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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 2. Agro-Joint [die Russland-Arbeit 1919-1938]

[2.7. Das Birobidschan-Projekt für Juden aus Russland und Polen 1926-1935]

[Ab 1926: Birobidschan ist von den jüdischen Zentren in Russland weit entfernt]

Mitte der 1930er Jahre kam ein neuer Faktor ins Spiel, der wie eine Verheissung schien und dem Trend der Arbeit des Agro-Joint im sowjetischen Russland eine Wendung geben konnte. Es ging dabei um die Frage von Birobidschan und die Aussichten auf eine Einwanderung nach Russland.

Im Jahr 1926 hatte die sowjetische Regierung einen Vorschlag durchgebracht, ein Gebiet in Birobidschan am Fluss Amur im Fernen Osten für die Ansiedlung von Juden zu reservieren. Wenn dort genug Juden siedeln würden, so könnte auch eine jüdische Republik eingerichtet werden; die jüdische Nation würde eine territoriale Basis erhalten, wie alle anderen Nationen der Sowjetunion.

Kalinin, der Präsident der Sowjetunion, war ein speziell starker Vorkämpfer dieses Plans und drückte seine Ansichten in einer (S.90)

Anzahl Reden aus. Aber die Akzeptanz des Plans durch die jüdisch-kommunistischen Kreise in Russland war eher zweifelhaft. Einige jüdische Kommunisten dachten, dass dies eine Hinwendung zu einem jüdischen Nationalismus oder Zionismus sei. In der Tat war der Plan auch in einer Art, wie sich die Zionisten die Zukunft vorstellten: als eine verzögerte Anerkennung der Tatsache, dass die Juden eine Nation ohne Boden seien, deren nationale Revolution nur dann zum Ziel führen könne, wenn auf eigenem Land gesiedelt würde. Natürlich akzeptierten sie Birobidschan nicht als Endziel, aber sie hofften, dass ein früher Fehlschlag des Experiments den Weg zu einer sowjetischen Anerkennung eines Palästina-zentrierten Zionismus ebnen könnte.

Das JDC neigte dazu - wurde in der Tat sogar dazu gezwungen - das Birobidschan-Projekt zu akzeptieren und dort zu arbeiten. Rosen aber blieb wachsam. Das Unternehmen auf der Krim war noch im Aufbau. Die dortigen Bedingungen waren relativ gut, und er war nicht geneigt, in ein wildes Projekt mitten im Niemandsland einzusteigen, 1000e von Meilen weg vom Zentrum des jüdisch-russischen Lebens. Birobidschan brauchte offensichtlich Investitionen, und die Tatsache, dass die Regierung Gebiete an ihren Grenzen zur von Japan kontrollierten Mandschurei bevölkern wollte, und dort die natürlichen Ressourcen nutzen wollte, war für den Agro-Joint kein Argument für eine Beteiligung.

[Ab den späten 1920er Jahren: Birobidschan wird wegen der Diskriminierung in Polen und durch die NS-Regierungen attraktiv]

Diese Situation änderte sich mit dem Aufstieg von Hitler aber dramatisch, und dazu kam noch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des polnischen Judentums. Das sowjetische Russland spielte nun mit der Idee, den Opfern der Nazi-Verfolgung Asyl zu gewähren; Birobidschan konnte sich in eine nationale Heimstätte verwandeln, die nicht nur den russischen Juden vorbehalten bleiben sollte.

Im Jahre 1931 berichtete Rosen, dass er offiziell vom COMZET angefragt worden sei, eine Auswanderung von 10.000 jüdischen Familien zu begleiten, von denen die Hälfte in der Landwirtschaft arbeiten sollten, die Hälfte würde auf Polen kommen, und viele würden nach Birobidschan ziehen.

(Endnote 42: AJ 66, 10/8/31 [8. Oktober 1931])

Rosens Reaktion war zurückhaltend. Mit dem wachsenden Druck legte Kahn im Jahre 1932 seine Haltung zu dieser Frage in einem Brief an Max M. Warburg in Hamburg fest.

