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Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg

Kapitel 20: Volkswirtschaftlicher Lehrgang

Der britische Filter -- Verschiebung von Gefangenen von der Ami-Zone in die britische Zone und umgekehrt -- Einführen von Pfandspielen und Börse und Tauschhandel -- Abzug von Landarbeitern, Bergbauarbeitern und Verwaltungsbeamten

aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat (1956)

präsentiert von Michael Palomino (2013)
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[Kriminelle "Amerikaner": Abschied ohne Gruss - englische Registrierung, um NSDAP-Mitglieder herauszufiltern]

In der ersten Hälfte des Monats Juni [1945] zogen die Amerikaner ab. Weder der Kommandant noch seine Offiziere oder Soldaten machten uns einen Abschiedsbesuch. Sie verschwanden einfach von der Bildfläche. Wir hätten sie auch bestimmt nicht zu längerem Verweilen aufgefordert. Nach den Amerikanern kamen die Engländer. Wir begriffen bald, dass es da draussen so etwas wie eine amerikanische und britische Zone geben müsse. Nun wurden wir erstmals registriert. Welche Seligkeit! Wir wurden in die Kulturwelt eingegliedert und durften zu diesem Zweck einen Fragebogen ausfüllen. Man nahm Kenntnis von unserer fragwürdigen Existenz. Man hielt es für der Mühe wert, die graue Masse in Personen aufzugliedern. Welchen Sinn sollten die Fragebögen sonst haben? Erst viel später begriffen wir, dass dieses Fragebogen-Manöver nur dazu diente, die ehemaligen Nationalsozialisten zum Ortsgruppenleiter aufwärts in ein Straflager zu versetzen.

[Gefangenenaustausch zwischen Remagen und Rheinberg - Zwangsarbeit für Deutsche aus "russischer Zone" in Benelux-Ländern und Frankreich]

Es schien bald so, als sollten die in der britischen Zone wohnhaften Gefangenen irgendwie enger mit der britischen Besatzung verbunden sein. Denn bald darauf zogen die in der amerikanischen Zone Behausten ab, siedelten nach Remagen um, während [S.184] die deutschen "Grossbritannier" von dort nach Rheinberg verfrachtet wurden. Wo aber bleiben die "Russen"? Es schien auch eine russische Zone zu geben. Die dort Beheimateten schienen heimatlos zu sein, wenn auch schon ein Gerücht wissen wollte, sie würden demnächst den Russen ausgeliefert. Ein anderes Gerücht besagte, dass dies eben nicht geschehen solle. Vielmehr sollten die deutschen Staatsbürger russischer Zone nach Belgien, Holland und Frankreich zur Zwangsarbeit fahren. An diesem Gerücht war später viel Wahres.

[Remagen-Gefangene führen Pfandspiele und Börse ein - Kunsthandwerk in Rheinberg]

Mit dem Einmarsch der Männer aus Remagen begann in Rheinberg ein volkswirtschaftlicher Lehrgang, in dessen Verlauf wir uns grundlegende Kenntnisse für das ganze Leben erwarben, auch wenn wir weniger oder gar keinen Sinn für Währung, Geldumlauf und Umsatz von Verbrauchsgütern gehabt hatten. Die Leute aus Remagen brachten nicht nur Spielbanken die Menge mit, sondern auch eine regelrechte Börse, an der täglich die Mark bewertet und notiert wurde.

Bis dahin war Rheinberg fast idyllisch gewesen. Wie knapp auch das Holz und die Pappe war, wie wenig Taschenmesser auch verfügbar waren, oftmals waren kleine Meisterwerke der Schnitzerei entstanden. Tischler, Drechsler und Kunsthandwerker hatten Schachspiele, Dosen, Bestecke und andere hübsche Sachen aus Holz, und Blech hergestellt, gehämmerte, getriebene, gravierte, geschnitzte, gedrechselte Gegenstände, die man auf jeder Ausstellung zeigen [S.185] konnte. Remagen aber überschwemmte Rheinberg mit Glücksspielen anständiger und unanständiger Art. Bis in die Nächte hinein hallte der Lärm der Betrogenen und Ausgezogenen, so dass es dem britischen Kommandanten zu dumm wurde. Er sparte keine Mühe, um die Moral im Lager wiederherzustellen. Ich hätte ihm gerne die besten Ratschläge erteilt, aber er fragte mich nicht. Besseres Essen und etwas Arbeit - der ganze Spuk wäre in wenigen Stunden verflogen.

