Kartoffelsünder
                Zar Peter I. der Grosse von Rußland lernte bei seiner
                  Reise nach Westeuropa neben Schiffbau
                  auch die Kartoffel kennen. Er warb für das
                  rückständige Reich Handwerker, Schiffbauer und
                  Facharbeiter an – insbesondere aus Holland – und diese
                  brachten die Kartoffel mit, die dann in der Gegend um
                  Petersburgangebaut wurde. Es war
                  ein Teil seiner Bemühungen, Rußland zu modernisieren,
                  das Volk aus seinem dumpfen Glauben an ein
                  gottgegebenes Schicksal herauszuholen
                  (natürlich nicht zu weit!) – zum Wohl des
                  Zarenreiches, also zu seinem Wohl. Er setzte dabei
                  listigerweise auf den Einfluß der Frauen.
                  Schon während seiner ersten Reise ins Ausland (9. März
                  1697 bis 25. August 1698) schickte er aus Holland
                  einen Sack Kartoffeln an seinen Feldmarschall Boris
                  Scheremetjev, aber der Verbleib dieser Kartoffeln
                  ist nicht bekannt.
                
                Der Versuch des Zaren, die Kartoffel, die JAPRNTFKZ, im
                ganzen Reich heimisch werden zu lassen, verzögerte sich
                um mehrere Jahrzehnte, weil die Einführung zufälliger
weise mit einer Pest-Epidemie
                zusammenfiel und dies vom feudalen Bojarenadel (dessen
                Macht und Reichtum sich auf den Anbau von Getreide und 
Hanf stützte) und dem mit ihm
                verbündeten griechisch-orthodoxen Patriarchat der
                Kartoffel zugeschrieben wurde. 
                
                Die 
Altgläubigen waren der
                Kartoffel nicht wohlgesonnen: Die Kartoffel sei
                
                  »die verbotene Frucht, welche die beiden ersten
                  Menschen aßen; jeder, der die Kartoffeln ißt, ist
                  Gott nicht gehorsam, verstößt gegen die Heilige
                  Schrift und komme niemals in das königliche
                  Himmelsreichs.«
                
                
                Auch sei die Kartoffel aus dem Körper der Sünderin und
                aus der Spucke des Teufels entstanden. Deshalb sei es
                allen Christen verboten, die Kartoffel zu essen. So sei
                es! 
                
                 
                Unter Kaiserin Anna Ivanovabeginnt in der Zeit von 1730
                bis 1740 der Kartoffelanbau sich auf die Güter um St.
                Petersburg herum auszudehnen. Für 1736 liegt ein Beleg
                über die Kartoffel in Rußland vor und zwar im Katalog
                des Petersburger Arzneimittelgartens. 
                
                1741 werden bei einem Festessen am kaiserlichen Hof in
                St. Petersburg auch gereicht; da die Kartoffel hier nur
                in Mengen von ¼ bis 1¼ Pfund gereicht wurde, ist davon
                auszugehen, daß die Kartoffel noch verhältnismäßig
                unbekannt war. In einer Verbrauchsliste des
                kaiserlichen Hofes aus demselben Jahr werden für den
                Monat Juni sechs Pfund Kartoffel aufgeführt; es muß sich
                um Frühkartoffeln gehandelt haben. 
                
                Die Prinzessin Sophie Fri
ederike
                Auguste von Anhalt-Zerbst
, die sich als
                KaiserinKatharina II. nannte, siedelte nach 1762
                deutsche Bauern an der unteren Wolga und auf der 
Krim an und ließ – fortschrittlicher
                als Preußens Friedrich – Volksschulen und
                Gymnasienerrichten. Mit den deutschen Bauern kamen auch
                die Kartoffeln wieder, obwohl diese Einwanderer für den
                Getreideanbau vorgesehen waren. 
                
                1764 wird über die Knolle berichtet, daß sie in den
                Gemüsegärten von Kiew wachse. Ihr Anbau in Livland und
                Estland (Kurland) war weit verbreitet, in den Bezirken
                von Nowgorod, Pskow, Twer (in der Nähe von
                Königsberg/Kaliningrad) und anderen wurde sie aber
                weiterhin nur als Arzneimittel und der aphrodisischen
                Wirkung wegen angebaut. Dafür spricht auch, daß der
                Gouverneur von Irkutsk, Frauendorf, die Kartoffel nur
                für sich anbauen ließ. 
                
