wilenchik 234) oder sie wurden vom SD ermordet, (S.90) wie der im WSW tätige weissrussisch-katholische Nationalist Godlewski (104. Justiz XIX 239-243).

5.3. Der Widerstand


5.3.1. Die deutsche Besatzungspolitik als Motor der Widerstandsbewegung

Zunächst schienen die Bedingungen für die Entstehung einer breiten Widerstandsbewegung in Minsk denkbar ungünstig. Die Stadt war Zentrum eines Landes, dessen Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg in politischer Unmündigkeit und Unterentwicklung gelebt hatte. Eine Widerstandstradition bestand kaum. Dies hatte sich auch nach der Oktoberrevolution nur wenig geändert. Dem Bürgerkrieg und dem nationalen Erwachen der 20er Jahre folgten die stalinistische Kollektivierung, die das bäuerliche Weissrussland überdurchschnittlich hart traf und seine nationalen Strukturen nachhaltig erschütterte. Ähnliches gilt für die Ermordung weiter Teile der weissrussischen Intelligenz Anfang der 30er Jahre. Minsk selbst war als Folge der forcierten Industrialisierung rasant gewachsen, allein zwischen 1932 und 1941 stieg die Einwohnerzahl von ca. 180.000 auf ca. 250.000 (105. Novikov 12). Viele der Zuwanderer waren aus anderen, z.T. weit entfernten Teilen der Sowjetunion gekommen. Ein verlässliches Sozialgefüge hatte sich unter diesen Bedingungen natürlich nur ansatzweise bilden können. Die Instrumente gesellschaftlicher Willensbildung waren zudem fast gänzlich beseitigt worden. Selbst die nach dem Bürgerkrieg zunächst verfolgte Ausbildung der Bevölkerung in Partisanen- und Guerillatechniken war bald wieder (S.91) aufgegeben worden, sie galt als systemgefährdend (106. Vgl. Wilenchik 150, 220; Vakar 138-152). Zudem erschütterte der rasche deutsche Vorstoss den Glauben der Menschen an die sich allmächtig gebende Sowjetmacht; man war wie betäubt.

Dass sich  trotz dieser äusserst ungünstigen Voraussetzungen ziemlich schnell eine Untergrund- bewegung formierte, ist in erster Linie dem Leidensdruck zuzuschreiben, der schon bald auf der Bevölkerung lastete. Das Besatzungsregime war für sie gekennzeichnet durch Hunger, Not, Krankheit, Terror und Willkür (107. Vgl. dazu Kapitel 5.1. und 8. der vorliegenden Arbeit). Die Deutschen, für die die Weissrussen minderwertige Untermenschen waren, gaben sich in keiner Weise Mühe, das Leben der Bevölkerung zu erleichtern. Im Zentrum des "Generalkommissariats Weissruthenien" kam es ihnen einzig und allein auf ein Höchstmass an Sicherheit für sich selbst an. Da sie aber nicht über die dafür erforderlichen Kräfte verfügten, versuchten sie, ihr Ziel durch selektive Schläge von gnadenloser Brutalität zu erreichen. Dadurch sollte die Bevölkerung von der Möglichkeit, Widerstand zu leisten, abgeschreckt werden. Ein probates, in Minsk des öfteren angewandtes Mittel hierfür waren Geiselerschiessungen

(108. Nach dem Mord an Kube wurden z.B. 100 Minsker Geiseln erschossen, Justiz XIX 228. Nach dem Attentat auf das SD-Kasino im September 1943 mindestens 300, Nemecko 55; Erich Hesse: Der sowjetrussische Partisanenkrieg 1941-1944 im Spiegel deutscher Kampfanweisungen und Befehle, Göttingen 1969, 219/220; Prestuplenija 62).

oder Einweisungen in extra errichtete Arbeitslager (109. Ein solches befand sich in Minsk in der Schirokaja ulica, Nemecko 307/308).

Ebenso lastete die Gefahr der Deportation ins Reich, wo man immer dringender Arbeitskräfte brauchte, auf den (S.92) Minskern.

(110. So wurden vom Dezember 1943 bis März 1944 401 Arbeitskräfte aus der Stadt Minsk ins Reich deportiert, Bericht Dr.Schilling, o.Dat., BA R6/312 29).