(Endnote 43: AJ 173, 2/14/32 [14 Februar 1932])

Er stellte fest, dass  Birobidschan eines der so genannten Territorialprojekte war (hinsichtlich der Konzentration von Juden in einem Gebiet ausserhalb von Palästina). Er sagte dass (S.91)

diese so genannten Territorialisten jetzt überall in der Welt stärker werden, und speziell diese Bewegung gewinnt unter den Jugendlichen an Anhängerschaft, seit man selbst sehen könne, dass Palästina nicht in der Lage sei, die Bedürfnisse unter den Juden zu lindern, weil die Massenauswanderung nach Palästina nicht möglich sei. Wenn man diese psychologische Situation in Betracht zieht, so habe nun die höchste russische Bürokratie in ihren Sitzungen vor einiger Zeit entschieden, ein Gebiet in Birobidschan auszuscheiden, in dem das jüdische nationale Dasein sich entwickeln könne.

Aber dann fügte Kahn hinzu,

dass in der gegenwärtigen Zeit für die russischen Juden eine bessere Möglichkeit der Unterstützung darin bestehe, sich in der Industrie und in den Fabriken zu integrieren, so dass die Russen dann ausländische Juden sich für Birobidschan einschreiben lassen könnten. Eine Anzahl Juden von Argentinien sind dort bereits eingewandert, wie auch 20 junge Leute aus Deutschland und 200 aus Litauen und Lettland diesen Schritt bereits gemacht haben. Hinsichtlich einer wachsenden Arbeitslosigkeit kann man daran denken, dass vielleicht sogar Arbeitslose aus Amerika und aus Palästina in Birobidschan siedeln werden. Im Moment sind es ungefähr 5500 jüdische Personen, das ist das Doppelte der Personen von vor einem Jahr. Dieses Jahr sollen 12.000 neue Einwanderer dorthin geschickt werden, und im Jahr 1933 ist geplant 20.000 weitere dort anzusiedeln. ... Ich persönlich glaube nicht an den Erfolg dieser Ansiedlungen. Was dort bis jetzt erreicht wurde, rechtfertigt die grossen Hoffnungen nicht.

Das war vielleicht auch der Ausdruck von Rosens Ansichten.

Die Sache blieb bis Mitte 1934 auf dem Tisch. Als das Flüchtlingsproblem in Westeuropa und das Problem der polnischen Juden immer akuter wurde, neigte Rosen langsam dazu, dass Birobidschan auch in Betracht gezogen werden sollte.

[Okt-Nov 1934: Joint-Vertreter untersuchen Birobidschan]

Mit seinen engsten Mitarbeitern - Lubarsky, Grower und Zaichik - machte er im Oktober und November 1934 eine Reise durch Birobidschan. Seine Beobachtungen unterschieden sich mitnichten von früheren Beschreibungen, wie diese des Expertenkomitees, das im Jahre 1929 durch die prokommunistische Gruppe ICOR in New York einen Bericht abgegeben hatte, oder die Beobachtungen von David A. Brown, der das Gebiet im Jahre 1932 besucht hatte. Es war klar, dass es einen grossen Schub an Investitionen brauchen würde, um das Gebiet für eine landwirtschaftliche Nutzung und Siedlungen nutzbar zu machen. Aber Rosen war nun optimistischer als vorher;

[Das sowjetische Regime wendet Zwangsarbeit an, um in Birobidschan die Infrastruktur aufzubauen]

die Regierung hatte grosse Summen versprochen (S.92)

um die Lage im Gebiet zu verbessern, und es wurden Kulaken-Gefangene und Männer der Roten Armee zum Strassenbau hergeschickt, auch für Eisenbahnen und Entwässerungskanäle. Rosens Hauptpunkt war, dass die sowjetische Regierung einen Fluchtpunkt zur Verfügung gestellt hatte, und konnte nicht abgelehnt werden.

[Die Führung des Agro-Joint organisierte Birobidschan für eine eventuelle Auswanderung polnischer Juden]

Die JDC-Führung berief nun Sitzungen zur Diskussion über die Lage ein. Für Leute wie James N. Rosenberg war die Situation einfach zu bewerten: "Wollen wir 100.000en polnischen Juden eine Gelegenheit zur Auswanderung in ein Land geben, das bereit und willig ist, seine Grenzen für die Einwanderung zu öffnen?"

(Endnote 44: AJ 23, 1/26/35 [26. Januar 1935])

Rosen selbst "machte das Eingeständnis, dass er Jahre zuvor sehr stark geäussert hatte, dass sich keine private oder philanthropische Organisation in dieser Arbeit engagieren sollte, bis alle die Voraussetzungen dafür gegeben waren; dass es grosse Ausgaben der Regierung nach sich ziehen würde." Aber jetzt war die Lage eine andere, und deshalb waren auch die Bedürfnisse anders. "Es gibt Leute in der Regierung, die die Not der Juden in Deutschland und anderswo sehr heftig mitfühlen, und deren Einstellung sicherlich auch von humanitären Gefühlen her motiviert ist. die Wichtigkeit von Birobidschan liegt nicht so sehr im unmittelbaren Resultat, als viel mehr in der Entwicklung potentieller Möglichkeiten für die Auswanderung."

