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Josef Nowak: Das
Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 4: Frachtgut
des Todes
Wieder Schlagfolter --
offene Güterwagen -- das zerbombte Ruhrgebiet -- von
kriminellen "Amerikanern" zerschossene Strassenlampen
-- Schüsse auf ein Hitler-Bild -- Massentod im nassen
Güterwagen -- die Rheinbrücke bei Duisburg --
Rheinberg
aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät.
Kriegsgefangen in der Heimat
präsentiert von Michael Palomino (2013)
[Agonie auf dem Sportplatz
Brackwede - Gerüchte ("Latrinenparolen")]
Ob ich sehr traurig war? Ich weiss es nicht mehr.
Wahrscheinlich nicht. Wir dämmerten in einer Art von
moralischer Agonie dahin. Ein Flugzeug war abgestürzt mit
dreissig Mann an Bord. Ein Schiff mit 4000 Flüchtlingen war
untergegangen. [Das deutsche Flüchtlingsschiff "Gustloff"
wurde von der sowjetischen Luftwaffe versenkt, ein riesiges
Kriegsverbrechen gegen deutsche Flüchtlinge]. Eine Stadt war
für 40.000 oder 120.000 Menschen zum Krematorium geworden
[auch Städte in Japan]. Wer wollte sich diesen Aufmarsch der
Abgeschiedenen noch vorstellen? Hier vor meinen Füssen hatte
nur ein Herz aufgehört zu schlagen, ein todkrankes
Menschenherz. Ein Uhrzeiger war angehalten worden. Das Werk
hörte auf zu ticken. Und wir hatten andere Sorgen. Was würde
es morgen zu essen geben? Wieder das fade Meat and Noodles
[Fleischnudeln], wieder die geschmacklosen Lima-Bohnen,
wieder Schinken mit Rührei ohne ein Stück Schwarzbrot? Und
wann würden wir nach Hause kommen? Für wen würde es sich
überhaupt noch lohnen, nach Hause zu fahren?
Latrinen gab es in Brackwede nicht, Latrinenparolen in
schier unerschöpflicher Menge [Gerüchte zum Runterspülen].
Würden wir als Holzfäller nach Kanada kommen? Oder stimmte
es, dass wir vom Unteroffizier aufwärts nach den
Feuerlandinseln deportiert werden sollten, eine Massnahme,
die ursprünglich nur den Generalstäblern vorbehalten war?
Traf es zu, dass bereits russische Unterhändler im
anglo-amerikanischen [S.50] Hauptquartier eingetroffen
waren, um einen grösseren Posten deutscher Sklaven für den
Wiederaufbau Stalingrads und anderer Städte zu chartern?
Nein, an Gesprächsstoff fehlte es nicht. Man brauchte schon
gute Nerven, um das Inferno der Latrinenparolen zu
überstehen. Aus welchen Gründen sollte man ihnen keinen
Glauben schenken? Aus welchen? Was bisher mit uns
veranstaltet worden war, das konnte der Auftakt zu jeder
Barbarei, zu jedem Verbrechen am Menschen sein. Daran war
nichts zu deuteln.
[Der Güterzug: Kriminelle "Amerikaner" foltern
wieder mit Schlägen - Rennerei und dann 3 Stunden
Wartezeit - Schläge für Helfer]
Eines Morgens war der Marschbefehl da. Vor den Toren des
Sportplatzes hüpften immer neue Kolonnen von
Kriegsgefangenen wie Frösche zu Boden. Wir hingegen
entfernten uns im Laufschritt durch einen rückwärtigen
Ausgang. Wohin, das ahnten wir nicht. Transatlantische
Schläger waren wieder in grosser Zahl angetreten, Cowboys,
die der Viehherde die Vokabeln aufs Fell trommelten und das
Sieger-Alphabet mit ihr repetierten. Auf einem hohen
Bahndamm war ein Güterzug vorgefahren. Den mussten wir ohne
Rücksicht auf eigene und fremde Körperteile im Sturm nehmen.
In drei Minuten hatten sich wohl tausend Mann an Bord
geschwungen. Bis zur Abfahrt war dann noch drei Stunden
Zeit. Man kennt ja doch den militärischen Terminkalender.
