|
|
![]()
![]()
ENGL
<< >>
Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 19: Arme, kleine Bestie Mensch
Gedanken an Frauen gab es im Lager kaum -- kriminelle "Amerikaner" verpassen alle Chancen, sich gut darzustellen -- deutsche Lagerpolizei und deutsche Köche -- Rebellion gegen einen deutschen Koch im Ruhrgebiet 1918 -- Hungererpressung der Amis verhindert Rebellion in Rheinberg -- der Pfarrer am Zaun und die Pakete der Baronin -- englische Lagerführung ohne Sonntags-Hungerfolter -- dunkles Weizenbrot -- Darmprobleme und weisse Menschen mit Kreislaufstörungen -- Granit im Darm -- Sanitätszelt ohne medizinische Instrumente
aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat (1956)
präsentiert von Michael Palomino (2013)
Teilen
/ share: |
Facebook |
|
Twitter
|
|
|
[Gedanken an Frauen gab es im Lager Rheinberg kaum]
Und führe uns nicht in [sexuele] Versuchung - so hat der Herr selbst uns beten gelehrt. Er kannte die Tiefen und Untiefen der Menschennatur.
In Rheinberg wurden wir täglich in Versuchung geführt. Das sechste Gebot freilich war zu völliger Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. Die endlosen Variationen über ein schmutziges Thema, dem Soldaten aufs beste vertraut, waren verstummt. In den 16 Wochen meiner Gefangenschaft hörte ich keine Zote, keinen Scherz oder Witz, der das berüchtigte Soldatenthema Nr. 1 betroffen hätte. Das alles war aus den Gehirnen ausradiert, als sei es nie dagewesen. Natürlich dachten wir oft an die Frauen. Aber das waren dann immer Geschöpfe, die zu kochen verstanden, die ein anständiges, warmes Essen auf einen sauberen Tisch brachten, die ein freundliches Heim in Ordnung hielten, Kleider und Wäsche in Pflege nahmen, die liebenswürdig, menschlich, gütig waren. Alle anderen Vorstellungen hatte der Hunger ausgelöscht. Der Frau waren nur die mütterlichen, die schwesterlichen Züge ihres Wesens geblieben.
[Die kriminellen "Amerikaner" vergeben alle Chancen, sich gut darzustellen]
Dennoch wurden wir täglich in Versuchung geführt: zu hassen, zu fluchen, zu stehlen, zu betrügen, zu morden, an Gott und der Welt zu verzweifeln, nie wieder einem Menschen zu glauben und [S.172] das ganze Geschmeiss in Bausch und Bogen zu verachten und im Geiste hinzurichten. Die Amerikaner und später auch die Engländer hätten genug Gelegenheit gehabt, etwas für die Moral zu tun. Im Lager waren dringende Arbeiten zu leisten. Auch ausserhalb des Lagers wäre mancher wichtige Dienst zu verrichten gewesen. An freiwilligen Hilfskräften hätte es nicht gefehlt. Sie hätten nichts verlangt als mehr und besser zu essen. Der Tagelohn bestand aber nur aus einem schmalen Stück trockenen Brotes. Das war zu wenig, um den Ofen zu heizen [um den Körper in Bewegung zu bringen]. Nach wenigen Stunden waren wir zu schwach, um Hacke oder Schaufel zu heben. Darum war Arbeit nicht geschätzt. Sie stellte nur eine weitere Möglichkeit dar, schneller zu sterben.
[Deutsche Lagerpolizei und deutsche Köche für die kriminellen "Amerikaner" - den deutschen Kriegsgefangenen bleibt nur der Duft]
Die Amerikaner - und nach ihnen die Engländer - unterhielten eine deutsche Lagerpolizei. Sie setzten auch deutsche Köche ein und Lebensmittelverwalter dazu. Polizisten und Köche hausten in einem besonderen Drahtkäfig innerhalb des Camps. Während uns das Fleisch von den Knochen fiel, wurden sie fett. Sie brauchten bald neue Hosen, weil ihre Schenkel und Hinterteile zu stramm wurden. Das war für sie kein Problem. Sie verwalteten auch die spärliche Garderobe, die mit der Zeit ins Lager hereinkam. Sie setzten uns erstklassige Wassersuppen vor und brieten sich selbst Rührei aus Milch- und Eipulver. Wenn wir am Küchenzaun standen, bekamen wir wenigstens den Duft in die Nasen. Dann wankten wir in unsere Löcher zurück [S.173] und frassen den Kaffeesatz auf, von dem uns ein menschenfreundlicher Koch eine Konservendose voll ausgehändigt hatte.