[Remagen-Gefangene führen neue Währung ein - Tauschhandel mit Lebensmitteln - 1 Zigarette und 1 Stück Brot für 100 Mark - Brot auf Kredit]

Die Remagener brachten auch eine neue Währung mit. Ein Stück Brot, eine Zigarette, ein kleiner Riegel Schokolade, das alles kostete je 50 Mark. Nun aber öffneten unsere Spiesse [Feldwebel], Rechnungsführer und Fouriere die Rucksäcke. Wenn man sie auch meist bei der Gefangennahme ihrer Lebensmittel beraubt hatte, die Kompanie- und Batteriekassen, die Regimentskassen, die Brigadekassen hatte man ihnen gnädigst belassen. Dei Besatzungsarmee hatte sich ja selbst deutsches Geld gedruckt, ohne sich darüber Kopfzerbrechen zu machen, dass solches Unterfangen in jedem Rechtsstaat mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft wurde. Oft waren die Verwalter des Heeresguts auch ihrer Zigaretten verlustig gegangen, aber vielen von ihnen war es gelungen, Tausende von Zigaretten ins Lager einzuschleusen. denn welcher Amerikaner hätte das Unkraut geraucht, an dem wir uns in den letzten Kriegsjahren vergiftet hatten?

Bislang hatten die Zigarettenbesitzer ihre [S.186] Schätze wie Geizhälse gehortet und in kleinen Dosen selbst verbraucht. Wie sollte man Lebensmittel gegen Zigaretten tauschen, solange man täglich vor Hunger Schwindelanfälle bekam? England nährte seine Gefangenen etwas anständiger, und schon machten sich die Laster wieder breit. Vor allem befanden sich in den britischen Päckchen so hübsche Tauschgegenstände wie Schokolade und Bonbons. Beinahe hätte diese Herrlichkeit ein grässliches Ende genommen. Staatlich geprüfte und diplomierte Idioten hatten sich nämlich bald an die britischen Soldaten herangemacht, um die empfangene Schokolade gegen Zigaretten einzutauschen. Als dies dem Kommandanten zu Ohren kam, war er zunächst verständlicherweise der Meinung, dass es uns immer noch zu gut ginge und dass die Verpflegung zu üppig sei. Vielleicht hatte der Mann auch ein bisschen Menschenkenntnis und Welterfahrung und wusste, welch seltsame Vögel sich im Gezweig dieser Erde schaukeln. Gottes Segen über ihn und seine Familie, weil er nichts veranlasst hat, um unseren Lebensstandard zu senken.

In wenigen Tagen war der Markt zu Rheinberg von den Börsianern geordnet. An die Stelle der Zwangswirtschaft mit ihren festen Preisen war freie Wirtschaft getreten. Der Geldüberhang wurde in ein gesundes Verhältnis zur vorhandenen Ware gebracht. Da Geld genug in den Rucksäcken war, kostete die Zigarette jetzt 100 Mark. Und da dem einen das Stück Brot so viel wie eine Zigarette [S.187] wert war, kostete auch das Brot 100 Mark. Auch das Kreditwesen kam bald in Fluss. Es gab in Rheinberg manchen Kapitalisten, der im bürgerlichen Leben ein armes Schwein war. Manchen Wehrmachtkapitalisten kannte ich. Wir wussten, wer wir waren, wo wir wohnten und was wir voneinander zu halten hatten. Ich nahm also bei dem Bankier eine Anleihe auf und kaufte mir Brot dafür. Ich stellte ihm einen regelrechten Schuldschein aus, der meine Frau auch für den Fall meines Todes anwies, das Darlehen zurückzuzahlen. Das System funktionierte wie jedes andere Bankgeschäft. Die Schuldscheine wurden später präsentiert und eingelöst. Ihnen hatte ich es zu verdanken, wenn ich in dieser Zeit wieder auf die Beine kam.