                1765 ordnet der russische Senat an, daß in ganz
                Rußland die Kartoffel anzubauen sei; zu diesem
                Senatserlaß
                
                  »über den Anbau und die Verwendung der Erdäpfel, die
                  in England Potetes und andernorts Erdbirnen,Tartuffeln
                  oder Kartuffeln genannt werden«
                
                
                wird eine eingehende Instruktion über Anbau und Lagerung
                der Kartoffel mitgeliefert. Das Pflanzgut wurde im
                Ausland aufgekauft; W. S. Lechnowitsch, ein russischer
                Kartoffelhistoriker, konnte die Herkunft dieser
                Saatknollen feststellen: 180 kg vom Hofgärtner
                Eckleben, 5615 kg aus England, 384 kg aus Lübeck, 144 kg
                aus dem Proviantvorrat eines englischen Schiffes, das
                zufälligerweise im Hafen von Kronstadt lag, 1440 kg aus
                Riga und etwa 100 kg aus Preußen. 
                
                In numerierten Fässern wurden diese ins Landesinnere
                verschickt, aber wie so etwas manchmal passiert: Das
                medizinische Kollegium, das für Import und
                innerrussische Verschickung zuständig war, hielt die
                Knolle für frost-immun. Trotz Verpackung in Stroh und
                Heu erfroren die meisten Kartoffeln auf dem Transport,
                so daß die ganze Aktion ein Jahr später wiederholt
                wurde. Jetzt gelangen auch die ersten Kartoffeln nach
                Sibirien und von da nach Jakutsk und Kamtschatka; noch
                heute ist ein Kartoffel-Reis-Salat eine sibirische
                Spezialität. In einer Auflage von mehr als zehntausend
                Exemplaren wurde den Kartoffeln eine Anweisung zum Anbau
                und zur Lagerung beigegeben. In der mittelrussischen
                Waldsteppe entwickelte sich eine Fruchtfolge, die aus
                Hanf–Kartoffeln–Hanf–Ackerbohnenbestand. 
                
                Bis zu ihrer Vertreibung aus dem 
östlichen
                Raum der Ostsee im »Nordischen Krieg« am Anfang des 18.
                Jahrhunderts gehörte Karelien und Ingerien zum
                schwedischen Einflußbereich. Nach 
Ingerien
                wurden die Kartoffeln gleichzeitig wie in den heutigen
                finnischen Raum erstmals angebaut. 
                
                 Im »Siebenjährigen Krieg« lernen russische
                Soldaten die Kartoffeln in Preußen kennen und brachten
                sie in verschiedene Gegenden des russischen Reiches,
                ohne daß aber ein wirtschaftlich bedeutender Anbau
                erfolgte. In den ersten Jahren nach dieser Anbauphase
                hieß die Knolle »Tartuffeln«, was deutlich auf ihre
                Deutschstämmigkeit hinweist. 
                
                In Rußland verbreitete sich die Kartoffel besonders
                schnell in Weißrußland und im Grenzgebiet zu Polen, wo
                der Einfluß der russisch-orthodoxen Kirche geringer war.
                Im weißrussischem Gebiet von Grodno wurde die Kartoffel
                sogar als »Grodno« bezeichnet. 
                
                Im Süden Rußlands wurde die Kartoffel auch Mandeburke
                bzw. Mandiburck genannt, was auf eine Ableitung von
                Brandenburg verweist. In der Ukraine nannte man die
                Kartoffel auch Baraboli und Barabolje. Die Juden in
                Rußland bezeichneten die Kartoffel als Bulbe und die
                Leute, die mit der Kartoffel handelten, wurden Bulbeniks
                genannt. Karin Vaneker (Amsterdam, 2003) erwähnt in
                einem Aufsatz über die Kartoffel in der jüdischen Küche,
                daß im 
stetl die 
Bulbenitzes
                auch mit den 
Japke handelten; die Kartoffel sei
                das Manna der modernen jüdischen Geschichte (was wohl
                für Armenküche aller 
Religionen
                gilt). Salaman meint zu der in Osteuropa weit
                verbreiteten Bezeichnung »Bulbes«, daß sie aus dem
                griechischen »Bulbos«, geschwollene Wurzel oder Knolle,
                herrühre. 
                