[Deutsche Lagerpolizei und deutsche Köche werden fett - und sind Mitglieder der führenden "Oberschicht" im Lager]
Nein, diese dicken Schufte dachten nicht an ihre Kameraden. Wölfe und Hyänen tun das ja auch nicht. Sie mästeten sich wie die Schlachtschweine und entzogen unserer Nahrung das bisschen Kraft, das mit Genehmigung der Besatzungsmacht noch darin war. Amerikaner und Engländer hatten dabei das beste Gewissen. Sie konnten sich immer darauf berufen, dass gegen ihren Willen Deutsche von Deutschen beraubt würden. Polizisten und Köche rechneten sich selbst zur herrschenden Oberschicht. Darum konnten sie es sich erlauben, Aasgeier zu sein. Uns dagegen regierten sie mit Strenge. Wenn sie einen kleinen Dieb erwischten, wurde er sofort grausam bestraft. Wenn die Mittagssuppe verteilt war, gab es oft noch einen Nachschlag, der einen Bruchteil der Hauptration darstellte. Auch dieser war in der Regel durch 20 zu dividieren. Wehe dem, der versuchte, aus dem Nachschlag einen Schluck mehr für sich zu ergattern. Ein hungriger Oberst hatte einmal dieses Verbrechen begangen. Vielleicht wollte er sich kurz vor seinem Hungertode noch einmal sattessen. Die Polizisten hingen ihm ein Schild um den Hals mit der Inschrift:
"Ich habe meine Kameraden bestohlen!"
Sie sperrten ihn drei Tage lang in einen Hundezwinger aus Draht, in dem er nicht aufrecht stehen konnte. Zu essen bekam er drei Tage lang [S.174] nichts. So verfuhren die vollgefressenen Lagerbonzen mit ihm, die Kerle, die uns täglich unserer Notdurft beraubten. Mit ihnen verglichen waren Piraten und Strauchritter als eine Elite zu betrachten. Sie genossen aber das volle Vertrauen der alliierten Truppen. Sie waren selbst alliiert mit der Gemeinheit. Es war im Lager so, wie es überall ist. Die kleinen Diebe werden gezüchtigt, während die grossen Spitzbuben sich bei den Mächtigen einigen Ansehens erfreuen. Immerhin, wären wir freie Männer gewesen - - -
Wir waren keine freien Männer. Lagerköche und Lagerpolizei waren für uns das, was bis vor kurzem Geheime Staatspolizei und Ernährungsämter gewesen waren.
[Erinnerungen an 1918 in einem Ledigenheim im Ruhrgebiet nach 1918 - die Rebellion gegen einen deutschen Koch]
Nach dem ersten Weltkrieg war ich länger Zeit Bergarbeiter im Ruhrgebiet gewesen. Ich hatte im Ledigenheim gewohnt. Das war damals keine sehr vornehme Herberge, es war der Sammelplatz gescheiterter Existenzen. Dort überwinterten Strolche und Landstreicher, Zigeuner und anderes, fahrendes Volk, Studenten, Handwerker aller Art, die keine andere Arbeit mehr finden konnten, Polen, Kroaten, Slowenen, Schwaben, Bayern, Ostpreussen, Schlesier, Ungarn, Vorbestrafte, Messerstecher, Nationalisten und Kommunisten. Es war eine Masse ohne Gestalt und Hoffnung, die sich scharf abhob von dem bodenständigen Stamm der Bergleute, der kraftvoll, sauber, pflichtbewusst war und an Moral und Disziplin unter der Arbeiterschaft [S.175] seinesgleichen nicht hat. Der freundschaftliche Umgang mit diesen Männern gehört für immer zu meinen schönsten Erinnerungen. So stark war seine formende Kraft, dass selbst die wilde Horde im Ledigenheim noch etwas von seinen Gesetzen und Mannestugenden in sich aufnahm. Keinem, auch dem lumpigsten unter ihr, wäre es jemals eingefallen, den Schacht zu verlassen, solange noch Menschen verschüttet oder sonst wie in Gefahr waren.
