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Josef Nowak: Das Rheinwiesenlager Rheinberg

Kapitel 22: Die Fahne hoch

Kalte Waschmöglichkeit in Rheinberg - Mäntel, Decken, Mützen -- die Singfolter -- die Befragung und der rote Kirchenstempel -- das verschenkte Taschenmesser -- der Abschiedsspaziergang mit dem Gedenken an die vielen Toten -- der britische Soldat mit dem Maschinengewehr

aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät. Kriegsgefangen in der Heimat (1956)

präsentiert von Michael Palomino (2013)
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[Kalte Waschmöglichkeit unter der britischen Verwaltung - Mäntel, Decken, Mützen]

Unter britischer Herrschaft konnten sich die Gefangenen täglich waschen, von oben bis unten, konnten ihre Hemden zwar nicht kochen, aber doch einseifen und gründlich spülen. Nach rund acht Wochen Schmutz ein gewaschenes Hemd anzuziehen, das war immerhin ein Ereignis, das uns näher ging als die meisten gleichzeitigen Geschehnisse von weltgeschichtlichem Range. Die Engländer liessen auch Mäntel, Decken und Mützen in grösseren Menschen verteilen. Nur Schuhe gab es nicht. Die unseren waren ausgehungert wie wir selber, sahen verschimmelt, zerfressen, zerlumpt aus wie wir selbst. Solange man sie nicht auszog, hielten sie merkwürdigerweise ganz gut zusammen.

[Vorbereitungen auf den Winter - oder Entlassung oder ein weiterer Massenmord - Registratur und stundenlanges Antreten]

Immerhin - es musste nun bald etwas geschehen. Es war Juli geworden. Man musste sich bei der Militärbürokratie entschliessen, uns wie Kriegsgefangene zu behandeln, für den nahen Herbst Baracken zu bauen, Heizmaterial heranzuschaffen, wenn schon keine Bettwäsche, dann wenigstens Stroh zu besorgen. Wenn man das nicht tun wollte, dann musste man sich entschliessen, uns wie ein lästiges, leider davongekommenes Gesindel abzustossen. Vier Monate nach Beginn der Gefangenschaft konnte man es weder amerikanischen noch britischen Soldaten zumuten, Zeugen eines Massenmordes [S.197] durch Hunger, Kälte und Seuchen zu sein. Man kam zu der Ansicht, dass es besser sei, uns nach Hause zu schicken. Und so wurden wir denn eines Tages zum zweiten Male registriert, bekamen wiederum Fragebögen in die Hand gedrückt. Diesmal füllten wir sie aber schon mit viel weniger Eifer aus. Wohin war denn die erste Registratur gekommen? War sie vom Winde verweht oder in der Küche verheizt worden? Wir hatten schon vergessen, wie viele sinnlose Fragebögen wir als Zivilisten und Soldaten im Dritten Reich beschrieben hatten. Wir ahnten auch damals noch nicht, dass Hitlers Staats- und Parteibürokratie, verglichen mit dem Fragebogen-Hurrikan der alliierten und späteren deutschen Bürokratie, nur ein sanftes Zephirsäuseln [Säuseln des Frühlingsgottes Zephyr] gewesen war. Ausserdem entzog sich uns damals noch die schlichte Erkenntnis, dass es zum Wesen der Bürokratie gehört, ihre Papierbestände dauernd zu verjüngen, und dass jeder echte Bürokrat lieber zehnmal denselben Fragebogen ausfüllen lässt, als dass er ihn einmal aus seiner Registratur herauskramt.