Wer sich als freiwilliger Helfer des Roten Kreuzes aufführte
und einem Schwerkranken auf den Wagen half, der wurde
reicher mit Schlägen bedacht. Mag sein, dass der Leser
dieses [S.51] ewige Gerede vom täglichen Prügeln langsam als
monoton empfindet, ich will es hinfort nicht mehr so oft
erwähnen. Nach ein paar Wochen hatte es auch für die aktive
Seite den Reiz der Neuheit verloren. Mag sein, dass die
Anhänger dieses Sports mit der Zeit einfach zu faul waren,
ihre Leichtathletik fortzusetzen.
[Die Marschverpflegung wird auf die Köpfe herabgeworfen -
das zerbombte Ruhrgebiet - kriminelle "Amerikaner" haben
alle Strassenlampen zerschossen]
Die offenen Güterwagen waren nun unser Hotel, für zwei Tage
und zwei Nächte, wie sich später herausstellte. [Andere
Transporte in Güterwagen konnten auch 10 bis 20 Tage dauern,
so wie es im April 1945 mit Häftlingen aus Buchenwald
geschah]. Der Himmel trübte sich ein. Wir hatten den Krieg
verloren und darum auf dem Transport auch Regen verdient. In
wenigen Stunden würde er da sein. Bevor die Räder vorwärts
rollten, prasselte ein Hagelschauer von kleinen Kartons auf
unsere Köpfe. Es war unsere Marschverpflegung, die übliche
halbe Frühstücksration für den ganzen Tag, die diesmal aus
leichtverdaulichen Nahrungsmitteln wie Keksen, Bonbons,
Schokoladetäfelchen und ähnlichem Zeug bestand. Getränke
waren nicht vorgesehen.
Nach wenigen Minuten wussten wir, es ging nach Westen, nicht
nach Stalingrad. Von der Beringstrasse bis zum Kap Horn
waren alle Möglichkeiten offen. Der Bahnkörper war ziemlich
verlottert. Kniehoch stand das Unkraut zwischen den
Schwellen. Keine Weiche, kein Signal war zu betätigen. Alle
Stellwerke waren ausser Betrieb. Was die Amerikaner nicht
zerbombt hatten, das hatten die Deutschen gesprengt. Mit
Mühe und Not war ein einziger Schienenstrang durch das
Ruhrgebiet fahrbar [S.52] gemacht worden. Nordamerikas
Füsiliere [Infanteristen] waren in den technischen
Vernichtungsschlachten nicht recht zum Zuge gekommen. Darum
hatten sie im Einzelfeuer sämtliche Porzellanglocken an den
Telegrafenmasten zerschossen. Es war ungemein geistvoll
anzuschauen.
Langsam rollte unser Zug durch diesen Campo Santo der
Schwerindustrie. Alle Räder standen still. Nicht eine
einzige Seilscheibe drehte sich auf den Zechen. Mehr Tod
konnte auch in Hiroshima, in Nagasaki nicht sein. Wer sollte
diese Kraterlandschaft mit ihren verbogenen Stahlgerüste und
zerfetzten Betonklötzen je wieder ordnen? Nein, da war ja
Feuerland oder Alaska besser.
[Eine Postkarte innerhalb Deutschlands dauert 4 Monate]
In Hamm machte der Zug längeren Aufenthalt. Ich warf einen
Zettel ab, mit der Bitte, meiner Frau eine Postkarte zu
schreiben. Der Finder befolgte meinen Wunsch. Die Karte kam
im September [1945] an. Ich war im August schon zu Hause.
Die Post war den Kamelreitern, die als Kuriere unter
Dschingis Khan ritten, hoffnungslos unterlegen. Wenn man an
den Perserkönig Xerxes denkt, dessen Eilpost für die Strecke
von Stockholm nach Messina dreieinhalb Tage brauchte, und
das vor 2500 Jahren, dann erkennt man erst die Fortschritte
des technischen Zeitalters, in deren Genuss wir im Jahre
1945 kamen.