(Endnote 45: AJ 86, 6/20/35 [20 Juni 1935])

[Auswanderungsplan und Finanzabkommen für Birobidschan]

Der sowjetische Vorschlag war, dass 1000 jüdische Familien und 500 Einzelpersonen siedeln sollten, einige in Birobidschan, einige auf der Krim (100 Familien) und in der Ukraine, jeweils in der Landwirtschaft und in der Industrie. Der Agro-Joint sollte das Geld für den Transport an die russische Grenze beisteuern und dann die landwirtschaftlichen Siedlungen auf der Krim und in Birobidschan überwachen. Das Geld musste von den 1,2 Mio. $ der AMSOJEFS-Schuldscheine herkommen, die den Sowjets übergeben werden mussten. Der Agro-Joint würde 200.000 $ in harter Währung bekommen, um die Ausgaben ausserhalb der Sowjetunion abwickeln zu können, und 1 Mio. $ in russischen Gütern würde in Goldrubel-Preisen gekauft. Die Regierung der UdSSR würde als Gegenpart zum amerikanischen Geld 25 Mio. Rubel beisteuern.

Die Einwanderer würden durch die Regierung ausgewählt, da der Agro-Joint die Verantwortlichkeit für diesen Teil des Plans ablehnte. Die Neuankömmlinge würden das Recht haben, Russland innerhalb einer gewissen Zeit zu verlassen. Aber die ganze Frage des Bürgerrechts und des Militärdiensts (S.93)

war bis zu dieser Zeit noch nicht geregelt, als Rosen den Vorschlag im Juni 1935 zur Diskussion brachte.

[Juni 1935: JDC-Sitzungen über Birobidschan - das Stalin-Regime übernimmt die Kosten - die polnische Regierung ist auch interessiert - die Arbeit des Joint in Polen hat keine Wirkung]

Bei dieser Sitzung - es war eine mit Mitgliedern der ICA an der JDC-Exekutive - erklärte Rosen diesen Plan weiter. Im Gegensatz zu Südamerika und anderen Ländern ausserhalb von Palästina war Birobidschan das einzige nichtentwickelte Land in der Welt, wohin eine grosse Auswanderung für 1000e oder 100.000e von 100.000en von Leuten möglich war, und es war das einzige Land, wo die Regierung bereit war, den Hauptteil der Kosten zu tragen, dank der Tatsache, dass die russische Regierung bemüht war, Siedlungen in diesen fernöstlichen Regionen selbst zu fördern.

In der informellen Diskussion mit den polnischen Vertretern fasste Rosen zusammen, dass die polnische Regierung sich des Problems der Juden bewusst war. Sie wusste, dass sie in Polen nicht integriert werden konnten, und sie würde jeden Plan unterstützen, eine grosse Anzahl von ihnen ausser Landes zu bringen. "So wie ich die ganze Frage sehe", sagte er, "versucht praktisch jedes Land in Europa, die Juden als eine ausländische Nation aus ihrem Land abzuschieben - einige in grossem Stil - einige in einer weniger brutalen Art." Nur Russland war darauf vorbereitet, nicht nur keine Juden abzuschieben, sondern sogar welche aufzunehmen.

Von dem, was ich über die Arbeit des JDC weiss, die (Aufbau-)Stiftung, die ICA, etc., muss ich ziemlich frei heraus sagen, dass ein guter Teil dieser sehr wichtigen Arbeit - die ich nicht runtermachen will - ein guter Teil der so genannten Aufbauarbeit, die weitergeführt worden ist, nicht in wirklichem Sinn dem Wort Aufbauarbeit entspricht. Es macht keinen Sinn, unsere Köpfte in den Sand zu stecken. ... Die Leute, die dort betreut werden, bleiben einfach Kleinhändler mit den wenigen Rubeln (sic!), die man ihnen gibt. Die junge Generation bekommt keine Gelegenheit der Umschichtung (beschäftigungsmässige Umschichtung) in der wirklichen Bedeutung dieses Wortes. Die Kassen machen sichtbare Bemühungen, aber sie sind alle relativ unbedeutend. Dies gilt für die Kreditkassen in allen Ländern.

