[2.7. Das Birobidschan-Projekt für Juden aus
Russland und Polen 1926-1935]
[Ab 1926: Birobidschan ist
von den jüdischen Zentren in Russland weit entfernt]
Mitte der 1930er Jahre kam ein neuer Faktor ins Spiel, der wie
eine Verheissung schien und dem Trend der Arbeit des
Agro-Joint im sowjetischen Russland eine Wendung geben konnte.
Es ging dabei um die Frage von Birobidschan und die Aussichten
auf eine Einwanderung nach Russland.
Im Jahr 1926 hatte die sowjetische Regierung einen Vorschlag
durchgebracht, ein Gebiet in Birobidschan am Fluss Amur im
Fernen Osten für die Ansiedlung von Juden zu reservieren. Wenn
dort genug Juden siedeln würden, so könnte auch eine jüdische
Republik eingerichtet werden; die jüdische Nation würde eine
territoriale Basis erhalten, wie alle anderen Nationen der
Sowjetunion.
Kalinin, der Präsident der Sowjetunion, war ein speziell
starker Vorkämpfer dieses Plans und drückte seine Ansichten in
einer (S.90)
Anzahl Reden aus. Aber die Akzeptanz des Plans durch die
jüdisch-kommunistischen Kreise in Russland war eher
zweifelhaft. Einige jüdische Kommunisten dachten, dass dies
eine Hinwendung zu einem jüdischen Nationalismus oder
Zionismus sei. In der Tat war der Plan auch in einer Art, wie
sich die Zionisten die Zukunft vorstellten: als eine
verzögerte Anerkennung der Tatsache, dass die Juden eine
Nation ohne Boden seien, deren nationale Revolution nur dann
zum Ziel führen könne, wenn auf eigenem Land gesiedelt würde.
Natürlich akzeptierten sie Birobidschan nicht als Endziel,
aber sie hofften, dass ein früher Fehlschlag des Experiments
den Weg zu einer sowjetischen Anerkennung eines
Palästina-zentrierten Zionismus ebnen könnte.
Das JDC neigte dazu - wurde in der Tat sogar dazu gezwungen -
das Birobidschan-Projekt zu akzeptieren und dort zu arbeiten.
Rosen aber blieb wachsam. Das Unternehmen auf der Krim war
noch im Aufbau. Die dortigen Bedingungen waren relativ gut,
und er war nicht geneigt, in ein wildes Projekt mitten im
Niemandsland einzusteigen, 1000e von Meilen weg vom Zentrum
des jüdisch-russischen Lebens. Birobidschan brauchte
offensichtlich Investitionen, und die Tatsache, dass die
Regierung Gebiete an ihren Grenzen zur von Japan
kontrollierten Mandschurei bevölkern wollte, und dort die
natürlichen Ressourcen nutzen wollte, war für den Agro-Joint
kein Argument für eine Beteiligung.
[Ab den späten 1920er Jahren:
Birobidschan wird wegen der Diskriminierung in Polen und
durch die NS-Regierungen attraktiv]
Diese Situation änderte sich mit dem Aufstieg von Hitler aber
dramatisch, und dazu kam noch die Verschlechterung der
wirtschaftlichen Situation des polnischen Judentums. Das
sowjetische Russland spielte nun mit der Idee, den Opfern der
Nazi-Verfolgung Asyl zu gewähren; Birobidschan konnte sich in
eine nationale Heimstätte verwandeln, die nicht nur den
russischen Juden vorbehalten bleiben sollte.
Im Jahre 1931 berichtete Rosen, dass er offiziell vom COMZET
angefragt worden sei, eine Auswanderung von 10.000 jüdischen
Familien zu begleiten, von denen die Hälfte in der
Landwirtschaft arbeiten sollten, die Hälfte würde auf Polen
kommen, und viele würden nach Birobidschan ziehen.
(Endnote 42: AJ 66, 10/8/31 [8. Oktober 1931])
Rosens Reaktion war zurückhaltend. Mit dem wachsenden Druck
legte Kahn im Jahre 1932 seine Haltung zu dieser Frage in
einem Brief an Max M. Warburg in Hamburg fest.
(Endnote 43: AJ 173, 2/14/32 [14 Februar 1932])
Er stellte fest, dass Birobidschan eines der so
genannten Territorialprojekte war (hinsichtlich der
Konzentration von Juden in einem Gebiet ausserhalb von
Palästina). Er sagte dass (S.91)
diese so genannten
Territorialisten jetzt überall in der Welt stärker werden,
und speziell diese Bewegung gewinnt unter den Jugendlichen
an Anhängerschaft, seit man selbst sehen könne, dass
Palästina nicht in der Lage sei, die Bedürfnisse unter den
Juden zu lindern, weil die Massenauswanderung nach Palästina
nicht möglich sei. Wenn man diese psychologische Situation
in Betracht zieht, so habe nun die höchste russische
Bürokratie in ihren Sitzungen vor einiger Zeit entschieden,
ein Gebiet in Birobidschan auszuscheiden, in dem das
jüdische nationale Dasein sich entwickeln könne.