[Untätigkeit - Abzug der Landarbeiter - Abzug der Bergbauarbeiter - Abzug der Verwaltungsbeamten]

Trotz der besseren Verpflegung, nein, wegen der besseren Verpflegung empfanden wir die britischen Gefangenschaft härter als die amerikanische. Wir waren nicht mehr ganz so schlimm ausgehungert. Die Untätigkeit war von Tag zu Tag schwerer zu ertragen. Wie sah es denn aus da draussen? War denn nichts zu tun für eine Viertelmillion von Männern? Sollten die Trümmer nicht aufgeräumt, die zerschlagenen Häuser und Fabriken nicht wieder aufgebaut werden? Welchen Sinn sollte es haben, nach der Kapitulation Hunderttausende von Menschen zum absoluten Nichtstun zu verdammen?

Aber dann kam ein Tag, da wurde plötzlich ausgerufen, Landarbeiter sollten sich melden. Wohin sollte es gehen? Wirklich nach Hannover, nach [S.188] Magdeburg, um den Bauern zu helfen? Die Landarbeiter zogen in Scharen ab. Wären wir nicht so grenzenlos dumm gewesen, wir hätten uns als Landarbeiter gemeldet und wären ein paar Wochen früher nach Hause gekommen. Hätten wir nur gewusst, wie einfach das war. Wir wussten es eben nicht. Nicht viel später wurden stürmisch und immer wieder Bergarbeiter aufgerufen. Das begriffen wir schon besser. Wer die Ruhrschächte in seiner Gewalt hatte, der wollte auch Kohle sehen. Bergarbeiter war ich schon vor 23 Jahren gewesen. Das lockte mich heute nicht mehr. Ja, wenn ich noch amerikanisch gehungert hätte - - -

Ich hatte aber schon einmal im Jahre 1922 volle 16 Stunden verschüttet unter den Steinen gelegen, mit Rippenbrüchen und schweren Quetschungen. Auch damals hatten wir Reparationskohle gefördert - - -

Fuchsteufelswild aber wurden wir, als es dann hiess, Verwaltungsbeamte sollten sich schleunigst melden, um in die Heimat gebracht zu werden. Verwaltungsbeamte als privilegierte Heimkehrer? Wenn das Franz Kafka geahnt hätte! Ein paar Tage lang liefen wir herum, als ob wir die Tollwut hätten. Waren denn die Bürokraten so notwendig? Natürlich waren sie notwendig. Wir begriffen das nur noch nicht. Die Alliierten hatten die bedingungslose Kapitulation verlangt und das  Chaos bekommen. Sie hatten die ganze Maschine lahmgelegt und sahen plötzlich mit Schrecken, dass sie stillstand [S.190] und nicht mehr in Gang zu bringen war. Wenn die Sieger nicht Gemeinderäte, Stadtinspektoren, Bürgermeister, Regierungsräte, Amtsrichter, Staatsanwälte, Ministerialräte werden wollten, dann brauchten sie Deutsche, vor allem solche, die im Verdacht standen, von der Verwaltung mehr zu verstehen als von Zechgelagen mit Gin und Whisky. So zog denn Rudi, der städtische Oberinspektor, aus unserem Erdloch von dannen. Wir liessen ihn traurig scheiden. Dennoch war er auch Briefträger für unsere Familien. Nun wussten sie, wo wir waren und dass wir noch lebten.

Es war eine harte, aber doch zeitgemässe Lehre der modernen Volkswirtschaft, dass der Bürokrat in der menschlichen Rangordnung auf einer Stufe mit dem Land- und Bergarbeiter steht. Grosser Gott, wann würden da die Schriftsteller, die Schauspieler, die Musiker und all das Gesindel aufgerufen werden, das in der Welt der technischen Vernunft so unproduktiv, so unbrauchbar und so unbelehrbar war? [S.190]



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Quellen


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