Der Wettbewerb war gross. Rosen setzte seine Ausführungen fort, und es war sehr zweifelhaft, ob sie es noch länger aushalten würden. Die Russen waren "höflich und bescheiden und ernsthaft" in ihrer Meinung gegenüber Antisemitismus und ihrer Unterstützung einer totalen Chancengleichheit. (S.94)

[Rosen: Russland wird als Haupteinwanderungsland für Juden vorgesehen]

Generell sagte er, "es gibt in Russland kein speziell jüdisches Problem ausser einem unbedeutenden - das der Hilfe für einige religiöse Leute, auszureisen", und er machte das. Was den Rest anging, wurde Russland ein Einwanderungsland, das Einwanderungsland, und es wäre verantwortungslos, dies nicht zu nutzen.

Rosen schlug auch einen Plan vor, wie dann durch eine JDC-Finanzoperation auch noch Maschinen nach Russland importiert werden sollten; dies würde die Arbeitsgelder an den Agro-Joint in Russland erhöhen. Aber was die Diskussion und das Interesse beherrschte, war der Einwanderungsplan.

(Endnote 46: AJ 13, 6/15/35 [15. Juni 1935])

Rosen, so wie er es mehr als genug klargemacht hatte, war kein Kommunist. Bei einer Pressekonferenz im Jahre 1931

(Endnote 47: AJ 2, 11/12/31 [12 November 1931])

hatte Rosen erklärt, dass er kein Bolschewik sei. Aber, so fügte er hinzu, die russische Regierung hatte das jüdische Problem besser aufgenommen als jede andere Regierung, und deshalb sollte Russland dafür die volle Anerkennung erhalten. Aber es sprach noch mehr dafür. Seine engen Arbeitsbeziehungen mit den sowjetischen Vertretern hatte ihn dazu geführt, die positive Seite des sowjetischen Regimes anzuerkennen, und er war unzweifelhaft von der Ernsthaftigkeit dieser Vertreter beeindruckt - die uns unglücklicherweise unbekannt geblieben sind - die dieses Angebot gemacht haben.

[1935: 21 deutsch-jüdische Ärzte wandern nach Russland ein]

Im Jahr 1935 war ihm klar, dass es nicht die Hoffnung war, harte Währung zu beschaffen, die die sowjetischen Gedanken beeinflusste, denn die Sowjets hatten ein vorteilhaftes Gleichgewichtssystem für ihre Zahlungen entwickelt, und sie produzierten in grossen Mengen eigenes Gold. Es war ein anderer Aspekt des Plans, das diesen für sie interessant machte. Sie hatten - als ein Experiment - 21 deutsche Ärzte aufgenommen, die durch die Untersuchungen des JDC gegangen waren; und die meisten dieser Ärzte stammten dabei aus den französischen Flüchtlingsbaracken.

[Zweifel im JDC über Birobidschan]

Die Haltung der Teilnehmenden in dieser Diskussion war verschieden. Lessing Rosenwald hatte Zweifel, aber diese waren mehr auf das Klima bezogen und auf die Tatsache, dass Birobidschan so nah an der japanischen Grenze lag. Die Zusammenhänge bezüglich der Errichtung eines sowjetischen Judenstaates waren bei ihm weniger präsent. So weit er sich Sorgen machte, sagte er, "dass dies für ihn nicht in Frage komme. Jene Leute, die diesen Plan weiterverfolgen wollten, würden dafür auch Argumente finden." Dr. Oungre von der ICA und Alexander Kahn und Dr. Cyrus Adler vom JDC standen dem Projekt ablehnend gegenüber, weil sie die Stabilität der sowjetischen Bedingungen anzweifelten, und (S.95)

sie waren um die antireligiösen Aktivitäten der Sowjets besorgt.

[Warburgs Argumente für Birobidschan - grünes Licht für Birobidschan]

Warburg argumentierte, dass die Russen immer ihre Schulden beglichen hätten, dass sie seriös waren, und dass keiner wusste, was mit den drei Millionen Juden in Polen in Zukunft geschehen sollte. Diese Gelegenheit sollte nicht abgelehnt werden, sagte er. Das momentan ruhige Verhältnis in den russisch-polnischen Beziehungen würde vielleicht bald vorbei sein, und die Gelegenheit, die sich jetzt bot, sollte wahrgenommen werden. Dies war die Haltung, die schlussendlich von der grossen Mehrheit der Konsultierten angenommen wurde, und Rosen wurde dafür grünes Licht gegeben.

(Endnote 48: AJ 86, 6/20/35 [20 Juni 1935])


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