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Josef Nowak: Das
Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 6: Endstation
Rheinberg
"Amerikanische"
Folter mit Rennerei und Schlägen -- Bombardierung
der Tanklager von Misburg - Häftlinge und
Löschzüge -- die Wiese -- die Dauerfolter der
kriminellen "Amerikaner" in einem Lager ohne
nichts
aus: Josef Nowak: Mensch auf den
Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat
präsentiert von Michael Palomino (2013)
[Kriminelle "Amerikaner":
Wieder Folter mit Rennerei und Schlägen - der nächste
Acker wird zertrampelt]
Come on! Snell! Snell! Snell! Snell!
Von allen Wagen springen die Gefangenen auf den Bahndamm
herunter, stolpern, fallen, kommen wieder auf die Beine,
stossen sich die Böschung hinunter, knicken in den
Fussgelenken um, stürzen übereinander, raffen sich wieder
auf, stürmen vorwärts, ballen sich zu zappelnden Knäueln
zusammen, lösen sich auf, drängen sich, schieben sich. Wer
hinten ist, flieht vor den Schlägen nach vorn. Wer vorn ist,
läuft geradeaus, irgendwohin, ins Leere hinein, jeden
Augenblick gewärtig, dass das Maschinengewehrfeuer
beginnt. Es sieht aus, als ob eine Büffelherde über
die Prärie gehetzt würde.
-- Snell! Snell! Snell! Snell! Damit ist der Sprachschatz
der Treiber erschöpft.
[1944ca.: Erinnerungen an die Bombardierung von
Tanklagern in Misburg bei Hannover - Häftlinge in
Zebra-Uniformen und Löschzüge]
Wo habe ich bloss eine solche Hetzjagd schon einmal gesehen?
In Misburg war es. Nicht weit von dieser Stadt, deren
Strassen immer mit Zementstaub gepudert sind, war meine
Batterie aufgebaut. Sie hatte die Ölraffinerie zu schützen.
Eines Tages war ich als Kurier in Hannover gewesen und
kehrte auf dem Fahrrad in die Stellung zurück. Gerade als
ich den Stadtrand von Misburg erreiche, heulen die Sirenen
auf. Ich weiss, was das bedeutet. Der Bombenangriff ist
schon im Gange. In der Raffinerie wird die [S.64] Arbeit
nicht niedergelegt, bevor die ersten Pulks die
Bombenabwurfgrenze erreicht haben.
Ich trample eben mit höchster Geschwindigkeit am Haupttor
des Ölwerks vorbei, als dieses sich langsam öffnet, breit,
immer breiter. Und dann wälzen sich ganze Heersäulen von
Menschen in gestreifter Kleidung heraus. Einfache
Strafgefangene sind dabei und Zuchthäusler, aber auch
KZ-Häftlinge aller Rangklassen. Ich kenne mich in den
Zebra-Uniformen des Elends und der Schande nicht aus. Erst
viel später habe ich erfahren, dass die echten Verbrecher
einen grünen Streifen hatten, die Politiker einen roten, die
Juden einen gelben, die Bibelforscher einen blauen, die
Homosexuellen einen violetten.
Diese erniedrigte Masse Mensch rennt um ihr Leben.
Angstverzerrt sind die Gesichter. Todesnot glüht in den
Augen. Ist denn auch dieses Leben noch kostbar, noch
rettenswert? Die Sklavenhorden des Diktators werfen sich
verzweifelt in die Strassen, als brenne die Erde schon
hinter ihnen. Sie wissen, die Bomben sind unterwegs,
rauschen und gurgeln schon über ihren Köpfen.
Pfui Teufel, jetzt sehe ich auch gestreifte Frauen -
Ich muss absteigen. Nein, das ist falsch, ich kann nicht
mehr fahren, bin eingeschlossen, nur noch ein hilfloses
Stück Leben in diesem menschlichen Wirbelsturm. Ich kann
nichts mehr sehen ausser Köpfen und Schultern. Gleich werden
sie mich tottreten. Warum sollten sie es nicht tun? Nein, da
[S.65] ist keine Spur von Feindschaft, von Hass. Gewiss
halten sie mich für einen anders uniformierten, aber ebenso
armen Hund. Und jetzt denken sie an ihr eigenes Leben, nicht
an das meine.
Nun aber machen sich die Faktoren der Ordnung geltend. Ganze
Wagenladungen von SS-Männern werden in die Strassen gespien.
Zehn, zwölf, zwanzig Löschzüge brausen heran. Hier geht es
um den Lebenssaft für die Ostfront. Polizeitrupps,
Bautrupps, Sanitätstrupps tauchen an allen Ecken und Enden
auf. Rettet die Öltanks, die Maschinen. Der Führer will es.
Misburg darf nicht zerstört werden. Was da oben in 8000
Meter Höhe sich nähert, das ist der Vortrab einer ganzen
Bomberdivision. Sie werfen nicht schlecht. Ein Öltank nach
dem anderen geht hoch. In roten und schwarzen, immer breiter
werdenden Flammenspiralen, die sich Hunderte von Metern
hochdrehen, verbrennt das Öl.