Aber dann fügte Kahn hinzu,
dass in der gegenwärtigen Zeit
für die russischen Juden eine bessere Möglichkeit der
Unterstützung darin bestehe, sich in der Industrie und in
den Fabriken zu integrieren, so dass die Russen dann
ausländische Juden sich für Birobidschan einschreiben lassen
könnten. Eine Anzahl Juden von Argentinien sind dort bereits
eingewandert, wie auch 20 junge Leute aus Deutschland und
200 aus Litauen und Lettland diesen Schritt bereits gemacht
haben. Hinsichtlich einer wachsenden Arbeitslosigkeit kann
man daran denken, dass vielleicht sogar Arbeitslose aus
Amerika und aus Palästina in Birobidschan siedeln werden. Im
Moment sind es ungefähr 5500 jüdische Personen, das ist das
Doppelte der Personen von vor einem Jahr. Dieses Jahr sollen
12.000 neue Einwanderer dorthin geschickt werden, und im
Jahr 1933 ist geplant 20.000 weitere dort anzusiedeln. ...
Ich persönlich glaube nicht an den Erfolg dieser
Ansiedlungen. Was dort bis jetzt erreicht wurde,
rechtfertigt die grossen Hoffnungen nicht.
Das war vielleicht auch der Ausdruck von Rosens Ansichten.
Die Sache blieb bis Mitte 1934 auf dem Tisch. Als das
Flüchtlingsproblem in Westeuropa und das Problem der
polnischen Juden immer akuter wurde, neigte Rosen langsam
dazu, dass Birobidschan auch in Betracht gezogen werden
sollte.
[Okt-Nov 1934:
Joint-Vertreter untersuchen Birobidschan]
Mit seinen engsten Mitarbeitern - Lubarsky, Grower und Zaichik
- machte er im Oktober und November 1934 eine Reise durch
Birobidschan. Seine Beobachtungen unterschieden sich
mitnichten von früheren Beschreibungen, wie diese des
Expertenkomitees, das im Jahre 1929 durch die
prokommunistische Gruppe ICOR in New York einen Bericht
abgegeben hatte, oder die Beobachtungen von David A. Brown,
der das Gebiet im Jahre 1932 besucht hatte. Es war klar, dass
es einen grossen Schub an Investitionen brauchen würde, um das
Gebiet für eine landwirtschaftliche Nutzung und Siedlungen
nutzbar zu machen. Aber Rosen war nun optimistischer als
vorher;
[Das sowjetische Regime
wendet Zwangsarbeit an, um in Birobidschan die Infrastruktur
aufzubauen]
die Regierung hatte grosse Summen versprochen (S.92)
um die Lage im Gebiet zu verbessern, und es wurden
Kulaken-Gefangene und Männer der Roten Armee zum Strassenbau
hergeschickt, auch für Eisenbahnen und Entwässerungskanäle.
Rosens Hauptpunkt war, dass die sowjetische Regierung einen
Fluchtpunkt zur Verfügung gestellt hatte, und konnte nicht
abgelehnt werden.
[Die Führung des Agro-Joint
organisierte Birobidschan für eine eventuelle Auswanderung
polnischer Juden]
Die JDC-Führung berief nun Sitzungen zur Diskussion über die
Lage ein. Für Leute wie James N. Rosenberg war die Situation
einfach zu bewerten: "Wollen wir 100.000en polnischen Juden
eine Gelegenheit zur Auswanderung in ein Land geben, das
bereit und willig ist, seine Grenzen für die Einwanderung zu
öffnen?"
(Endnote 44: AJ 23, 1/26/35 [26. Januar 1935])
Rosen selbst "machte das Eingeständnis, dass er Jahre zuvor
sehr stark geäussert hatte, dass sich keine private oder
philanthropische Organisation in dieser Arbeit engagieren
sollte, bis alle die Voraussetzungen dafür gegeben waren; dass
es grosse Ausgaben der Regierung nach sich ziehen würde." Aber
jetzt war die Lage eine andere, und deshalb waren auch die
Bedürfnisse anders. "Es gibt Leute in der Regierung, die die
Not der Juden in Deutschland und anderswo sehr heftig
mitfühlen, und deren Einstellung sicherlich auch von
humanitären Gefühlen her motiviert ist. die Wichtigkeit von
Birobidschan liegt nicht so sehr im unmittelbaren Resultat,
als viel mehr in der Entwicklung potentieller Möglichkeiten
für die Auswanderung."