Eines Abends kam ich todmüde ins Ledigenheim nach einer schweren Schicht. In dumpfem Schweigen hockten die Männer in der Menage an den Tischen, ganz nach vorne gebeugt, weil die Stühle gleich denen beim Kommiss keine Lehnen hatten. Ich holte mir an dem schwer armierten Küchenfenster mein Futter, schaute es an, nahm einen Löffel voll davon, spuckte es aus. Es war der reinste Buchbinderkleister, aus erdgrauen Kriegsnudeln gekocht. Kein Schwein hätte ohne Not seinen Rüssel hineingesteckt. Ich stülpte den Blechnapf um auf den Tisch. Wohlgeformt und spiegelglatt sass der Leimkuchen auf der Platte. Dies war das Zeichen zum Aufruhr.
Armselige Intelligenzler, die am Schreibtisch Revolutionen ausarbeiten, weil ihnen der Instinkt und die Fähigkeit fehlen, am rechten Platz und zur rechten Stunde das Rechte zu tun. Wo Spannung ist, da muss es blitzen. Und dann kommt auch das Donnerkrachen von selbst. Bewegung kam in die stumpfen Reihen. Andere Männer [S.176] stülpten, meinem Beispiel folgend, die Näpfe um, packten ihre Löffel, klebten den widerlichen Brei an die Decke, an die Wände, an die Fenster, auf den Fussboden, auf Hocker und Tischplatte. Dann stürmte die Menge zum Ausgang, johlte über den Hof, brach in die Wohnung des Menagemeisters ein, riss ihn aus dem Bett, schleifte ihn über den Hof durch Schlamm und Pfützen, treppauf, treppab dann durch das Haus bis in die Küche. Dort wurde er auf die Beine gestellt. Dort wurde ihm Nudelbrei über Haar und Gesicht geschüttet. Dort wurde er niedergeschlagen, aufgerichtet, niedergeschlagen, getreten, gewürgt. So müssen Männer mit denen umgehen, die ihnen die Nahrung stehlen. Das hatte der Bursche getan. Er hatte die ihm von der Zeche gelieferten Lebensmittel unterschlagen und billigen Dreck für uns eingekauft. Am nächsten Morgen wurde er zum Teufel gejagt. Die Aristokratie der Spitzbuben hält sich nicht lange, wenn man sie mit der Faust anfasst.
[Die Hungererpressung der kriminellen "Amerikaner" lässt keine Rebellion gegen kriminelle, deutsche Köche zu]
Hier in Rheinberg waren wir hilflos, rechtlos, tatenlos. Hätten wir einen von den fetten Amtswaltern zerstampft, man hätte nicht nur die Rädelsführer oder solche, die man dafür hielt, bestraft, das ganze Camp hätte eine Woche lang nichts zu essen erhalten. An Verrätern hätte es gewiss nicht gefehlt. Um ein Stück Brot hätte Judas in Rheinberg immer eine unabsehbare Gefolgschaft gefunden.
Die Lagerpolizei beschränkte sich darauf, Küche und Köche und ihr eigenes Fressprivileg zu beschützen [S.177]. Ein Berufsrisiko kannte sie nicht. Ihre Autorität beruhte auf den Maschinenpistolen der fremden Soldaten. Der Polizist entsprach dem Capo im Konzentrationslager. Die Menschen und die Institutionen gleichen sich immer und überall.
[Der Pfarrer vom Zaun - die Botschaft an die Baronin von L. - drei Pakete - Engländer verteilen und stehlen Pakete]
Als ich eines Nachmittags am Zaun stand, hinter dem draussen die Landstrasse lag, sah ich einen Pfarrer vorüberwandeln. Sollte das der Pfarrer von Rheinberg sein? Sollte er die mir befreundete Baronin von L. kennen? Ich rief ihn an. Er war es. Er kannte sie. Schnell kritzelte ich ein paar Worte auf ein Stück Papier, wickelte es um einen Stein und warf diesen in hohem Bogen über den Zaun. Der Pfarrer hob den Kassiber [Geheimnachricht] auf, steckte ihn in die Tasche und winkte mir aufmunternd zu. Ich wusste, dass die Baronin mich nicht im Stich lassen würde. Unsere Freundschaft war erprobt. Wir hatten zusammen schuldlose Menschen vor dem Konzentrationslager bewahrt. Wir hatten Menschen, die ohne Schuld in den Zuchthäusern des Diktators [Hitler] sassen, herausgeholt. Wir hatten mehr als einmal Kopf und Kragen riskiert. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass diese Frau an persönlichem Mut mich und tausend andere Männer, die immer zu einem Risiko bereit waren, in den Schatten stellte.