                In der Schweiz schreibt später (1840) Jeremias Gotthelf
                in dem Entwicklungsroman »Wie Uli der Knecht glücklich
                wird«:
                
                  »Mit so Tüfelsdreck von Erdöpfeln wolle es sich sein
                  Mänteli nicht verderben lassen.«
                
                
                 Schon 1790 versuchten nicht nur einzelne
                Grundherren in Rußland, sondern auch Leute aus den
                Unterschichten die Kartoffel heimisch zu machen. 1790
                wird aber nur noch in der Umgebung von St. Petersburg
                durch ehemalige deutsche Bauern die Kartoffel angebaut.
                Doch gegen Ende des Jahrhundert hatte die Kartoffel in
                der Mehrzahl der Rayons (Bezirken) den Rübenanbau
                verdrängt. 
                
                1776 und 1768 wurden von dem Bojarensohn Andrej
                Beresovsky in Illimsk (Ostsibirien) Kartoffeln aus Samen
                gezogen und damit die ersten sibirischen Sorten
                entwickelt. 1783 werden Kartoffeln nachweislich in
                Kamtschatka feldmäßig angebaut, nachdem bereits vorher
                die Knolle in den Gemüsegärten heimisch geworden war. 
                
                1802 wachsen Kartoffeln in der Nähe von Perm in den
                Dörfern um die Hauptstadt:
                
                  «Die Bauern essen sie gebacken, gekocht und zu
                  Haferschleim; aus Kartoffelmehl stellen sie Kuchen undSharangi her; in den
                  Städten werden ferner Kartoffelsuppen gekocht, sie
                  werden gebraten und aus dem Kartoffelmehl werden Kisel  hergestellt.«
                
                
                Bis etwa 1820 kamen die Knollen für die Saat vorwiegend
                aus Deutschland; danach begann – zuerst auf den
                kaiserlichen Gütern in Bykow – die Züchtung neuer
                Sorten. Und sogleich entstehen die ersten Gedichte, wie
                sie auch in deutschen Landen zum Lob der Kartoffel
                entstanden:
                
                  »Kartoschka, kartoschka,     
                  
                  Kakaja tebe best.    
                  
                  Kaby ne bylo kartoschki,     
                  
                  
                  bego by stali fest?«
                  
                    
                    
                    Kartoffel, Kartoffel 
                    
                    dir gebührt große Ehre 
                    
                    Wenn es keine Kartoffel gäbe, 
                    
                    was würden wir dann essen?
                  
                
                
                Die Getreidemißernte des Jahres 1839 führte jedoch nun
                zu einem strikten Anbaugebot. Die »kartofel’nye bunty« –
                die Aufstände der Bauern gegen das Anbaugebot – wurden
                nach russischer Art, blutig und mit Einsatz des
                Militärs, niedergeschlagen. Aber immerhin: Danach
                versuchte man, mit Prämien den Kartoffelanbau zu fördern
                und hatte mit dieser Maßnahme auch größeren Erfolg. Im
                Erntejahr 1843 hatte sich gegenüber 1840 der Anbau
                verfünffacht. Und Kartoffelgerichte lösten in den
                folgenden zwanzig Jahren die Grütze (kascha) und
                Rübengerichte (repa) ab. 
                
                
nach oben  
                
                In den 1840er Jahren pflanzt jeder Pächter, sofern er
                neben seinem Haus noch ein ausreichend großes Stück Land
                hat, Bohnen, Rüben, Möhren und Kartoffeln an. Gemüse und
                Obst wurden nicht in riesigen Mengen gegessen, aber
                spielten auch in Rußland eine bedeutende Rolle bei der
                Vitaminversorgung. Falls ausreichend Kartoffeln geerntet
                werden konnten, erzielten die Bauern für ein 
chetverik
                zehn Silberkopeken auf dem städtischen Markt. 
                
                Es bleibt jedoch festzuhalten, daß zwanzig Jahre später
                Kartoffeln immer noch nicht zu den üblichen
                Nahrungsmitteln gehören. 
                
                Zu diesem Zeitpunkt waren nicht mehr als etwa eine
                Million Hektar Ackerland mit Kartoffeln bepflanzt, mit
                Schwerpunkten in den Gebieten um Moskau, Orel, Tula und
                Pskov und einige wenigen Provinzen an der Wolga und in
                Nordrußland. In den 1840er Jahren beginnt mit
                staatlicher Unterstützung der Kartoffelanbau
                anzuwachsen, was insbesondere durch die schlechten
                Ernten 1839 und 1840 unterstützt wurde. Im August 1840
                wird durch einen Ukas vorgeschrieben, daß die Pächter
                auf den staatseigenen Ländereien Kartoffeln anzubauen
                hätten; die Kartoffel wird in diesem Zarenbefehl
                beschrieben als
                