Am Ende war es unmöglich geworden, neutral zu bleiben. Selbst ein Berichterstatter es Propagandaministeriums charaktierisierte die Alternativen, die dem Minsker Durchschnittsbürger offenstanden, wie folgt:

"Bleibe ich bei den Deutschen, so werde ich, wenn die Bolschewisten kommen, von diesen erschossen; wenn die Bolschewisten aber nicht kommen, früher oder später von den Deutschen. Bei den Deutschen bleiben bedeutet also den sicheren Tod, zu den Partisanen gehen, höchstwahrscheinlich Rettung." (111. Dallin 231)

Angesichts der brutalen Besatzungswirklichkeit war auch die deutsche Propaganda machtlos.  Dass sie zudem oft recht ungeschickt agierte, stärkte den Untergrund zusätzlich, war aber nicht ausschlaggebend. Besonders in den Meldungen der Einsatzgruppen reissen die Klagen über Ungeschicklichkeiten indes nicht ab (112. Vgl. Ereignismeldung Nr.91, BA R58/217 219; Meldung Nr. 50, BA R58/224 113-117). Das plastischste Bild von der Unfähigkeit der deutschen Verantwortlichen, sich auf die örtliche Situation einzustellen, vermittelte aber ein weissrussischer Beobachter im August 1941:

"Die übliche Propaganda in Minsk spielt sich folgendermassen ab: Die Lautsprecherwagen fahren auf dem Marktplatze auf und beginnen mit musikalischen Darbietungen, für die die Bevölkerung Interesse zeigt. Besonderen Beifall findet die Wiedergabe sowjetischer Schallplatten mit Aufnahmen russischer Volkslieder und anderen unpolitischen Inhalts. Die Menge verhält sich zur Propaganda äusserst gleichgültig. Regelmässig wird nach Papirossi gefragt. Werden keine Rauchwaren verteilt, zieht sich die Menge unzufrieden zurück... Im allgemeinen geht der Marktbetrieb (S.93) trotz der Propaganda weiter. Um die Lautsprecherwagen stehen nicht sehr viele Menschen." (113. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.42, BA R90/126 467).


5.3.2. Die Phasen des Widerstandes

Die Geschichte der Minsker Untergrundbewegung im Zweiten Weltkrieg lässt sich in vier Phasen einteilen. Während die ersten drei durch zwei verheerende Verhaftungs- und Hinrichtungswellen voneinander getrennt sind, beginnt die vierte Phase mit einer einschneidenden Neuorganisation der städtischen Widerstandsbewegung.

(114. Zu dieser Einteilung in vier Phasen vgl. Novikov, der es allerdings versäumt, die Spezifika der einzelnen Phasen deutlich genug herauszuarbeiten und oft im Anekdotischen hängenbleibt).

Die Rolle der Juden wird hier ausgespart, sie wird an einer anderen Stelle Gegenstand der Betrachtung sein.


5.3.2.1. Die erste Phase: Der spontane Widerstand

Die Direktiven der ZKs der KPdSU und der Weissrussischen KP zur Organisation des Kampfes im von den Deutschen besetzten Gebiet (115. Vgl. Wilenchik 151) kamen für Minsk zu spät. Wie in den meisten anderen Städten West- und Mittelweissrusslands war es auch hier nicht mehr gelungen, Untergrundparteikomitees und -zellen zu gründen, die als Organisatoren des Widerstandes im Untergrund wirken sollten. Der Widerstand musste sich so aus in der Stadt verbliebenen Menschen spontan bilden, ohne dass diese einschlägige Vorkenntnisse im konspirativen Arbeiten gehabt hätten.

Die Aktiven dieser Anfangszeit waren einfache Partei- (S.94) mitglieder, die in ihrem Bekanntenkreis Mitkämpfer anwarben. Derartige Gruppen entstanden beispielsweise unter den traditionell bolschewistisch orientierten Eisenbahnern (116. Goranskij 4; Novikov 28) - Minsk war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt -, unter den Studenten der Minsker Universität  (117. ebenda), in verschiedenen Stadtteilen (118. Vgl. das Beispiel der Gruppe im Bezirk Komarovka, Goranskij 4) und einzelnen Betrieben (119. Z.B. in einer städtischen Schneiderei, Borba 1 235). Einige setzten sich aber auch schlicht aus der Bekanntschaft ihres Gründers zusammen (120. So etwa die Gruppen um Markov oder Kedischko, Borba 1 235). Die Gruppen arbeiteten meist isoliert nebeneinander, Ansätze zu einer gemeinsamen Organisation entstanden erst Ende 1941.

