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Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 21: Das fünfte Siegel
Die Auferstehung der Halbtoten unter britischer Verwaltung - Vergleich mit dem Bild von El Greco "Das fünfte Siegel" -- Kopfstürze und Kaffee -- Gottesdienst, barocke Kirchenlieder und Tränen -- Wie soll die Bibel nun zu Deutschland passen? - Beten mit Wind und verseuchtem Sand - ein Gewitter und eine Wasserwand
aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat (1956)
präsentiert von Michael Palomino (2013)
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[Die Auferstehung der Halbtoten unter britischer Verwaltung - Vergleich mit dem Bild von El Greco "Das fünfte Siegel" - Kopfstürze und Kaffee]
Von den Bildern, die Domenikos Theotokopulis, den die Zeitgenossen El Greco nannten, gemalt hat, ist mir keines so vertraut wie "das fünfte Siegel". Der Apostel Johannes, der Mystiker auf Patmos [Insel in Griechenland], schaut die Auferstehung der Toten. Wie oft habe ich an ihn gedacht und an sein Gesicht, wenn der rotglühende Morgen über dem Lager Rheinberg aufflammte, das wie ein riesiges Gräberfeld dalag. Ich habe Grecos Bild im Original nie gesehen. Dafür bin ich aber dem Maler weit voraus. Was er nur im Geist geschaut hat, das habe ich in der Wirklichkeit dieser Welt erblickt.
Ich stand meist sehr früh auf, weil ich dieses Bild wieder und wieder sehen wollte. Das Aufstehen war eine Qual. Vom Liegen auf der harten Erde ohne Kopfkissen schmerzte der ganze Leib wie eine offene Wunde. Hatte ich dann die steifgewordenen Glieder zurechtgebogen, schaute ich mich um, sah in der Ferne einen Kirchturm, ein paar Dachfirste, sonst nur eine gelbbraune Fläche von Horizont zu Horizont, von Drähten zerschnitten, die jetzt ungemein zart und zierlich schimmerten.
In diesen kurzen Augenblicken des neuen Morgens spürte ich nichts mehr von Gefangenschaft. Da war ich "unterwegs in eine Weite, die unmessbar war", empfand, was der Mystiker meinte, wenn er [S.191] sagte, dass er in der Gottheit schwimme wie ein Adler in der Luft, obwohl - nein, wie Adlern war uns nicht eben zumute, dann eher schon wie Seiltänzern, die sich zu weit hinausgewagt hatten, für die der Weg zum Ende so weit war wie der Weg zurück zum Anfang. Dann riss Gott ein wenig am Seil, ein ganz klein wenig nur, und sie stürzten ab, lagen am Boden mit einer schweren Gehirnerschütterung. Die war nun selber ein Ende oder ein Anfang.
Man weiss es nicht so genau, ob die Menschen in Rheinberg an Gott glaubten, ob sie überhaupt noch glauben wollten oder konnten. Darum war das fünfte Siegel, das sich jeden Morgen vor mir öffnete, darum war die Auferstehung der Toten ein so ergreifendes Geschehen, trotz aller Prosa. Denn es waren nicht die Posaunen des Jüngsten Gerichts, die die in der Erde Schlafenden aufweckten, es waren nur die Mäuler der Köche, die brüllten, der Kaffee sei fertig und sofort abzuholen. Nach vielen Wochen der Wasserarmut wurde ja morgens Kaffee ausgegeben, guter, echter Kaffee sogar, wenn auch ohne Brot, Butter, Wurst, Käse, Milch, Zucker und all die anderen Ingredienzien, die das Frühstück zu einem Vergnügen machen. Es war nützlich, dem Ruf der Köche zu folgen. Wer sich nicht beeilte, der war vom Kaffee-Empfang ausgeschlossen. Sobald der Ruf ertönte, tauchten die Köpfe aus der Erde, die Schultern, die Knie, erst vereinzelt, dann zahlreich, dann unübersehbar, bis sich der Campo [S.192] Santo mit einem wilden Gewimmel anfüllte, dass man erschrecken konnte.
Es war, als würden die Toten aller Jahrtausende aus der Erde herausgerufen, um ihren Richterspruch zu empfangen. Nie vorher und nachher habe ich den Aufstand der leidenden Kreatur stärker erlebt. Hätte sich der Himmel über uns mit dem Weltenrichter auf dem Thron geöffnet, ich wäre nicht verwundert gewesen, nur neugierig vielleicht, was er mit uns anfangen würde, mit uns, die das Zeichen der Verdammnis von Menschenhand schon an der Stirn trugen. Würde er die asthmatische Justiz der Sieger zu der seinen machen? Darüber dachte ich nach, wenn sich die abgezehrten Leichname emporhoben aus der Grabesnacht in das morgenrote Licht. Und dann war ich der tröstlichen Zuversicht sicher, dass es besser sei, ihm nicht als irdischer Richter, sondern als irdischer Angeklagter und Vorbestrafter entgegenzutreten.