[Kriminelle "Amerikaner" schiessen auf
Hitler-Bilder - kriminelle "Amerikaner" führen weiter ihre
Wasserfolter durch - Regen]
Ein Amerikaner hatte ein Hitlerbild auf der Plattform eines
Eisenbahnwagens aufgehängt. Er begann, es vor unseren Augen
mit der Pistole zu [S.53] beschiessen. Er war sichtlich
verärgert, als er keinen von uns zum Lachen brachte. Ein
bisschen spät war das, was er da trieb, weltgeschichtlich
gesehen. Tapfer war das nicht, auch nicht witzig. Der
Pfarrer Müller in Grossdüngen hatte es gewagt, einigen
Herzen einen Witz zu erzählen, als es noch gefährlich war,
Witze über Hitler zu verbreite. Roland Freisler schickte
diesen Priester, der wenige seinesgleichen an Eifer und
Charakterstärke hatte, auf die Guillotine. Davon wusste
dieser dumme Mensch aus Chicago oder Los Angeles natürlich
nichts, sonst hätte er möglicherweise begriffen, dass uns
seine läppischen Heldentaten völlig kalt liessen. Vielleicht
wäre er ein ganz respektabler SS-Mann oder Gestapo-Berater
geworden, wenn er das Licht der Welt in Mitteleuropa
erblickt hätte. Im übrigen interessierten wir uns mehr für
den Wasserhahn auf dem Bahnsteig. Er tropfte. Uns hingen die
Zungen fast bis zum Knie aus dem Hals wie den Schäferhunden
an einem heissen Sommertag. Aber da waren die Läufe zweier
Maschinenpistolen. Vorläufig war es noch besser, Durst zu
leiden. Später vielleicht -
Im Lauf des Abends gab es dann Wasser genug. Wahre Fluten
von Regen schlugen in unsere Wagen herein. Wir hielten die
seit zehn Tagen ungewaschenen Hände auf und liessen sie
vollregnen. Vielleicht tranken wir die Ruhr mit. Aber das
machte uns keine Sorge mehr. Wer zum Frachtgut des Todes
gehörte, der war schon gezeichnet [S.54].
[Kriminelle "Amerikaner" begehen massenweise Mord:
Massentod im nassen Güterwaggon]
Die Nacht war entsetzlich.
Das bisschen freie Bodenfläche war für die Kranken
reserviert, die sich nicht mehr auf den Beinen halten
konnte. Sie lagen auf Eisen und Holz, irgendwo unter uns,
unsichtbar in der nassen Finsternis, halb schwimmend im
Regenwasser, das der Himmel ohne Unterlass auf uns
herabschüttete. Hin und wieder drang ein fiebriges Stöhnen
zu uns herauf, von Kameraden, denen vor Kälte die Kinnladen
klapperten. Wer es nicht mehr aushielt, der konnte ohne
Schwierigkeiten sterben. Er brauchte sich nur hinzulegen und
allen Widerstand aufzugeben. Und viele machten in dieser
Nacht vom Sterben Gebrauch.
[Kriminelles SS-Regime: Massenmord von Russen in offenen
Güterwagen im Winter - Russen in Deutschland -
Hilfe ist Landesverrat]
Ein paar Jahre vorher waren auch Gefangene westwärts
gefahren. In ungeheizten Güterwagen bei schärfstem Frost
hatte man die Russen von der Ostfront nach Deutschland auf
die Reise geschickt. Da hatte der Tod Ernte gehalten wie
sonst nur in Pestzeiten des Mittelalters. Man überliess es
der Kälte, den Henker zu spielen. Semjon aus Sibirien hatte
mir einmal in gebrochenem Deutsch, aber in ungebrochenem
Groll davon erzählt. Er war in meiner 2-cm-Batterie
Hilfssoldat gewesen. Das war kein leichtes Leben. Die Russen
[im Dritten Reich] waren etwas mehr als Sklaven, aber etwas
weniger als Strafgefangene. Wir durften sie nur anschnauzen
und in den Hintern treten. Später, als die Lage ernster und
der russische Hilfssoldat wertvoller wurde, durfte sein
Hinterteil [S.55] nicht mehr getreten werden, aber jede
menschliche Beziehung blieb Landesverrat. Natürlich liessen
sich diese Richtlinien nur höchst mangelhaft durchführen.