Neben den einfachen  Parteimitgliedern gehörten entflohene oder versprengte Rotarmisten zu den Untergrundkämpfern der Anfangsphase. Ihr Widerstand ergab sich zwangsläufig aus ihrer Situation: Wenn sie sich den Deutschen stellten, stand ihnen bestenfalls die Einweisung in das grosse Minsker Kriegsgefangenenlager bevor, dessen katastrophale Lebensbedingungen bereits geschildert wurden (121. Vgl. Kapitel 3.2). So blieb für sie nur eine Existenz in der Illegalität.  Ein Teil bildete in Minsk eine Organisation mit dem Namen "Kriegsrat der Partisanenbewegungen" (VSPD) (122. Wilenchik 167; Ereignismeldung UdSSR Nr.187, BA R58/221 177; Meldung Nr. 2, BA R58/697 18). Trotz ihres Namens besass die Gruppe keine nennenswerten Kontakte zu Partisanen ausserhalb der Stadt. (S.95)

Schon der Untergrund der ersten Phase ist insgesamt klar kommunistisch geprägt. Seine Mitglieder orientierten sich an den Moskauer Direktiven, auch wenn sie über keinerlei direkte Kontakte ins unbesetzte Gebiet verfügten. Wie weit ihr Glaube an die Allmacht der sowjetischen Planung ging, zeigte sich in der Namengebung für die erste gemeinsame Dachorganisation, zu der sich Ende 1941 einige Gruppen zusammenfanden: Im Glauben an die Existenz eines von Moskau gesteuerten Stadtparteikomitees nannten sie ihre eigene Gruppe "Ergänzendes Parteikomitee" (123. Wilenchik 167), ohne zu ahnen, dass sie die einzige derartige Organisation darstellten.

Die Aktionen der ersten Phase blieben bescheiden. Sie konnten dem Besatzungsregime kaum Nadelstiche versetzen. Im Mittelpunkt standen die Befreiung von Kriegsgefangenen und ihre weitere Betreuung in der Illegalität, die Herstellung und Verteilung von handgeschriebenen Flugblättern sowie kleinere Sabotageakte mit dem Schwerpunkt beim Eisenbahndepot (124. Novikov 25, 28 und 32).

Für das Ende der ersten Phase war der Mangel an Erfahrungen in der Untergrundarbeit verantwortlich: Der SD war im März 1942 auf die Spur des VSPD gestossen und hatte deren Mitglieder verhaftet. Einige davon verrieten unter der Folter weitere Namen (125. Podpole 15), u.a. die der Führung des Parteikomitees, da sie mit diesem locker zusammengearbeitet hatten. Unterstützt durch die Auswertung der gefundenen Aufzeichnungen - darunter Namenlisten der Mitglieder - gelang es dem SD, über 400 Personen festzunehmen (126. Borba 1 239. Vgl. den Abschlussbericht in Meldung Nr.2, BA R58/697 18-24),  darunter die gesamte im Aufbau befindliche (S.96) Führung. 28 von ihnen wurden öffentlich gehängt, die meisten anderen nichtöffentlich.

(127. Novikov 56. Die Minsker Zeitung vom 8.5.42 spricht von 30 öffentlichen Gehängten und 120 standrechtlich Erschossenen).


Die fehlende Konspiration, der offene Umgang mit Namen und Informationen hatten so von der Untergrundbewegung einen hohen Tribut gefordert.


5.3.2.2. Die zweite Phase: der organisierte Wiederaufbau

Dieser erste Rückschlag hatte den Widerstand jedoch entgegen den Hoffnungen der Deutschen nicht nachhaltig brechen können. Vielmehr gingen die Überlebenden daran, eine neue Organisation aufzubauen, die die Fehler der ersten Versuche vermeiden sollte, die aber auch unter weit besseren Rahmenbedingungen agieren konnte.

So waren seit dem Frühjahr 1942 erste Diversanten aus dem sowjetischen Hinterland in Minsk eingetroffen.  Ihre Hauptaufgaben waren der Aufbau von Kontakten zu den Partisanen, die Sicher- stellung eines regelmässigen Funkverkehrs mit der Moskauer Zentrale und einzelne Spionageaufträge (128. Ljachovskij 10,27,32). Besonders die ersten beiden Arbeiten kamen der gesamten Untergrundbewegung zustatten, auch wenn die Abgesandten keine herausragende Stellung in ihr einnahmen.

Noch wichtiger war für die Untergrundkämpfer der feste Kontakt zu den Partisanen, wie er in dieser Phase hergestellt wurde (129. Wilenchik 169).