Dennoch - dieses Mal wurde es ernst. Einige Tage nach der Schreibarbeit mussten wir antreten. Wir warteten von morgens bis abends auf das, was geschehen sollte. Es geschah nichts. Einige Tage danach mussten wir abermals antreten, abermals etliche Stunden warten, geduldig wie - nun wie Kriegsgefangene. Von uns konnten die Schafe noch lernen. Doch nun geschah etwas. Um die Mittagszeit [S.198] marschierten wir in ein anderes Camp, beileibe nicht in militärischer Formation. Da wir unter Hitler stets in drei Reihen antraten und marschierten, marschierten wir jetzt demokratisch in vier Reihen. Vor einem Zelt, so gross wie ein Dorf-Zirkus, machten wir halt. Es war ein heisser Juli-Tag. Uns verlangte nicht nach seiner brütenden Kraft. Wir hatten alle schon eine Hautfarbe, die gebeiztem Kirschbaumholz glich. Es wurde 13 Uhr, es wurde 14 Uhr. Niemand kam. Im Zelt sollte nämlich eine Kommission Platz nehmen, die uns mit den Röntgenstrahlen ihrer politisch unfehlbaren Augen Herz und Hirn durchleuchten sollte. Mit jedem einzelnen Gefangenen gedachte sie ein strenges Verhör anzustellen. Wo blieben die hohen Herren denn? Wahrscheinlich speisten sie noch zu Mittag. Es wurde 15 Uhr. Wahrscheinlich tranken sie noch ihren Kaffee.

[Die Sing-Folter der kriminellen Briten]

Endlich tauchte einer im Zelteingang auf. Er machte keine freundliche Figur, kurz und fett, wie er war. Sein Deutsch konnte sich auf dem Kurfürstendamm hören lassen. Er merkte, dass wir ziemlich verstimmt und lustlos waren. Das fehlte gerade noch!

-- Singen! schrie er. Ein Lied!

Stures, feindseliges Schweigen ringsum. Der Mann war uns auf Anhieb unsympathisch. Seinen vom Lederzeug mühsam zusammengehaltenen Bauch konnte er sich unmöglich an der Front geholt haben. Unser Schweigen verdross ihn.

-- Singen! schrie er. Wir haben Zeit, bis morgen [S.199], bis nächste Woche, bis nächsten Monat sogar. Singen! Das Engelland-Lied!

Wir blinzelten ihn in der Sonne an, als ob er nicht ganz normal wäre. Er war aber völlig normal. Am liebsten hätten wir diese dicke, hässliche Laus geknackt. Aber hatte das Zweck? Hier fand heute nichts mehr statt, wenn wir nicht sangen. So viel war klar. Hart blieben die Gesichter, fester geschlossen die Lippen. Wir wollten es darauf ankommen lassen. Wir hatten noch nicht alle Selbstachtung verloren. Im Übrigen offenbarte der Bursche einen Mut, wie ihn nur die Dummheit aufbringt. Er hatte nicht Instinkt genug, um zu fühlen, dass es mit ihm jeden Augenblick zu Ende sein konnte. Wenn er an Gott ebenso fest glaubte wie an die Macht der Maschinenpistolen, dann musste ihm das Paradies sicher sein.

-- Wenn ihr nicht wollt - - -

Der runde Bonze am Zelteingang machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück in das kühle, schattige Zelt. Da wurden einige typische Vertreter der nassen Hose schon weich, intonierten mit heiseren Tenören, mit rostigen Bässen und fanden schnell Mitläufer, Pardon, fanden Mitsänger genug.

-- Gib mir deine Hand - deine weisse Hand. Leb wohl, mein Schatz, leb wohl, mein Schatz, leb wohl! Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland!

Die breite und grinsende Fratze tauchte im Zelteingang [S.200] auf. Sie war mit dem Erfolg sichtlich zufrieden.

-- Und jetzt das Horst-Wessel-Lied! Vorwärts! Los!

Falls dem Kerl dieses Buch zu Gesicht kommt, sei es ihm gesagt: Gleich vielen anderen Deutschen in Rheinberg habe ich an diesem Tag zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben das Horst-Wessel-Lied gesungen. Er, er allein hat diesen jämmerlichen Cantus an diesem Tag zur Hymne erniedrigter und beleidigter Menschen gemacht. Und wenn es im britischen Empire einen Orden für politische Psychologie geben sollte, so müsste diesem Manne die höchste Stufe verliehen werden.