[Gottesdienst, barocke Kirchenlieder und Tränen]
Als Rheinberg unter britischer Herrschaft stand, wurde auch Gottesdienst abgehalten. An Priestern fehlte es nicht. Wie in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, so befanden sie sich auch hier zu Dutzenden hinter dem Stacheldraht. Für Hostien und Kerzen sorgte der Pfarrer von Rheinberg, auch für den goldenen Kelch. Ein gepanzerter Tabernakel war nicht vonnöten. Wer sollte hier stehlen? Und wo wollte der Dieb das gestohlene Gut verbergen oder zu Geld machen? Die Orgel hatten wir in den Kehlen. Aber das Singen war nichts für [S.193] Neurastheniker [Denker, die Rätsel lösen wollen]. Es lebten zu viele Erinnerungen in den Melodien. Die warfen uns gleich in die frühe Kindheit zurück, in die Tage, da man in Oberschwaben mit dem brennenden Lichtstock in der Hand durch den morgenfrühen Schnee ging, um in der Kirche Adventslieder zu singen. Cantus firmus wäre gut gewesen, gregorianischer Choral in mönchisch-männlicher Zucht. Aber diese barocken Kirchenlieder zogen die Tränen an wie das sommerliche Gras den Tau. Da konnte man nur weglaufen, wenn die Lippen zu zucken anfingen, wenn die Mundwinkel sich verkrampften, wenn die Augen brannten und kleine Sterne vor ihnen glitzerten. Weglaufen musste man, sich selbst zurechtweisen, sich beschimpfen sogar. Ach nein, wir waren auch im Zweiten Weltkrieg noch nicht zur vollkommenen Härte gelangt. Man machte einen grossen Bogen um den Kreis der Kirchengemeinde und kehrte zurück wie ein ehrlicher Mann und Sünder. Anders war dies alles doch nicht zu ertragen, alles, diese Sklavenkirche zuerst, die ihren Gottesdienst hinter Stacheldraht feiern musste, geächtet, verachtet, aussätzig. Das war ja doch nicht viel besser als bei den verfolgten Christen der Urkirche, nicht viel besser als in der Volkswagenstadt Wolfsburg, in der Gott nach dem Willen des Diktators überhaupt keine Stätte haben sollte und durfte. Dieses ganze Lager Rheinberg konnte doch nur in einer Welt stattfinden, die Christus nicht kannte, die mindestens so tat, als ob er nie gelebt [S.194] hätte. Schlechter behandelten auch die römischen Prokonsuln ihre Gefangenen nicht.
[Wie soll die Bibel nun zu Deutschland passen? - Beten mit Wind und verseuchtem Sand - ein Gewitter und eine Wasserwand]
Wenn man daran dachte, wie das Neue Testament anfängt, man konnte sich die Haare ausraufen, sich nackt in den Stacheldraht werfen oder sich die Schlagader mit einem Stück Blech aufreissen. En proto en logos - am Anfang war das Wort, Gottes Wort, Gottes Sohn, Gottes Geist, überall gegenwärtig in unserer Sprache, in der Logik, in der Theologie und Anthropologie, in der Kosmologie und Geologie, in der Eschatologie und Biologie. Und die taten mit uns, als sei die Menschheit über das Stadium der Eiszeit nie hinausgekommen. Nein, der Gottesdienst in Rheinberg war von all dem Schweren, das wir zu ertragen hatten, fast am schwersten zu ertragen.
Wenn wir zu beten versuchten, dann knirschten wir mit den Zähnen, nicht aus Zorn oder Hass, sondern weil der Wind den Betenden unablässig Sand in den Mund blies. Was wir auch taten, ob wir assen, tranken oder schliefen, immer blies uns der Wind Dreck in die Augen, Dreck in den Hals, lebensgefährlichen Dreck voll von tödlichen Krankheitskeimen, die er von den Sterbelagern der Ruhrkranken holte. Mit diesem Schmutz zwischen den Lippen und Zähnen liess es sich schlecht beten. So gewiss es ist, dass die Liebe eine der wenigen Katastrophen ist, die den Menschen wirklich verändern, sie hatte uns noch nicht berührt noch nicht erschüttert. Es gab noch zu viel Zäsuren auf dem Weg zu Gott [S.195].
Ich erinnere mich eines Nachmittags, da wir zum Gottesdienst gerufen wurden. Der junge Pfarrer predigte gut. Er hatte etwas von einem galiläischen Fischer an sich, nein, von einem norddeutschen Fischer, der auch unter der Eisdecke im See zu fischen versteht. Kräftig und sachlich zog er sein Schleppnetz unter dem Eis her. Es schien, als werde er einen grossen Fang tun. Da krachte ein furchtbarer Donnerschlag dazwischen. Eine pechschwarze Wand hatte sich ungesehen genähert, lag jetzt über uns wie ein gewaltiger Sargdeckel. Dann brach eine Sturzflut über uns herein, las wären alle himmlischen Stauwerke geborsten. Wir rannten nach Luft schnappend durch die Wasserwand, um uns wieder in unseren Löchern zu verkriechen. Nein, es war noch zu früh gewesen. Die Stunden der Gnade war noch nicht da. Das letzte Wort über Rheinberg konnte noch nicht gesprochen werden. In dieser Sinnlosigkeit einen Sinn zu erkennen, war uns noch nicht gegeben. Jener junge Pfarrer hatte keine zweite Fischerstunde. Darum blieb Rheinberg eine Frage für uns, schnell vergessen, schnell beiseitegeschoben an dem Tag, da wir entlassen wurden. Aber wir konnten sie weder tötet noch beantworten. Sie steht immer wieder auf, verlangt eine Antwort. Wer soll sie geben? Wer kann sie geben? Nun, da zehn Jahre vergingen sind, da das Gras längst wieder über dem Lager Rheinberg gewachsen ist, will ich einen Versuch dazu machen [S.196].
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