Zudem meinte man, ausreichend Lehren aus den Fehlern der Anfangsphase gezogen zu haben. Vor allem wurde mehr Wert auf Konspiration gelegt: Decknamen wurden eingeführt, die (S.97) Basisgruppengrösse wurde auf 5 bis 7 Personen (130. Wilenchik 169) beschränkt und die Zahl der persönlich miteinander bekannten Personen erheblich gesenkt.

Erstmals  versuchte man ausserdem, dem gesamten Untergrund eine einheitliche Struktur zu geben: Ihre unterste Einheit sollten die sogenannten Zellen sein. Da die Hauptarbeit in den Betrieben zu leisten war, hielt man es für effizienter, sie einheitlich aus den Mitgliedern einer Produktionsstätte zusammenzusetzen. Sogenannte "Kustovye Komitety"

(131. Wörtl.: Strauchkomitees, gemeint ist wohl ihre Bündelungsfunktion)

bildeten das vertikale Zwischenglied zu den fünf Stadtteilkomitees.

(132. Nur drei dieser fünf leiteten Stadtteile im engeren Sinne, die übrigen zwei waren für den Eisenbahnbetrieb und das Ghetto zuständig, Podpole 18; Goranskij 5).

Die Gesamtleitung aller hatte wiederum das "Gesamtstädtische Untergrund-Parteizentrum".

(133. Podpole 17/18. In diesem Zentrum sass auch der nach seiner Verhaftung übergelaufene I.K. Kovalev, ebenda).

Eben diese vertikale Struktur war es aber, die die Untergrundorganisation anfällig machte. Zwar waren die Zellen strikt voneinander getrennt, die oberen Ebenen verfügten aber über ein breites Wissen und kannten die meisten Zellenmitglieder. Durch den überstürzten Neuaufbau mit ungenügenden Kontrollen der Führungskader auf Zuverlässigkeit und Fähigkeiten konnte es dem SD abermals gelingen, den Untergrund fast völlig zu vernichten: Einem im Herbst 1941 eingeschleusten Spitzel war es gelungen, Mitglied eines der Stadtteilkomitees zu werden.  Hier sammelte er so viel Material, dass den Ende September einsetzenden Massenverhaftungen u.a. alle Mitglieder des "Gesamtstädtischen Parteizentrums" sowie (S.98) viele führende Persönlichkeiten der Stadtteilkomitees zum Opfer fielen.

(134. Novikov 88; Podpole 22. Der Spitzel, der bereits oben kurz erwähnte Boris Rudzjanko, blieb bis Kriegsende unentdeckt).

Erneut hatte die Unerfahrenheit ihren Preis gefordert. Unübersehbar war aber auch die Mitschuld, die das starre Festhalten an hierarchischen Organisationsprinzipien an dem Fiasko trug. In einer Stadt, die wie keine andere im besetzten Weissrussland unter deutscher Kontrolle stand, war dies verhängnisvoll gewesen.


5.3.2.3. Die dritte Phase: der mühsame Neubeginn

Die zweite Verhaftungswelle traf die Untergrundbewegung viel härter und nachhaltiger als die vom März 1942. Es sollte über ein Jahr dauern, bis wieder ein Minsker Untergrund-Parteikomitee gegründet wurde. Der Widerstand war seiner führenden Köpfe beraubt. Erneut rückten die Aktivitäten isolierter Gruppen in den Mittelpunkt - wie etwa die Plakataktion der Gruppe Kazatschenok vom Oktober 1942, die signalisieren sollte, dass der Widerstand noch lebte (135. Novikov 88, Ljachovskij 87/88). Die einzelnen Gruppen hatten dabei oft keinerlei Bindungen zur Partei, was parteinahe Gruppen nicht hinderte, mit ihnen zusammenzuarbeiten (136. Novikov 109).

Zwei Merkmale prägten das Gesicht der dritten Phase. Da war zum einen die zentrale Rolle, die Jugendliche in dieser schwierigen Situation spielten. Sie wurden zum Träger der wichtigsten und effektivsten Gruppen (137. Novikov 98-100); in einem Moment, wo die Parteiorganisation am Boden lag, gründeten sie im Dezember 1943 ein stadtweites Komsomolkomitee (S.99).

(138. N.Ja. Nikolaev: Dejatel' nost' minskoj oblastnoj komsomolskoj organizacii v tylu vraga v gody Velikoj Otetschestvennoj vojny, Minsk 1971, 16/17. Zur Rolle der Jugend vgl. Kapitel 5.4).