[Die Befragung durch britische Offiziere im Zelt - ein roter Kirchenstempel rettet Nowak vor dem Straflager - viele sterben unschuldig in britischen Straflagern]

Die Ouvertüre war vorüber. Die Posse begann. Man hatte uns genau instruiert. Im Zelt, so hatte man uns belehrt, sässen an Tischen britische Offiziere oder mindestens Herren in britischer Offiziersuniform. Jeder von uns, der Einlass erhalte, habe sich im Laufschritt (!) an einen freien Tisch zu begeben. Dort habe er dem Uniformträger in strammer Haltung (!) den ausgefüllten Fragebogen zu überreichen und in unverändert strammer Haltung Rede und Antwort zu stehen. Sei der Gefangene abgefertigt, so habe er wieder im Laufschritt (!) das Zelt zu verlassen. Wer nicht schnell genug laufe, der werde sofort unbehandelt aus dem Zelt hinausgeworfen, desgleichen jeder, der es an strammer Haltung fehlen liesse. Wir merkten schon, es ging im Laufschritt der Demokratie entgegen [S.201]. Friedrich Wilhelm, der preussische Soldatenkönig, hätte seine Freude an diesen Emigranten und Remigranten gehabt. Nur eines begriffen wir nicht. Wenn man uns schon das Horst-Wessel-Lied singen liess, warum hat man uns nicht auch befohlen, den Herren den deutschen Gruss zu erweisen, wo wir doch alle noch ganz leidlich in Form waren.

Es gibt Pessimisten, die nicht immer sagen können, was sie eigentlich von der Zukunft befürchten, die aber das Gefühl haben, man müsse, solange es an der Zeit sei, sich für alle nur möglichen Katastrophen rüsten. Ich gehöre zu dieser Art Schwarzsehern. So mag es denn zu erklären sein, dass die geheimen Staatspolizisten bei ihren häufigen Besuchen in meinem Arbeitszimmer niemals die Funde machten, aufgrund derer sie mich nach Dachau oder anderswohin zu expedieren vermocht hätten. Als ich mich von meiner Batterie getrennt hatte, da benutzte ich den einzigen Tag meiner Freiheit, bevor mich die Amerikaner nach Westen verschleppten, dazu, um mir von meinem Arbeitgeber, dem Bischöflichen Stuhl, bescheinigen zu lassen, dass ich Dritten Reich zwar Hauptschriftleiter, aber immerhin der eines katholischen Kirchenblattes gewesen sei. Das Schriftstück trug einen roten Stempel, gross wie ein Spiegelei. Ich hatte es in der Brieftasche bei mir.

[Und nun kam ich bei der Befragung an die Reihe]: Kaum hatte der fragwürdige Tommy [Engländer heissen oft "Tom"], vermutlich deutscher Nation, meinen Fragebogen in der Hand, kaum hatte er in der Rubrik Beruf das Wort [S.202] "Hauptschriftleiter" entziffert, als er zynisch und brutal bemerkte: "Straflager!" Und ohne das Attest mit dem roten Spiegelei wäre ich tatsächlich mit allen Reichsleitern, Gauleitern, Kreisleitern, Ortsgruppenleitern, Gestapochefs, kurz mit allen Leuten, die mich zehn Jahre lang bis aufs Blut schikaniert hatten, ins Straflager gegangen! Das hätte eine Begegnung gegeben, mit meinem Kreisleiter etwa, der meiner Flak-Abteilung verboten hatte, mich als politisch Unzuverlässigen zum Offizierslehrgang zu schicken, mit meinem Ortsgruppenleiter etwa, der sich die grösste Mühe gemacht hatte, um mich ins Konzentrationslager zu versetzen. Der Mann wäre vor Freude am Schlaganfall gestorben, wenn er erlebt hätte, dass die Engländer jetzt das zustandegebracht hätten, worum er jahrelang umsonst gekämpft hatte. Wenn ich so manche dekorierte Menschenbrust sehe, immer wieder bin ich versucht, zu beantragen, dass doch auch das Grosskreuz für verdienstvolle Dummheit geschaffen und verliehen werden müsse. Wahrlich, die Kandidaten sind stets unter uns.

Der rote Stempel tat seinen Dienst. Der Herr Emigrant, wie ich seinem akzentfreiem Deutsch nach urteile, hatte glücklicherweise von katholischen Bischöfen schon gehört. Er wurde freundlicher, appellierte dann an mein christliches Empfinden und empfahl mir, alles zu tun, um möglichst viele ehemalige Nationalsozialisten an meiner Stelle in das Straflager zu bringen. Ich gestehe, dass [S.203] ich mich in dieser Lage nicht ordentlich betrug. Ich habe ihm nicht ins Gesicht, nicht einmal vor die Füsse gespuckt. Aber ich wollte ja doch nach Hause. Und der Kerl hatte Macht über Leben und Tod. Darum bitte ich für die drei Minuten der Schwäche um Nachsicht. Der hl. Hieronymus hat ja dem Christen empfohlen, wie er sich in solchen Fällen zu verhalten habe: Falte die Hände, blicke zum Himmel und schlucke deinen Speichel hinunter!