Am nächsten Morgen war die Baronin mit einem Riesenpaket da. Ein stämmiger Bauer erbot sich, für die den Wurf zu tun. Er war noch bei Kräften, dieser rheinische Bauer. Das Geschoss sauste hoch über beide Zäune hinweg [S.178]. Ursache zu danken hatte ich allerdings nicht. Ich erwischte nicht einmal einen Fetzen Papier. Wie Fussballspieler von internationalem Format stiessen die Oberfeldwebel, Hauptwachtmeister, Korporäle und Obergefreiten in die Höhe. Dutzende von menschlichen Krallen hackten in das Paket ein, zerrissen es hoch über dem Boden, streuten den Inhalt nach allen Seiten auseinander. Als ich, gewiss doch nicht ganz ohne Recht, einen Bissen zu schnappen versuchte, traten sie mich nieder, die Herren Kameraden.
Ich stand wieder melancholisch am Zaun und brüllte meine Enttäuschung zu der Baronin hinüber. Weiss Gott, es war leichter gewesen, Liebesgaben in Hitlers Zuchthäuser hineinzuschmuggeln. Es war sogar leichter gewesen, an den Agenten der Gestapo vorbei einen Pfarrer aus Berlin oder Leipzig nach Westen und über die holländische Grenze zu bringen.
Die Baronin kam am folgenden Tag wieder, diesmal schon morgens um 7 Uhr. Auch das war zu spät, wenn ich auch dieses Mal eine zerquetschte, halbe Brotscheibe zu fassen bekam. Etwas mutlos bat ich, doch schon morgens um 4 Uhr zu kommen. Und dann erschien tatsächlich eine junge Dame, Baroness Marierose, vor Sonnenaufgang am Draht. Gott segne den Tennissport, für den ich bis dahin nicht viel übrig gehabt hatte. Aber er verleiht einem Mädchenarm kraft. Jetzt endlich konnte ich in Empfang nehmen, was mir zugedacht war. Und [S.179] mit mir konnten das die drei Männer tun, die mit mir im Loch lagen. Später erlaubten die Engländer, dass die Pakete regelrecht mit Anschriften versehen abgegeben und verteilt wurden. Wenn sie verteilt wurden - - -
[Englische Lagerführung ohne Sonntags-Hungerfolter - dunkles Weizenbrot - tägliche Rationen - grosse Darmprobleme und die Todesschwelle - Kameradendiebstahl]
Einige Zeit vor dieser ersten freiherrlichen Lebensmittelspende war ich ernstlich erkrankt. Die Engländer, die in der Halbzeit unserer Rheinberger Gefangenschaft das Lager übernommen hatten, kannten, obwohl sie doch wahrlich als strenge Sonntagsheiliger bekannt sind, die amerikanische Art der Sonntagsheiligung nicht. Sie gaben uns auch am Sonntag zu essen, zwar auch nicht genug, aber doch besser und reichlicher. Sie führten sogar um den 60. Tag herum den Genuss des Schwarzbrots ein, dass wir fast ausser Rand und Band gerieten. Es war allerdings kein echtes Schwarzbrot aus kernigem Roggen, sondern nur ein aus vollausgemahlenem Weizenmehl gebackenes Brot mit viel Schliff [vielleicht Pumpernickel]. Dennoch nährte es seinen Mann besser als das hostienblasse Weizenbrot der Amerikaner. Die Engländer gaben täglich Päckchen aus, die Kekse, Schokolade, Plumpudding, Käse, Butter, recht gute und fette Suppenwürfel und Tee enthielten, Tee in Würfeln, die auch gleich Sahne und Zucker spendeten. Immerhin, - alle diese Genüsse waren ohne Mühe nach der Verteilung in einer Kaffeetasse unterzubringen. War das Holz knapp oder der Appetit zu gross, dann assen wir die Teewürfel gleich roh auf.