                  »ein gesundes und nahrhaftes Gemüse, das in Zeiten
                  dürftiger Ernte Getreide als gewöhnliches
                  Nahrungsmittel ersetzen und auch als Viehfutter für
                  die Haustiere verwendet werden kann.«
                
                
                Jetzt wurde auch die Heilige Synode verpflichtet, ihren
                Widerstand aufzugeben und die (örtlichen) Priester
                entsprechend zu instruieren und auf den Nutzen des
                Kartoffel hinzuweisen. Die ablehnende Haltung der Bauern
                wurde nicht beachtet; es kam zu örtlichem Widerstand
                gegen die Verpflichtung, Kartoffeln anzubauen – zumeist
                in den europäischen Teilen Rußlands (zum Beispiel in
                Perm, Orenburg, Kazan, Saratov, Riazan, Moskau). 
                
                1840 bis 1842 kam es in der Gegend um Vladimir und
                Vjatka zu Unruhen; die Proteste der Bauern richteten
                sich gegen den von der Regierung erzwungenen
                Kartoffelanbau – basierend auf einen Befehl aus dem Jahr
                1834, der aber noch 1840 nicht umgesetzt wurde. 
                
                In Bykovskii zerstörten 1842 die Bauern die
                Kartoffelfelder und pflanzten statt dessen Hafer an.
                Insbesondere in den Gebieten, in denen die
                Leibeigenschaft nicht so ausgeprägt war, glaubten die
                Bauern, die Anordnung, Kartoffeln anzubauen, sei ein
                erster Schritt zur Leibeigenschaft und zur Aufdrängung
                einer neuen Religion. Bei diesen Kartoffelunruhen
                bewaffneten sich die Bauern mit Piken, Äxten und Sensen,
                so daß zur Niederschlagung dieser Unruhen das Militär
                eingesetzt werden mußte. Die Kartoffel war nur noch der
                Auslöser für die schon vorher bestehende
                Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen – über
                einhunderttausend Bauern beteiligten sich an diesen
                Aufstände: »Mno wetnada, nitschewo na witdje«: nichts zu
                sehen in der großen Armut. 
                
                 
                Dennoch: In den Jahren von 1840 bis 1845 verfünffachte
                sich in Rußland die Anbaufläche für Kartoffeln und 1860
                ist die Knolle als Feldfrucht eingeführt, obwohl
                gleichzeitig festgestellt werden kann, daß südlich von
                Moskau die meisten Bauern nicht viel Gemüse gegessen
                haben sollen, da sie keine entsprechenden Gärten
                gehabt hätten. Auch Kartoffeln seien hier nicht
                allgemein verbreitet gewesen; in der Hauptsache sei es
                Kohl (als Sauerkraut und als Suppe), der gegessen
                werde. 
                
                In der Region um Moskau wurden in den 1870er Jahren in
                den Gärten hauptsächlich Kartoffeln, Steckrüben,
                Rettich und Zwiebeln angebaut. In Weißrußland
                verdrängte die Kartoffel den Kohl und die Roten Beete,
                und in der Ukraine übernahmen die Roten Beete häufig
                die Stelle des Kohls, denn auf »Borschtsch« wollte man
                nicht verzichten. Auch für Rußland gilt, daß die
                Kartoffeln als minderwertig gegenüber Getreide angesehen
                wurde und insofern als ein Arme-Leute-Essen
                starteten.          
                        
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                Rußland bzw. nach 1917 die »Union der Sozialistischen
                Sowjetrepubliken« gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts
                nach Deutschland, Polen und Frankreich zu den vier
                größten Anbauländern der Kartoffel. Sein Anteil an der
                Weltproduktion betrug 1910 mit 20,2 Mio. Tonnen etwa
                dreizehn Prozent und verdoppelte sich bis 1929 auf
                angebliche 45,6 Mio. Tonnen mit einem Weltmarktanteil
                von rund 22 Prozent. 
                
                Die Kollektivierung der »Kulaken« (Ausbeuter, wörtlich
                Faust, wurde der reiche Bauer genannt) durchStalin, am
                Anfang der 1930er Jahre, einhergehend mit einem
                überzogenen Fünf-Jahres-Plan, führte auch im
                Kartoffelanbau zu einem drastischen Rückgang. 
                