(Endnote 45: AJ 86, 6/20/35 [20 Juni 1935])
[Auswanderungsplan und
Finanzabkommen für Birobidschan]
Der sowjetische Vorschlag war, dass 1000 jüdische Familien und
500 Einzelpersonen siedeln sollten, einige in Birobidschan,
einige auf der Krim (100 Familien) und in der Ukraine, jeweils
in der Landwirtschaft und in der Industrie. Der Agro-Joint
sollte das Geld für den Transport an die russische Grenze
beisteuern und dann die landwirtschaftlichen Siedlungen auf
der Krim und in Birobidschan überwachen. Das Geld musste von
den 1,2 Mio. $ der AMSOJEFS-Schuldscheine herkommen, die den
Sowjets übergeben werden mussten. Der Agro-Joint würde 200.000
$ in harter Währung bekommen, um die Ausgaben ausserhalb der
Sowjetunion abwickeln zu können, und 1 Mio. $ in russischen
Gütern würde in Goldrubel-Preisen gekauft. Die Regierung der
UdSSR würde als Gegenpart zum amerikanischen Geld 25 Mio.
Rubel beisteuern.
Die Einwanderer würden durch die Regierung ausgewählt, da der
Agro-Joint die Verantwortlichkeit für diesen Teil des Plans
ablehnte. Die Neuankömmlinge würden das Recht haben, Russland
innerhalb einer gewissen Zeit zu verlassen. Aber die ganze
Frage des Bürgerrechts und des Militärdiensts (S.93)
war bis zu dieser Zeit noch nicht geregelt, als Rosen den
Vorschlag im Juni 1935 zur Diskussion brachte.
[Juni 1935: JDC-Sitzungen
über Birobidschan - das Stalin-Regime übernimmt die Kosten -
die polnische Regierung ist auch interessiert - die Arbeit
des Joint in Polen hat keine Wirkung]
Bei dieser Sitzung - es war eine mit Mitgliedern der ICA an
der JDC-Exekutive - erklärte Rosen diesen Plan weiter. Im
Gegensatz zu Südamerika und anderen Ländern ausserhalb von
Palästina war Birobidschan das einzige nichtentwickelte Land
in der Welt, wohin eine grosse Auswanderung für 1000e oder
100.000e von 100.000en von Leuten möglich war, und es war das
einzige Land, wo die Regierung bereit war, den Hauptteil der
Kosten zu tragen, dank der Tatsache, dass die russische
Regierung bemüht war, Siedlungen in diesen fernöstlichen
Regionen selbst zu fördern.
In der informellen Diskussion mit den polnischen Vertretern
fasste Rosen zusammen, dass die polnische Regierung sich des
Problems der Juden bewusst war. Sie wusste, dass sie in Polen
nicht integriert werden konnten, und sie würde jeden Plan
unterstützen, eine grosse Anzahl von ihnen ausser Landes zu
bringen. "So wie ich die ganze Frage sehe", sagte er,
"versucht praktisch jedes Land in Europa, die Juden als eine
ausländische Nation aus ihrem Land abzuschieben - einige in
grossem Stil - einige in einer weniger brutalen Art." Nur
Russland war darauf vorbereitet, nicht nur keine Juden
abzuschieben, sondern sogar welche aufzunehmen.
Von dem, was ich über die
Arbeit des JDC weiss, die (Aufbau-)Stiftung, die ICA, etc.,
muss ich ziemlich frei heraus sagen, dass ein guter Teil
dieser sehr wichtigen Arbeit - die ich nicht runtermachen
will - ein guter Teil der so genannten Aufbauarbeit, die
weitergeführt worden ist, nicht in wirklichem Sinn dem Wort
Aufbauarbeit entspricht. Es macht keinen Sinn, unsere Köpfte
in den Sand zu stecken. ... Die Leute, die dort betreut
werden, bleiben einfach Kleinhändler mit den wenigen Rubeln
(sic!), die man ihnen gibt. Die junge Generation bekommt
keine Gelegenheit der Umschichtung
(beschäftigungsmässige Umschichtung) in der wirklichen
Bedeutung dieses Wortes. Die Kassen machen sichtbare
Bemühungen, aber sie sind alle relativ unbedeutend. Dies
gilt für die Kreditkassen in allen Ländern.