Nun trat das Gedärm in den Generalstreik [S.180], bei mir 16 Tage lang. Schon vorher waren die Kreislaufstörungen schlimm geworden. Hände und Füsse wurden kalt, wurden weiss, als seien sie erfroren. Füsse und Beine schmerzten, als seien sie mit Knütteln zerschlagen. Und nun war auch der Darm wieder gelähmt. Ich stand nicht mehr auf. Ich blieb liegen zum Sterben. Ich hauste damals mit wildfremden Brüdern zusammen. Wir besassen zusammen einen dünnen Regenmantel, eine Wolldecke und eine Zeltplane. Wir hatten eine flache Mulde in den Boden gekratzt. Die Zeltplane diente als Matratze. Mit Mantel und Decke schützten wir uns notdürftig vor Regen und Kälte. Am Kopfende der Mulde standen unsere Habseligkeiten, zwei oder drei Konservendosen verschiedener Grösse, ein paar Löffel voll Zucker, ein paar Kekse, ein Stück Brot darin. Noch waren wir nicht so tief gesunken, dass wir unseren Futtervorrat wie die Tiere vergruben.
Ich lag schon ganz apathisch da, nahm kaum noch Notiz von dem, was um mich herum geschah. Am ersten Tag hatten mir die Kameraden noch meine Ration gebracht. Am zweiten Tag erhielt ich nichts mehr. Es war mir auch gleichgültig. Am dritten Tag sah ich zwischen halbgeschlossenen Liedern, dass die Kameraden wie die Füchse zu meinen Dosen schlichen. Flink holten sie mein Brot, meinen Zucker, meine zwei gekochten Kartoffeln aus den Büchsen und verschlangen alles vor meinen Augen. Dem einen war sichtlich nicht wohl [S.181] dabei. Er hätte lieber gewartet, bis ich tot war. Dann aber wäre er sicher zu kurz gekommen. Der andere hatte ein robusteres Gewissen. Nachdem er mich meiner erbärmlichen Vorräte beraubt hatte, riss er mir mit schnellem Griff meinen Regenmantel vom Leib.
[Der Gang zum Sanitätszelt - Granit im Darm - keine medizinischen Geräte]
So war das also. Die Erde begann schon ohne mich zu rotieren. Wann würde der Kerl mir die Strümpfe, die Hose, den Rock ausziehen? Lange konnte auch das nicht mehr dauern. Ich war schon aus dem Buch des Lebens gestrichen. Jetzt erwachte in mir der Trotz. So einfach wollte ich mich nicht abschreiben lassen. Es konnte doch nicht im Ermessen dieser Strassenräuber liegen, ob ich noch ein Recht zu leben hätte oder nicht. Ich raffte mich auf, kam stöhnend auf die Knie, dann auf die Beine, beschloss mit unklarem Kopf, mein Heil im Sanitätszelt zu versuchen, gelangte schliesslich auch dorthin. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich zu sprechen vermochte, bis ich überhaupt merkte, dass sich ein gutes Gesicht über mich beugte. Das Wesen der Krankheit hatte der Arzt schon halb erraten. Wir hatten ja doch nur ein paar Standardkrankheiten. Dann begann eine Kur, deren ich mich nur noch mit einiger Mühe erinnere. Man gab mir Öl zu schlucken und verabfolgte mir zwei Klistiere. Es war alles umsonst. Kann man Granit mit Öl bewegen? Kann man den Mörtel im Mauerwerk mit Klistieren aufweichen?
-- Das ist ja schlimmer als in einem Steinbruch! [S.182]
So hörte ich den Arzt sprechen. Und dann machte er sich an die Arbeit. Sein Instrumentarium war mehr als kümmerlich. Der Schweiss rann ihm von der Stirn, als er mich endlich auf den Rücken wälzte.
-- Versuchen Sie es das nächste Mal doch mit Eisenbeton!
Er konnte schon den Humor verlieren, dieser Mann, der ohne Apotheke, ohne antiseptischen Schutz, ohne gekochte Instrumente Tausenden von Gefangenen das Leben gerettet hat. Wir wussten nicht einmal, wie er hiess.
-- Bleiben Sie noch ein paar Stunden ruhig liegen. Ich denke, Sie werden noch einmal ohne Schaden durchkommen.
Ich verlangte meinen Zucker, meine Kartoffeln und mein Brot nicht zurück. Ich nahm nur schweigend meinen Mantel an mich und ging fort, um mit Gottes Hilfe eine bessere Gesellschaft zu finden [S.183].
Teilen
/ share: |
Facebook |
|
Twitter
|
|
|
Quellen
Fotoquellen
^