                 Lew Kopelew, der als junger Aktivist an den
                Eintreibungen in der Ukraine teilgenommen hatte,
                berichtet:
                
                  »Im schrecklichen Frühling 1933 sah ich Kinder und
                  Frauen mit aufgeblähten Bäuchen, die blau angelaufen
                  waren, noch atmend, aber mit roten Augen. Und Leichen
                  in zerlumpten Schaffellmänteln mit billigen
                  Filzstiefeln, Leichen im schmelzenden Schnee.«
                
                
                Auch von Kannibalismus in dieser Zeit ist berichtet
                worden. 
                
                 
                In den 1980er Jahren betrug die Kartoffelerzeugung in
                der Sowjet-Union durchschnittlich (angeblich) 92,6
                Millionen Tonnen, während in der deutschen
                Bundesrepublik, dem sog. klassischen
                Kartoffelesserland, weniger als zehn Millionen Tonnen
                ausgebuddelt wurden. 
                
                Lenin sagte 1920 in einer Rede an die Jugendverbände:
                »Kommunismus ist Elektrifizierung plus Sowjetmacht«.
                1924 soll die Witwe Lenins, Nadjeschda Konstantinowna
                Krupskaja, im Zusammenhang mit der »Neuen Ökonomischen
                Politik« hinzugesetzt haben: »und Kartoffelanbau«. 
                
                 Und ein weiteres Mal wird die Kartoffel in der
                Sowjetunion auf »höchster Ebene« behandelt: Auf dem XXI.
                Parteitag wirft Nikita Chruschtschew seinem
                partei-internen Gegner Wjatscheslaw Molotow vor, weil
                dieser jedem Rayon die Selbstversorgung mit Kartoffeln
                vorschreiben wollte – eine wahrlich »parteifeindliche
                Haltung der spalterischen Gruppe«. 
                
                 
                Jan III. Sobieski, der polnische Nationalheld, ließ sich
                1673 nach seinen Kämpfen gegen die Türken die Knollen
                aus Wien schicken, Die polnischen Edelleute hatten mehr
                Mut zum Genuß, denn bereits 1676 kamen die Kartoffeln
                auf dem Tisch. 
                
                Noch Mitte des 18. Jahrhunderts gelang der Anbau der
                Kartoffel in Polen nicht so recht; ein Beamter des
                polnisch-sächsischen Königs Friedrich August III.
                (1733–1763) klagte:
                
                  »Ich wollte, ich könnte den Anbau der Kartoffel
                  einführen, die fast unbekannt ist.«
                
                
                Während der sächsischen Herrschaft in Polen (Friedrich
                August II. von Sachsen ab 1697 bis Friedrich August III.
                1813 und wieder von 1807 bis 1813 unter Friedrich August
                König von Sachsen und Herzog von Warschau) wuchsen die 
bulwy,
                die »Erdlinge«,die der Gemüsehändler £uba von 1697
                bis 1733 anbaute.in einem Garten nahe Nowolipki (bei
                Warschau), £uba soll dabei reich geworden sein, denn die
                Kartoffel diente nicht der Fütterung von Vieh, sondern
                dem Adel als besondere Delikatesse. 
                
                 
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                Am 27. Juli 1748 schreibt König Friedrich II. von
                Preußen, daß preußische Bauern von litauischen Bauern
                lernen sollten, wie man Kartoffeln anbaue. Die
                friderizianischen Kartoffeledikte und der daraus
                folgenden verstärkte Kartoffelanbau führte umgekehrt zu
                einem starken Anwachsen des Knollenanbaus im Westen und
                Süden Litauens. 
                
                In einem Handbuch aus dem Jahr 1795 über die polnische
                Wirtschaft wird die Kartoffel erwähnt und der Nutzen
                beschrieben. 1805 wird in der »Gazeta Wieyska«, einer
                Dorfzeitung, berichtet, daß der Unternehmer Jablonny aus
                London gelbe, helle und andere Kartoffeln importierte,
                die als »Englische« bezeichnet werden. 
                
                Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchsen die Knollen auch
                auf den Feldern im Herzogtum Warschau. Nach der
                Hungersnot 1816/1817 verbreitete sich die Kartoffel sehr
                schnell auch in anderen Teilen Polens. 1819 wird in der
                »Gazeta Wieyska« über Fragen wie der Auslese von
                Setzlingen, über die Notwendigkeit des separaten Setzens
                verschiedener Sorten, über die Auswahl des richtigen
                Ackerbodens, über die Verwendung von Pflügen beim
                Kartoffelanbau und über den Einsatz von Dünger
                berichtet. Außerdem schreibt die »Gazeta« über die
                Folgen des zu frühen Abschneidens des Kartoffelkrauts,
                über Sortenveränderung durch Okulieren und – besonders
                wichtig – über die Herstellung von Stärke und Alkohol
                aus Kartoffeln. 
                