Ich hatte mit Semjon ein Abkommen getroffen, das ich von
meinem Gewissen allein ratifizieren liess. Ich machte ihn
zum Dieb. Alle Lebensmittel, die sich im dritten Fach meines
Spinds befanden, durfte er stehlen. Er hatte sich im
Stammlager eine Magenkrankheit geholt. Ich konnte ihm hin
und wieder Weissbrot, etwas Butter, Pudding, ein paar Eier,
auch Medikamente verschaffen. Das darf er sicher in Russland
niemals erzählen, so wenig ich es im Dritten Reich jemand
ausser meiner Frau erzählen durfte. Das war doch
Landesverrat, wenn er sich aus dem Schrank eines Deutschen
etwas zu Essen nehmen durfte. Es ist schon schwierig, sich
als Mensch zwischen den Fronten ohne Lebensgefahr zu
bewegen.
[Die Rheinbrücke bei Duisburg - Bekannte Nowaks aus derselben
Stadt]
Irgendwann rollt der Zug über die Rheinbrücke in Duisburg.
Es soll die einzige am Niederrhein sein, die noch passierbar
ist. Damit wäre uns der Fluchtweg in rechtsrheinisches
Gebiet so gut wie abgeschnitten. Denn wie sehen wir aus?
Kein entlassener Zuchthäusler, kein Zigeuner, kein Strolch
würde sich mit uns auf der Strasse sehen lassen. Aber wollen
wir denn fliehen? Ist bisher schon einer geflohen? Ich
glaube nicht, dass einer von uns sich überhaupt schon
Gedanken darüber gemacht hat, ob es eine Möglichkeit gab,
das Schicksal zu ändern. Vorläufig taten wir nichts, wir
warteten ab [S.56], was mit uns geschehen sollte. Jenseits
der Rheinbrücke horche ich ein paar Minuten auf das
Geschwätz, das zwei Männer neben mir im Morgengrauen führen.
Sie wohnen in derselben Stadt wie ich. Der eine erzählt,
dass er Setzer in einem Zeitungsverlag sei. In welchem
Verlag, frage ich ihn. Es stellt sich heraus, dass es
derselbe Betrieb war, in dem ich selbst mehrere Jahre lang
tätig gewesen war. Ich müsste den Mann doch eigentlich
kenne. Er müsste sich meiner entsinnen, obwohl es allerdings
zwölf Jahre her war, dass ich im Frührot des Dritten Reiches
die Redaktion verlassen hatte. Wie er denn heisse? Wie ich
denn heisse? Natürlich kannten wir uns. Aber das wüste
Gestrüpp um Lippen und Kinn hatte uns so entstellt, dass wir
uns erst einander mit Namen vorstellen mussten.
[Wieder Verpflegung auf die Köpfe herabgeworfen - Ausgang
mit Drohung von Maschinenpistolen - Pfeifkonzert am
Bahnhof Reinberg]
Die Sonne geht auf. Es gibt wieder zu essen. Abermals ist
es, als werde eine Tüte Erdnüsse über einem Affenkäfig
ausgeschüttet. Der Zug hat angehalten. Jetzt, da der Rhein
hinter uns liegt, wird uns erstmals auf freiem Gelände
gestattet, auszusteigen und ein paar Schritte abseits zu
tun, wobei uns von allen Seiten die Mündungen der
Maschinenpistolen drohen. Stundenlang liegen wir dann vor
dem Bahnhof Rheinberg. Es findet ein wilder, uns völlig
unverständlicher Austausch von Pfeifsignalen statt. Sie
müssen alles ersetzen, was vorher Stellwerke, Telefon- und
Telegrafenanlagen leisteten [S.57].
Wir stehen, von der Morgensonne beschienen, in den
Güterwagen, nass, hungernd, frierend, zitternd, Europas
jämmerlichster, von Gott und allen guten Geistern
verlassener Haufen.
An diesem Morgen vor Rheinberg, waren wir erstmals fertig
und glaubten an keine Zukunft mehr. Wir hatten in den zwei
Nächten die letzten Reserven verbraucht [S.58].
Quellen
Fotoquellen
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