Ich benutze die erste Gelegenheit, um nach der Seite aus dem
Gewühl der Gehetzten auszubrechen und auf das freie Feld zu
gelangen. Mich lässt die SS passieren. Ich schwinge mich auf
mein Rad, sause fort über Stock und Stein, quer durch die
Viehkoppeln, haarscharf an alten und frischen
Bombentrichtern vorbei, immer ostwärts, nur fort aus dieser
Hölle. Dass es sie geben sollte, hatte man mir schon gesagt.
Jetzt hatte ich sie erstmals gesehen, die gestreiften
Totentänzer von Misburg.
[Rheinberg: Wo ist das Lager? - Es ist die Wiese selber]
Hier in Rheinberg kann ich nicht nach der Seite [S.66]
ausbrechen. Diesmal gehöre ich selbst zu den Gestreiften,
obwohl ich damals Anspruch auf den roten Streifen
[politischer Häftling] gehabt hätte und heute darum frei
sein müsste. Aber das kümmert die terribles simplificateurs
[schreckliche Leute mit beschränktem Denken] von Übersee
nicht. Wenn es in Lessings Nathan hiess: "Tut nichts, der
Jude wird verbrannt", dann heisst es hier: "Tut nichts, der
Deutsche wird eingesperrt und geprügelt."
Das darf man den Leuten nicht einmal übelnehmen. Sie hatten
ihre Richtlinien, ihre Kategorien, ihre Rassen- und
Klassenlehre mitgebracht. Sie hielten an ihren politischen
Dogmen fest wie das Konzil von Nicäa an der Wesensgleichheit
Christi mit Gottvater.
Ich treibe mit den anderen dahin in einer unwiderstehlichen
Woge. Wo zum Teufel ist denn dieses gottverdammte Lager
Rheinberg? Irgendwo muss es doch liegen. Keine Baracke ist
zu sehen, kein Zelt, kein Bretterzaun, nicht. Also
Fussmarsch? Wie weit? Wohin? Hinten rechts, ganz weit weg
wird ein graues Wogen sichtbar. Sind das etwa auch - - - Ja,
es sind Gefangene. Aber wie viele? Grosser Gott, ist denn
hier die ganze deutsche Armee zusammengelaufen? Drüben links
sieht es genauso aus. Da hat sich wieder eine Heeresgruppe
versammelt.
Hin und her, von Horizont zu Horizont fluten die
unübersehbaren Horden der Gefangenen. So muss es in Lappland
zugehen, wenn die Rentiere in Bewegung kommen. Plötzlich
bricht die brandende [S.67] Woge in sich zusammen, macht
Halt, drängt mit Gewalt zurück. Lastwagen mit flinken Negern
umkreisen uns, lassen den Stacheldraht wie eine
Riesenschlange abrolle. Die brodelnde Masse orientiert sich,
strömt nach der entgegengesetzten Richtung ab und flutet
nach einiger Zeit wieder gegen Lastwagen, flinke Neger und
Stacheldraht.
Jetzt begreift sie auch langsam, was ihr geschieht. Sie wird
eingezäunt. Hier ist Rheinberg, auf diesem uferlosen
Kleeacker. Hier ist das Lager, unter unseren Füssen, die in
frischem Gras, in junger Saat stehen. Hier ist das 20.
Jahrhundert dabei, einen neuen Superlativ zu gebären, das
grösste Gefangenenlager aller Zeiten.
[Kriminelle "Amerikaner": Dauerfolter gegen
Deutsche mit einem Lager ohne nichts]
Die Neger kommen rüstig vorwärts. Sind sie bei Himmler, bei
Berija in die Schule gegangen? Oder gehört dieses
Drahtziehen ganz einfach zu den Fähigkeiten des technischen
Zeitalters? Schneller als Gestapo oder NKWD richten die
Amerikaner ein Straflager für eine Viertelmillion Menschen
ein. Nun, so schwer ist das auch wieder nicht. Wenn man von
vornherein auf Unterkünfte, auf Licht, auf Küchen, auf
Wasser und sogar auf Latrinen verzichtet und mit
motorisiertem Stacheldraht arbeitet, dann sind die
Möglichkeiten unbegrenzt, so gewiss sie auch eingezäunt
werden.
Da feiern wir nun also die erste Rheinberger Nacht, dicht am
Busen der Erde ruhend und den Sternenhimmel als Deckbett
über uns. Wir liegen da wie das ausgespiene Gewölle des
[S.68] Universums, wie welkes Laub, zu Bergen vom Wind
zusammengeblasen.
Wir fühlen, dies hier ist der menschliche Schuttabladeplatz
nach der Katastrophe, und wir sind der Müll, der aus den
zertrümmerten Städten hinausgefahren und zur Seite geworfen
ist [S.69].
Quellen
Fotoquellen
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