                1825 schreibt Oczapowski in seiner Schrift »Vom Acker,
                seinem Bau und der Pflanzenpflege« und 1826 in
                »Landwirtschaft«, dem zweiten Band über Geschichte und
                Anbau der Knolle:
                
                  »Die Kartoffeln in unserem Land waren während der
                  Herrschaft von König Stanislaw (August Poniatowski,
                  1764–1795) noch eine Seltenheit, aber jetzt werden sie
                  bald nicht einmal von den Mäusen gegessen.«
                
                
                Oczapowski unterscheidet zwischen frühen und späten
                Arten und gibt ihre Eigenschaften an. 1895 schreibt
                Kowalski in seiner »Landwirtschaftlichen Enzyklopädie«,
                daß nach 1817 der Kartoffelanbau auf allen möglichen
                Wegen popularisiert wurde:
                
                  »Wer weiß, welches Ausmaß er genommen hätte, wenn
                  nicht im Jahr 1844 eine Seuche, die sich in ein paar
                  Jahren über ganz Europa ausgebreitet hätte, fast alle
                  Sorten vernichtet hätte«.
                
                
                
                Zum Zeitpunkt der Seuche hätte der Anteil der
                Kartoffelanbaufläche fast ein Drittel der gesamten
                landwirtschaftlichen Nutzfläche Polens betragen. Wie in
                Irland führt die Braunfäule zu einer Auswanderungswelle
                nach Amerika7. Anfang der 1840er Jahre war die Kartoffel
                zur Hauptnahrungsquelle für die polnischen Manufaktur-
                und Fabrikarbeiter geworden – auch hier eine Parallele
                zu den westeuropäischen Ländern. 
                
                 
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                Anmerkungen
                
                  
                
                1 Die Geschichte der Stadt beginnt am
                Dreifaltigkeitstag 1703 (16. Mai ), als Peter der Große
                entscheidet, an der Mündung der Newa eine Festung zu
                bauen. Der ursprüngliche Name »Sankt Piters Burch« wurde
                binnen kurzem eingedeutscht – »Sankt Peterburg«. Die
                russischen Geistlichen bezogen sich auf den
                ursprünglichen Namen und nannten die Stadt
                kirchenslawisch »Grad svjatago Petta«, die Stadt des
                Heiligen Petrus, denn nach diesem wurde dieser Ort
                benannt und nicht nach dem Zaren Peter; Petersburg
                sollte ein Gegengewicht zu Rom werden, das »neue
                Jerusalem«. In der Umgangssprache wurde »Piter« gesagt,
                die Gelehrten sprachen von »Petropolis«.   
                
                Der kaiserliche Resident Otto Pleyer schrieb aus Moskau:
                
                  »alle Teutsche und russische Matrosen, und schiffers
                  aus dem ganzen reich zusammen berueffen, wie dann auch
                  fast alle anderen russischen Handwerker und
                  Arbeitsleut dahin entbothen werde. Auch wird aller
                  Butter, Korn, Knobloch, Zwiffel und andere Victualien
                  mehr und mehr aus Moscau dahin verschaffet, wodurch
                  eine solche Teurung hier einreiset, dass man fast auf
                  lenge kaum wird seine notdurfft zu leben erkaufen und
                  bekommen dürfen.« 
                
                
                Peter der Große ordnet 1712 auch an, daß »dass dero
                truppen nicht länger Moscowiter, sondern Russen genennet
                werden.«            
                      
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                2 Bis zu Peter I. besaß die russische Frau kein Recht
                auf Müßiggang; an hohen kirchlichen Feiertagen war den
                Frauen immerhin verboten, zu waschen oder ihre Zöpfe zu
                flechten, aber sie hatten sich zum Singen (im »Terem«,
                einem fraueneigenen Gebäudeteil) zu versammeln, um
                dabei zu spinnen und zu stricken. Der »Domostroj«, das
                Moral- und Anstandsbuch, forderte, daß die Herrin des
                Hauses, sofern sie gesund sei, nicht untätig herumsitzen
                dürfe, »damit allein schon bei ihrem Anblick die
                Knechte und Mägde die Lust zum Arbeiten packt.«   
                
                Dieser Grundsatz wird heutzutage im Management großer
                Unternehmen beachtet – nur handelt es sich hier um die
                Büroräume der Geschäftsleitung: rex sacrorum. 
                               