Zum anderen gewann die Zusammenarbeit mit den Partisanen immer mehr an Bedeutung und Intensität (139. Borba 2  331). Die wichtigsten Gruppen verfügten über eine Vielzahl von Verbindungen in die Partisanengebiete, es fand ein reger Austausch von Menschen und Material statt. Immer deutlicher wurde die Verlagerung der eigentlichen Kommandozentren ins Umland, der städtische Untergrund erfüllte mehr und mehr die Aufträge der Partisanen. Da der Aufbau vernetzter Strukturen in der Stadt zu gefährlich war, liefen die Fäden ausschliesslich im Umland zusammen.


5.3.2.4. Die vierte Phase: Volkswiderstand und Partisanenmacht

Inzwischen hatte sich der Untergrund erheblich verbreitert. Angesichts der immer brutaler und unberechenbarer werdenden deutschen Besatzungspolitik hatten sich in breiteste Kreise der Minsker zumindest unterstützend angeschlossen. Die Siege der Roten Armee wirkten zudem ermutigend (140. Borba 3 152/153), zumal es den Kommunisten inzwischen gelungen war, fast alle Gruppen  fest in ihre Reihen zu integrieren.

Andererseits war die Partisanenbewegung - sie kontrollierte inzwischen weitgehend das Minsker Umland (141. Vgl. die Karte in Wilenchik 222) - immer deutlicher zur Operationsbasis und zum Kommandozentrum des städtischen Untergrundes geworden. Bedeutende Operationen wie das Attentat auf Generalkommissar Kube in (S.100) der Nacht zum 22. September 1943 waren auf ihre Initiative hin ausgeführt worden

(142. Podpole 712/72. Vgl. Schlussbericht der grossen Sonderkommission, BA R90/3. Ein anderes Beispiel findet sich in Vsenarodnoe partizanskoe dvizenie v Belorussii v gody Velikoj Otecestvennoj vojny, Minsk 1967-82, Band 2 261).

So gelangen der deutschen Abwehr keine bedeutenden Erfolge mehr, zu gut waren die Rückzugsmöglichkeiten der  Widerstandskämpfer, zu dicht war ihr Informationsnetz. Zudem hatten sie aus den bitteren Erfahrungen der ersten Jahre ihre Erfahrungen gezogen und operierten jetzt in der Stadt nur noch mit unabhängigen Kleingruppen.

Den Beginn der vierten Phase stellte die diesmal dauerhaft Gründung eines städtischen Parteikomitees im September 1943 dar (143. Podpol' nie partinye organy Belorussii v gody Velikoj Otecestvennoj vojny, Minsk 1975, 157). Es war bei verschiedenen Partisaneneinheiten stationiert, zwischen denen es aus Sicherheitsgründen öfter wechselte und so auch bis Kriegsende unentdeckt blieb (144. ebenda; Borba 3 153).

5.3.2.5. Entwicklungstendenzen in der Organisationsstruktur des Minsker Untergrundes

Betrachtet man die vier Phasen als Ganzes, so lassen sich drei Entwicklungslinien erkennen:

- Zum einen nimmt die Abhängigkeit von den deutschen Bekämpfungserfolgen ab. Diese Tendenz ist relativ schwach und kommt erst in der dritten und vierten Phase voll zum Tragen. Dies liegt sicherlich an einem Spezifikum des städtischen Untergrundes in der ländlichen Partisanenhochburg Weissrussland: Die Städte und allen voran Minsk waren die einzigen Gebiete, in denen es den Deutschen gelang, effektiv die Kontrolle auszuüben. Gerade in der Hauptstadt musste ihnen zudem (S.101)  alles daran gelegen sein, das Aufkommen einer bedrohlichen Untergrundbewegung so lange wie möglich zu verhindern.

- Immer deutlicher gelang es den Kommunisten, den Widerstand zu organisieren und zu sowjetisieren, d.h. auch ideologisch zu kontrollieren. Zwar wurde er von Anfang an zum grossen Teil von Partei- mitgliedern getragen, jedoch gelang es diesen erst allmählich und mit vielen Rückschlägen, aus ihrer organisatorischen Isolation auszubrechen und eine durchgängige Kommandostruktur aufzubauen. Hierbei und noch mehr bei der sich parallel vollziehenden Ausrichtung auf die Moskauer Befehlszentrale spielten die Partisanen eine Schlüsselrolle (145. Vgl. dazu, besonders zur Rolle des "Zentralstabs der Partisanenbewegung" (CSPD), Wilenchik 223-267).