Mancher Mann, politisch ebenso unbelastet wie ich, ging für Monate oder Jahre ins Straflager, starb dort sogar, nur weil er diesen roten Stempel nicht hatte - - -

[Abfahrt ohne nichts - Nowak verschenkt sein kleines Taschenmesser]

Ein paar Tage später kam dann ein Lagerpolizist zu uns. Er schwang eine ellenlange Liste in der Hand und las mit quälender Langsamkeit Namen vor. Meiner war auch darunter. Am nächsten Morgen hatten wir am Tor anzutreten, ohne Holz und ohne Blech, ohne Brennholz also und ohne Konservendosen, die als Geschirr dienten. Ein bisschen Holz - ein bisschen Blech, das war ja unser einziger Besitz. Jetzt konnten wir diese armselige Habe an die Zurückbleibenden verteilen. Der Mann, der mein kleines Taschenmesser erhielt, hatte Tränen in den Augen.

[Nowaks Abschiedsspaziergang im "Camp E" mit dem Gedenken an die vielen Toten - der britische Soldat mit der Maschinenpistole]

Dennoch war es fast ein Wunder, dass ich die Heimkehr erlebte. Am Abend des letzten Tages im Lager Rheinberg machte ich einen stillen Gang durch das Camp E. Es war damals schon halb leer [S.204]. Nur noch die vordere Hälfte war besiedelt. Eine lange Holzbarriere trennte den hinteren Raum ab. Ich kroch unten durch. Ich besuchte noch einmal alle die Plätze, an denen ich so bittere,eigene und fremde Qualen erlebt hatte, und gedachte der Toten, die am Hunger, an der Ruhr, an Altersschwäche gestorben waren, die Selbstmord begangen hatten oder über denen die Erde eingestürzt war. Ich näherte mich in Gedanken versunken dem Draht, hinter dem das Camp C lag, überdachte noch einmal diesen schauerlichsten Abschnitt meines bisherigen Lebens, als ich plötzlich ein Gewehrschloss rasseln hörte.

Ich war nicht mehr allein. Hinter dem Draht stand ein Alliierter mit der Schusswaffe im Anschlag. Er hatte ein Gesicht, wie Edgar Wallace [Krimi-Autor], der es ja wissen musste, es den Verbrechern in Soho [Stadtteil in New York] und Whitechapel [Bezirk in London] zuschreibt. Kein Zweifel, der Kerl meinte mich. Mord hatte er in den Augen, Ich versuchte, ihm in gebrochenem Englisch klarzumachen, dass ich morgen nach Hause gehen dürfe und dass ich jetzt meinen Abschiedsgang durch das Lager mache. Ich weiss nicht, ob mein englisch so schlecht oder ob sein Wille, mich zu verstehen, noch schlechter war. Wahrscheinlich hatte dieser primitive Krieger auch noch nie etwas von dem verästelten Seelenleben eines Schriftstellers gehört. Er brüllte auf wie ein Geisteskranker und fuchtelte gefährlich mit seinem Gewehr herum. Es hatte keine Zweck, sich mit ihm geistig auseinanderzusetzen [S.205]. Ich ergriff die Flucht, in der Hoffnung, dass er vorbeischiessen würde. Er schoss auch vorbei, vielleicht mit eigener Absicht, vielleicht auch im Dienst einer höheren Absicht. Keuchend kam ich an der Barriere an. Jetzt war mir alle Lust vergangen, noch einen letzten Blick auf diesen Acker der Tränen, der geweinten und ungeweinten, zu werfen.

Wir hatten den Krieg verloren.

Uns war nichts mehr erlaubt, nicht einmal eine Minute des Gedenkens an die Opfer einer sinnlosen Sieger-Demonstration.

Wie Vieh waren wir hergetrieben worden.

Wie Vieh sollten wir abtransportiert werden.

So endete der letzte Tag im Lager Rheinberg würdig aller vergangenen Tage [S.206].


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Quellen


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