                
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                3 Der russische Hanf war weltweit die am besten für die
                Schiffahrt geeignete Faser; aus russischem Hanf bestand
                etwa 70 Prozent des Segel- und Tauwerks der britischen
                Marine. Bis 1883 wurden zwischen 75 und 90 Prozent des
                weltweit produzierten Papiers aus Hanf hergestellt.
                  
                
                Eine Anmerkung: Auf Betreiben der Burenregierung in
                Südafrika kommt Hanf 1925 auf die internationale
                Verbotsliste, weil sich die hanf-rauchende einheimische
                Bevölkerung einer geordneten Ausbeutung widersetzt.
                Außerdem kamen die ersten chemische Rohstoffe für
                Textilien auf (für die ein Markt von der US-Firma DuPont
                geschaffen werden mußte), und die Alkohol-Prohibition
                in den Vereinigten Staaten wurde beendet, so daß die
                Gefahr arbeitsloser Polizisten aus dem
                Drogen-Verfolgungsapparat und Mafia-Angehörigen bestand
                (nur unter den Bedingungen des illegalen Marktes konnte
                der Mob existieren).  
                
                Das Bayerische Oberste Landgericht beschloß 1969
                festzustellen, daß das Genuß-Verbot von Cannabis mit
                dem Grundgesetz vereinbar sei und zitierte hierbei
                amtliche Quellen: »Der Konsum durch Jugendliche
                erscheint vielen Beobachtern als ein Symbol der Revolte
                gegen die bestehende Ordnung der Dinge. ... Bei dieser
                Sachlage kann keine Rede davon sein, daß die
                Ungefährlichkeit von Haschisch erwiesen« sei.  
                               
                
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                4 Die Altgläubigen, eine Absplitterung von der
                russisch-orthodoxen Staatskirche, waren auch aus an den
                Haaren herbeigezogenen Gründen gegen die Kartoffel. Im
                Rahmen seiner Modernisierungsbemühungen erließ Peter I.
                eine Bartverordnung, wonach sich die Russen den Bart
                abschneiden mußten. Altgläubige, die sich den Bart
                nicht abschnitten, mußten eine Bartsteuer von fünfzig
                Rubel zahlen; da zogen einige doch lieber mit Weib und
                Kind ans Schwarze Meer.   
                
                Peter I. zog auch bei einer anderen Gelegenheit an den
                Haaren: Nach seinem Herrschaftsantritt hat er seine
                Halbschwester Sofija (die für ihn vorher die
                Regentschaft geführt hatte) die Haare scheren und ins
                Kloster bringen lassen.  
                
                Möglichweise ging es den Altgläubigen – wie auch den
                Orthodoxen in anderen Religionsgemeinschaften – nur
                um die Ikonographie, um die publikumswirksame
                Darstellung des Paradieses. Zugegeben, ein rotbäckiger
                Apfel macht sich besser auf einem Bild als eine erdige
                dunkelbräunliche Knolle.       
                            
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                5 Den Einwanderern wurde Reisegeld, Berufs- und
                Religionsfreiheit, Steuerfreiheit auf dreißig Jahre,
                Befreiung vom Wehrdienst auf ewige Zeiten, zinslose
                Kredite und noch mehr versprochen. Tatsächlich landeten
                sie in der Wildnis von Saratow, lebten in Erdhütten,
                verschuldeten sich auf Jahrzehnte, um ein Kalmückenpferd
                zu kaufen oder wegen einer Kuh, eines Hakenpflugs oder
                Wagenräder. Die in Sibirien siedelnden Mennoniten
                dagegen waren um 1870 herum die Musterlandwirte des
                Zarenreiches; nicht nur im Glauben eher konservativ,
                waren sie – wie die aus Württemberg, dem Musterländle,
                kommenden Mennoniten – allen technischen Neuerungen
                gegenüber aufgeschlossen.  
                