Hinzu kamen die seit der Schlacht vor Moskau zunehmenden Erfolge der Roten Armee an den Fronten, die einerseits motivierend wirkten, es andererseits ratsam erscheinen liessen, sich auf die Seite des mutmasslichen Siegers zu schlagen.

- Die stetig wachsende Partisanenbewegung ermöglichte es schliesslich auch, die Zentren und Rückzugsbasen immer mehr in das von ihr kontrollierte Umland zu verlagern. Gerade diese Entwicklung lässt sich über die vier Phasen sehr gut verfolgen: Bestanden in der ersten Phase keine Kontakte ins Umland, so existierten in der zweiten sporadische Verbindungen, die in der dritten zum entscheidenden Rückhalt wurden und in der Gründung des Parteikomitees bei den Partisanen in der vierten Phase gipfelten. (S.102)


5.4. Die Rolle der Jugend

Wenn das Leben der Jugendlichen im besetzten Minsk hier Gegenstand gesonderter Betrachtung ist, so liegt dies in einer Tatsache begründet, die der polnische Historiker Tomasz Szarota schon für das besetzte Warschau festhielt: ihre Position in der Gesellschaft änderte sich grundsätzlich, es kam zu einer "Integration der Welt der Kinder in die der Erwachsenen" (146. Szarota 100).

Entstehen konnte eine derartige Lage aus der Unfähigkeit der Erwachsenen, sich neben dem alle Kräfte fordernden täglichen Überlebenskampf wie bisher um ihre Kinder zu kümmern. Diese mussten im Gegenteil ihrerseits einen Beitrag zur Existenzsicherung beitragen. Das Spektrum ihrer Aktivitäten reichte dabei von legalen Verdienstmöglichkeiten wie Stiefelputzen

147. Die Minsker Zeitung vom 25.11.42 reimte:
"Kleine Burschen, grosse Klappen:
Stiefelputzen, Hochglanz bitte!"
Und schon fegen Bürst' und Lappen
als ob sie der Teufel ritte.
Knobelbecher glanzumflossen!
"Na, was kriegst du?" "O. Pan gäb,
was du wollen: Papirossen
ili toschä ein Stück Chliäp."


oder Betteln (148. Minsker Zeitung vom 13.7.43) über aktive Teilnahme am Schwarzmarkt bis zum Einsatz in regelrechten Schmuggel-Unternehmungen.

(149. Borba 3 179. Als zweite Gruppe, die bevorzugt für derartige Unternehmungen eingesetzt wurden, werden hier Frauen genannt).

Unter diesen Bedingungen konnte eine gewisse Verwahrlosung der Jugendlichen nicht ausbleiben, viele erschienen "antriebslos" (150. Minsker Zeitung vom 10.7.43) (S.103)

und desillusioniert. Sie schmückten sich mit Attributen des Erwachsenseins: "In den Strassen wimmelt es von verkommenen Kindern im Alter von 9-14 Jahren, die trotz der Papirossiknappheit rauchen, Fusel trinken und schwunghaften Tauschhandel treiben", fasste ein Spitzel die Lage zusammen.

(151. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.42, BA R90/126 473).

Auf der anderen Seite spielten die Jugendlichen eine wichtige Rolle in der Widerstandsbewegung, zeitweise wurden sie ihre wichtigsten Träger (vgl. Kapitel 5.3.). Dies lag in den Vorteilen eines Einsatzes der als unverdächtig geltenden Kinder bei Botengängen u.ä. begründet (152. Ljachovskij 52). Ob daneben auch der Einfluss der sowjetischen Erziehung auf die junge Generation sichtbar wurde, kann nur vermutet werden; einige deutsche Beobachter  vertraten diese Auffassung.

(153. Politischer Lagebericht vom 10.2.42, BA R6/308 2. Hier wurde die Meinung vertreten, dass die junge Generation eher als die ältere bereit sei, sich für den Sowjetstaat einzusetzen).

Ebenfalls zweifelhaft bleibt, ob der Jugendwiderstand als Damm gegen die Demoralisierung gewirkt hat (154. Dies nimmt Szarota für Warschau an, 108),

da unter den noch härteren Minsker Lebensbedingungen die Jugendlichen zu Taten wie der Aburteilung von Verrätern (155. Novikov 98) gezwungen waren. Diese waren wohl kaum geeignet, die Jugendlichen vor einer moralischen Desillusionierung zu bewahren. Allerdings mag der Kampf gegen die Besetzer sehr wohl gegen die Hoffnungslosigkeit geholfen haben, gab er den Betroffenen doch eine neue Lebensperspektive. (S.104)

Ebenso ist es kein Zufall, dass von allen Bemühungen der Deutschen, Resonanz zu finden, der Aufbau einer Jugendorganisation den grössten Erfolg zeitigte (vgl. Kapitel 5.2.). Neben dem Engagement einiger führender Nationalsozialisten und der relativ grosszügigen finanziellen Unterstützung war es die Suche der Jugend nach Orientierung und Bezugsgruppen, die einen Teil zu einem Zeitpunkt der pro-deutschen Jugendorganisation beitreten liess, als  sich das Besatzungs- regime eigentlich schon völlig diskreditiert hatte.