Der Wettbewerb war gross. Rosen setzte seine Ausführungen
fort, und es war sehr zweifelhaft, ob sie es noch länger
aushalten würden. Die Russen waren "höflich und bescheiden und
ernsthaft" in ihrer Meinung gegenüber Antisemitismus und ihrer
Unterstützung einer totalen Chancengleichheit. (S.94)
[Rosen: Russland wird als
Haupteinwanderungsland für Juden vorgesehen]
Generell sagte er, "es gibt in Russland kein speziell
jüdisches Problem ausser einem unbedeutenden - das der Hilfe
für einige religiöse Leute, auszureisen", und er machte das.
Was den Rest anging, wurde Russland ein Einwanderungsland,
das Einwanderungsland,
und es wäre verantwortungslos, dies nicht zu nutzen.
Rosen schlug auch einen Plan vor, wie dann durch eine
JDC-Finanzoperation auch noch Maschinen nach Russland
importiert werden sollten; dies würde die Arbeitsgelder an den
Agro-Joint in Russland erhöhen. Aber was die Diskussion und
das Interesse beherrschte, war der Einwanderungsplan.
(Endnote 46: AJ 13, 6/15/35 [15. Juni 1935])
Rosen, so wie er es mehr als genug klargemacht hatte, war kein
Kommunist. Bei einer Pressekonferenz im Jahre 1931
(Endnote 47: AJ 2, 11/12/31 [12 November 1931])
hatte Rosen erklärt, dass er kein Bolschewik sei. Aber, so
fügte er hinzu, die russische Regierung hatte das jüdische
Problem besser aufgenommen als jede andere Regierung, und
deshalb sollte Russland dafür die volle Anerkennung erhalten.
Aber es sprach noch mehr dafür. Seine engen Arbeitsbeziehungen
mit den sowjetischen Vertretern hatte ihn dazu geführt, die
positive Seite des sowjetischen Regimes anzuerkennen, und er
war unzweifelhaft von der Ernsthaftigkeit dieser Vertreter
beeindruckt - die uns unglücklicherweise unbekannt geblieben
sind - die dieses Angebot gemacht haben.
[1935: 21 deutsch-jüdische
Ärzte wandern nach Russland ein]
Im Jahr 1935 war ihm klar, dass es nicht die Hoffnung war,
harte Währung zu beschaffen, die die sowjetischen Gedanken
beeinflusste, denn die Sowjets hatten ein vorteilhaftes
Gleichgewichtssystem für ihre Zahlungen entwickelt, und sie
produzierten in grossen Mengen eigenes Gold. Es war ein
anderer Aspekt des Plans, das diesen für sie interessant
machte. Sie hatten - als ein Experiment - 21 deutsche Ärzte
aufgenommen, die durch die Untersuchungen des JDC gegangen
waren; und die meisten dieser Ärzte stammten dabei aus den
französischen Flüchtlingsbaracken.
[Zweifel im JDC über
Birobidschan]
Die Haltung der Teilnehmenden in dieser Diskussion war
verschieden. Lessing Rosenwald hatte Zweifel, aber diese waren
mehr auf das Klima bezogen und auf die Tatsache, dass
Birobidschan so nah an der japanischen Grenze lag. Die
Zusammenhänge bezüglich der Errichtung eines sowjetischen
Judenstaates waren bei ihm weniger präsent. So weit er sich
Sorgen machte, sagte er, "dass dies für ihn nicht in Frage
komme. Jene Leute, die diesen Plan weiterverfolgen wollten,
würden dafür auch Argumente finden." Dr. Oungre von der ICA
und Alexander Kahn und Dr. Cyrus Adler vom JDC standen dem
Projekt ablehnend gegenüber, weil sie die Stabilität der
sowjetischen Bedingungen anzweifelten, und (S.95)
sie waren um die antireligiösen Aktivitäten der Sowjets
besorgt.
[Warburgs Argumente für
Birobidschan - grünes Licht für Birobidschan]
Warburg argumentierte, dass die Russen immer ihre Schulden
beglichen hätten, dass sie seriös waren, und dass keiner
wusste, was mit den drei Millionen Juden in Polen in Zukunft
geschehen sollte. Diese Gelegenheit sollte nicht abgelehnt
werden, sagte er. Das momentan ruhige Verhältnis in den
russisch-polnischen Beziehungen würde vielleicht bald vorbei
sein, und die Gelegenheit, die sich jetzt bot, sollte
wahrgenommen werden. Dies war die Haltung, die schlussendlich
von der grossen Mehrheit der Konsultierten angenommen wurde,
und Rosen wurde dafür grünes Licht gegeben.
(Endnote 48: AJ 86, 6/20/35 [20 Juni 1935])
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