                In der preußischen Propaganda während und nach dem
                Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wurde behauptet, daß
                die Auswanderer aus der Provinz Preußen von den Russen,
                damals noch Moskowiter genannt, verschleppt wurden, »um
                die öden Provinzen einer barbarischen Nation zu
                bevölkern.« Friedrich II. erließ sogar ein
                Auswanderungsverbot, denn die Kalmücken, Kosaken und
                Tataren, die als Verbündete Österreichs nach Preußen
                gekommen waren, hätten das Land mit Feuer und Schwert
                zerstört, »und zwar auf eine Art, die seit den Zeiten
                der Hunnen nicht in Europa erlebt worden war. Die
                Unmenschen mordeten oder verstümmelten unbewaffnete
                Leute aus satanischer Lust.«   
                
                Und es seien sogar Menschenfresser gewesen; so habe man
                auf dem Schlachtfeld von Groß-Jägersdorf einen Russen
                gefunden, »der tödlich verwundet auf einem sterbenden
                Preußen lag, und ihn mit seinen Zähnen zerfleischte.«.
                »Menschen gesitteter Völker haben diesen Krieg geführt,
                aber es haben sich auch Teufel in Menschengstalt
                eingefunden, die die Hölle zur Grausamkeit entzündet
                hatte.«, schrieb der Dichter Johann Wilhelm Ludwig
                Gleim. So kann es kommen, wenn man einen Präventiv-Krieg
                gegen die Österreicher anfängt.  
                
                Deutsche Landesherren verschärften aufgrund dieser
                Auswanderung die Emigrationsgesetze, da die
                Auswanderungslust zu einem Mangel an Knechten und
                Mägden führte. Als 1874 in Rußland die Befreiung vom
                Militärdienst aufgehoben wurde, wanderten die Deutschen
                aus nach Nord- und Südamerika.  
                
                Am Ende des 20. Jahrhunderts kamen die russischen
                Nachkommen dieser katharinischen Einwanderer nach
                Deutschland (»zurück«), wobei nur diejenigen aufgenommen
                werden sollten, die noch in der »deutschen Kultur«
                verhaftet waren oder zumindest deutsch sprachen (gemeint
                war »deutsch denken«) oder zumindest einen Deutschen
                Schäferhund ihr eigen nennen durften. Das war bereits
                vor jener Zeit, als Deutschland noch kein
                Einwandererland war und führte zum Erstarken
                rechtsradikaler Parteien.       
                            
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                6 Ingerien, Ingermanland, ist eine historische
                Landschaft im Nordwesten Rußlands, zwischen Finnischem
                Meerbusen, Narwa, Ladogasee und Newa; nach dem
                westfinnischen Stamm der Ingern benannt; gehörte im
                Mittelalter zu Nowgorod, kam 1478 zum Großfürstentum
                Moskau, 1617 an Schweden und 1721 an Rußland. Bei der
                Auflösung der Sowjetunion 1992 haben die Einwohner
                vergessen, sich selbständig zu machen (siehe auch die
                Erläuterung zur Briefmarke).        
                          
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                7 Karin Vaneker meint, es sei wahrscheinlich, daß Juden
                die Kartoffel schon bei ihren erstem Bekanntwerden als
                koscher betrachteten. Grundsätzlich seien Juden aufgrund
                ihrer sonst sehr strengen Vorschriften nicht beschränkt
                beim Verzehr von Pflanzen. Die vielen internationalen
                Kontakte, die jüdische Gemeinden im 17. Jahrhundert
                hatten, brachten sie in Kontakt zu Nahrungsmitteln
                anderer Länder (z.B. Olivenöl, Mandeln, ungesäuertes
                Brot). Strittig war es unter den Rabbinern, ob die
                Kartoffel zu den Gemüsen gehöre, denn während der
                Passahzeit waren Erbsen und Bohnen und deren verwandte
                Pflanzen verboten; der Rabbi von Wilna bezweifelte die
                Zugehörigkeit der Kartoffel zu den Gemüsen.   
                
                Entscheidend für den Durchbruch als Nahrungsmittel auch
                in der Passahzeit war schließlich die Herkunft der
                Knolle aus Amerika, denn somit konnte sie nicht verboten
                worden sein. Am Vorabend des Passahfestes wurde die
                Kartoffel sogar benutzt anstelle der traditionellen
                Selleriewurzel: Die Knolle wurde in salzigem Wasser oder
                Essig eingetaucht und symbolisierte die Tränen und den
                Schweiß der Juden während der ägyptischen
                Sklaverei.  
                
                Wir haben hier auf die internationalen Kontakte der
                jüdischen Gemeinde verwiesen und deren Auswirkungen auf
                die jüdische Küche. Eine Parallele findet sich, wie an
                anderer Stelle aufgeführt, bei den Waldensern.  
                               
                
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                8 In Kisel schwingt Kiechl mit, es
                  klingt nach Mehlklößen, nach Kartoffelknödel – aus
                  Bayern.           
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