(156. Das Schulwesen fristete demgegenüber stets nur eine Randexistenz, Wilenchik 217; Handrack 183).


Die Widerstandsbewegung hatte allerdings zu diesem Zeitpunkt im Kampf um die Gunst er Jugend bereits einen uneinholbaren Vorsprung.

Das Schicksal der durch die Besatzungszeit geprägten Jugendlichen dürfte eine schwere Hypothek für die weissrussische Nachkriegsgesellschaft gewesen sein. Die daraus resultierenden Probleme sind bisher noch kaum untersucht worden.


5.5. Die Einstellung zu den Juden

Die Juden bildeten in Weissrussland eine beachtliche Minderheit. In den Städten stellten sie bis zu 40 % der Bevölkerung (157. Krausnick 320. Insgesamt betrug ihr Bevölkerungsanteil 8-10 %).

Antijüdische Ausschreitungen und Pogrome hatten im Land und auch in Minsk einige Tradition, wenn sie auch nie das Ausmass Litauens oder er Ukraine erreichten. (S.105)

(158. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Band VIII, Frankfurt 1988, 47. In der sehr detailgenauen Arbeit A.Lindens über die Pogrome von 1905 wird Minsk samt dem gesamten Gouvernement unter die weniger schwer betroffenen Gebiete eingeordnet. 1905 fand in Minsk nur ein Pogrom statt, das sich allerdings gegen demokratisch gesinnte Bürger insgesamt richtete. Ein sehr hoher Prozentsatz davon - Linden spricht von 75 % - waren Juden, A.Linden (Hg.): Die Judenpogrome in Russland, Köln 1909 187-191, 211/212).


So war es für die einrückenden Deutschen zunächst erstaunlich, dass in der Bevölkerung keinerlei Neigung zu "spontanen" Pogromen bestand, wie sie die Einsatzgruppen in Litauen organisiert hatten.

(159. Erste Berichte von einer "Pogromstimmung" unter der Bevölkerung scheinen sich bald als Fehleinschätzung herausgestellt zu haben, Ereignismeldung UdSSR Nr.20, BA R58/214 133).

In den Einsatzberichten wird mehrfach Klage über das Fehlen von Antisemitismus in Weissrussland - auch in Minsk - geführt.  Am 5.Juli 1941 heisst es beispielsweise: "Pogrome gegen die Juden zu inszenieren, ist jedoch bisher wegen er Passivität und politischen Stumpfheit der Weissrussen nahezu unmöglich gewesen."

(160. Ereignismeldung Nr. 43, BA R58/215 170. Vgl. auch ebenda 163 und Ereignismeldung UdSSR Nr.105, BA R58/218 58. Bemerkenswert, dass in dem oben zitierten Text anstelle der offiziellen Bezeichnung "Weissruthenen" "Weissrussen" verwendet wird).

Zwar beteiligten sich die von den Deutschen rekrutierten Hilfskräfte massgeblich an den Vernichtungsaktionen, doch bildeten andere Nationalitäten - besonders Ukrainer und Balten - einen massgeblichen Anteil dieser Einheiten (161. Krausnick 597).

Die Juden bildeten - wie untern zu zeigen sein wird - einen wichtigen Bestandteil des Minsker Untergrundes. Sie standen die meiste Zeit in Kontakt mit ihren nicht-jüdischen  Kampfgefährten, bildeten zweitweise sogar eigene Untergruppen.  (162. The Black Book, New York 1946, 455-457, 462; Goranskij 4; Podpolje 11). Partisanen und städtischer (S.106) 

Untergrund ermöglichten einigen Juden die Flucht aus dem Ghetto (163. The Black Book, New York 1946, 455). Die Untergrundparteiführung war allerdings nicht an einer Massenflucht der Juden zu den Partisanen interessiert, da diese einen wichtigen Bestandteil des städtischen Widerstandes bildeten. Besonders die jüdischen Facharbeiter mit ihrem Zugang zu wichtigen Produktionsstätten und ihrer relativen Bewegungsfreiheit nahmen eine Schlüsselposition ein. So  wurde nur einer geringen Zahl gut bewaffneter junger Juden die Flucht ermöglicht.

(164. Wiolenchik 249 spricht beispielsweise von ca. 1050 Minsker Juden zwischen November 1943 und Januar 1944).

Auf Seiten des Parteiwiderstandes motivierten also pragmatische Gründe die Einstellung zur jüdischen Minderheit.

Etwas unklarer bleibt das Bild für die übrige Minsker Bevölkerung. Hier fällt zunächst auf, in welch hohem Masse die Juden trotz ihrer Ghettoisierung in das alltägliche Leben integriert waren. Dies trifft in besonderem Masse auf den Schwarzmarkt zu, der im öffentlichen Leben dieser Jahre eine Schlüsselposition einnahm. Es fand ein lebhafter, von den Deutschen kaum zu unterbrechender Handel mit dem Ghetto statt; und ein weissrussischer Spitzel musste feststellen, dass die Juden auch an en Geschäften ausserhalb des Ghettos aktiv teilnahmen. Weiter schrieb er:

"Für die Weissruthenen gibt es kein Judenproblem... die Juden (sind) Menschen wie alle anderen auch... Die Deutschen werden als 'Judenhenker' verachtet,... (man) hat Mitleid mit den Juden."

(165. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom 22.8.42, BA R90/126, 471; vgl. Loewenstein 712).


So wurde den Juden vielfach mit Nahrung und Kleidung geholfen, besonders in den strengen Wintern. Die Übergabe fand meist an den Arbeitsstellen statt, wo sich Weissrussen und (S.107)

Juden begegneten (166. The Black Book, New York 1946, 457). Vereinzelt wurden auch jüdische Kinder im russischen Sektor versteckt (167. ebenda 234).

Fragt man nach den Gründen dieser im Vergleich mit anderen Gebieten recht wohlwollenden Haltung der weissrussischen Minsker den Juden gegenüber, so ist zunächst auf die existentielle Bedrohung durch die Deutschen zu verweisen. Diese wurde offenbar von beiden Bevölkerungsgruppen beinahe gleichstark empfunden: "Weiterhin durchgeführte grössere Judenaktionen versetzen die Bevölkerung in Unsicherheit, ja eine gewisse Angst",

(168. Ereignismeldung UdSSR Nr. 186, BA R58/221 151. Vgl. die Klage des SD darüber, dass die sowjetische Propaganda die Ghettoisierung der Juden erfolgreich ausnutze, um bei den Weissrussen entsprechende Ängste zu schüren, ebenda 150).

heisst es in einer Ereignismeldung. Im Gegensatz zu den baltischen Ländern oder selbst zur Ukraine sahen die Weissrussen keine Ansatzpunkte, um mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Sie fühlten sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit den Juden verbunden. Die deutsche Politik scheint so der ausschlaggebende Faktor für das Fehlen eines gewalttätigen Antisemitismus in Minsk und Weissrussland gewesen zu sein.

Andere Faktoren könnten unterstützend dazugetreten sein. So entsprach die soziale Zusam- mensetzung der Juden keineswegs antisemitischen Klischees. Besonders in den Städten gab es einen hohen Prozentsatz an jüdischen Arbeitern, Angestellten und Handwerkern (169. Krausnick 320). Zumindest berufsmässig hatte also eine gewisse Integration stattgefunden. Möglich ist zudem, dass die forcierte Industrialisierung zum Abbau alteingesessener antisemitischer Milieus geführt hatte. Sie hatte besonders Minsk (S.108) erschüttert und aus einer rückständigen Provinzstadt einen für sowjetische Verhältnisse modernen Industriestandort gemacht. Wie sich die damit erfolgte Erschütterung der Sozialstruktur in diesem Zusammenhang auswirkte, ist bisher unerforscht.

(170. Als Gegenargument könnten die schlechten Erfahrungen angeführt werden, die besonders die Bauern während des Bürgerkriegs und der Kollektivierung mit oft jüdischen Tschekisten und NKWDlern machten, Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Band VIII, 45. Zudem ist auf den latenten Antisemitismus der Stalinzeit zu verweisen).

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Quellen
Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 69
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                            1941-1944, Seite 70
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 71
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                            1941-1944, Seite 72
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 73
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 74
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 76
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 77
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
                            1941-1944, Seite 80
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
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Gartenschläger: Die Stadt Minsk
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