3.1.
Die Besetzung der Stadt Minsk
Als
die deutschen Truppen bei glühender Hitze am 28.Juni 1941,
(1. Der 28.Juni wird in der sowjetischen
Geschichtsschreibung als Tag der Besetzung angegeben.
Die erste Vorhut erreichte Minsk schon am 26.6., einige
Strassenkämpfe zogen sich noch bis zum 28.6. hin, vgl.
Ju. V. Plotnikov (Hg.): Velikaja Oteschtschestvennaja
vojna 1941-1945, Slovar Spravoschtschnik, Moskau 1985,
271; Novikov 22-23; sowie Ereignismeldung UdSSR Nr.8, BA
R58/214 28; zur Schilderung des deutschen Einmarsches
vgl. Minsker Zeitung vom 28./29.6.42).
also nur sechs Tage nach Feldzugsbeginn, in Minsk, der
Hauptstadt der Weissrussischen Sowjetrepublik,
einmarschierten, fanden sie ein Bild der Verwüstung vor.
Von den ehemals ca. 240.000 Einwohnern hatten die meisten
die Stadt verlassen, nicht einmal 100.000 waren geblieben.
(2. Bericht der Militär-Verwaltungsgruppe
Feldkommandantur 812 vom 20.7.41, BA R43II/691 40
(fortan: Feldkommandantur 812).
[[Der Artikel "Minsk" der Encyclopaedia Judaica 1971
(Band 12, Kolonne 53), gibt an, dass "ungefähr 100.000
Einwohner" geblieben sind:
"Some 100,000 inhabitants were left in the city when the
German forces entered on June 28." (deutsch: "Ungefähr
100.000 Einwohner hielten sich in der Stadt auf, als die
deutschen Truppen am 28. Juni einmarschierten.")]]
Der grösste Teil der Häuser war zerstört - die Schätzungen
bewegen sich um 80 % -,
(3. Deutsche Zeitung im Ostland vom 20.2.42,
zitiert nach Nemecko 187)
in den übrigen lebten die Menschen eng zusammengepfercht,
es gab weder Wasser noch Elektrizität (4. Ereignismeldung
UdSSR Nr.20, BA R58/214 133).
"Überall sieht man aus Ziegelschutt und verkohlten Balken
Schornsteine ragen. Einer neben dem anderen. Wie
pompejanische Säulen, denkt man unwillkürlich. Über Minsk
ist allerdings auch ein Vulkan hereingebrochen, mit Feuer
und Ascheregen - der Krieg!... Es ist das erstemal, dass
wir derartige furchtbare (S.29) Zerstörungen sehen",
(5. Minsker Zeitung vom 28./29.6.42. Wenn man
sich der Stadt näherte, sah man schon von weitem
mächtige schwarze Rauchsäulen, ebenda)
schrieb später ein deutscher Soldat über seine
ersten Eindrücke. Die Vorstädte, in denen sich die
Industriebetriebe befanden, waren etwas weniger zerstört (6. ebenda).
Durch die Strassen zogen neben Bettlern und Obdachlosen
viele Plünderer - Soldaten wie Zivilisten -,
Ausschreitungen deutscher Truppen konnten nicht unter
Kontrolle gebracht werden (7. Ereignismeldung UdSSR Nr. 23, BA R58/214
167; Vakar 173). Die Stimmung war gedrückt und
apathisch, die Minsker machten auf die Deutschen einen
"verschüchterten und teilnahmslosen Eindruck."
(8. Ereignismeldung UdSSR Nr. 37, BA R58/216
221; vgl. auch die Meldungen Nr. 14 und 20, BA R58/214
95 und 133).
Dieses Bild einer am Boden zerstörten Stadt war das
Ergebnis des Angriffs der deutschen Wehrmacht vom 22. Juni
und der Reaktionen von sowjetischer Seite. Die Deutschen
verfolgten den Plan, durch schnelle, weiträumige
Operationen überfallartig den Gegner zu überraschen und
ihm keinerlei Gelegenheit zu geordneter Gegenwehr zu
lassen. Der Minsker Raum sollte dabei schon nach wenigen
Tagen durch die Zangenbewegung zweier Panzergruppen
eingeschlossen und durch die nachfolgenden Truppen besetzt
werden (9.
Deutsches Reich IV 452-457). Als Vorbereitung
waren Luftangriffe insbesondere auf Flughäfen und
Eisenbahnanlagen vorgesehen, Minsk war dabei ein
Hauptziel. In der Schilderung des ersten Angriffs auf die
Stadt vom Morgen des 22. Juni durch eine Einwohnerin wird
die Überraschung der Zivilbevölkerung deutlich:
"Uns weckte das ungeheure Krachen der Bombeneinschläge
faschistischer Flugzeuge, die die uns am nächsten gelegene
Eisenbahnstation (S.30) zerstörten. Häuser stürzten ein,
über den ganzen Himmel breiteten sich Wolken schwarzen
Rauchs aus. Und dies alles nahmen wir irgendwie nicht
richtig wahr. Es schien, als schaute man sich gruselige
Bilder im Kino an oder als hätte man einen Alptraum. Man
reibt sich die Augen, und die Erscheinung verschwindet."
(10. Z.A. Karenkova: "Fedor iz Kamennoj
ulicy", in Hist. Inst. beim ZK der KPB und Inst. für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Vlesach
Belorussii, Minsk 1977, 236 (fortan: Karenkova). Zur
Rolle der Luftwaffe vgl. Deutsches Reich IV 653-658).
Neben den Luftangriffen, die die Hauptschuld für die
Zerstörungen trugen, verursachten Strassenkämpfe weitere
Schäden.
(11. Dass hierfür nicht, wie die Deutschen
später behaupteten, in erster Linie Brandstiftung von
Seiten der Sowjets verantwortlich war, ergibt sich aus
der Tatsache, dass gerade die wichtigen Industrie- und
Versorgungsbetriebe am Stadtrand relativ unversehrt
geblieben waren und diverse wichtige Aktenbestände den
einrückenden Truppen in die Hände fielen, vgl. Minsker
Zeitung vom 21./22.6.42. In den Ereignismeldungen UdSSR
Nr. 20 und 23 werden noch die Zerstörungen durch
deutsche Flieger und Strassenkämpfe als Hauptursachen
angegeben).
Die sowjetischen Verwaltungsspitzen hatten die Stadt schon
drei Tage vor dem deutschen Einmarsch überstürzt verlassen
(12. Vakar 171),
ohne dass es ihnen gelungen wäre, systematisch
Aktenbestände zu zerstören, so dass den Deutschen zwar
kaum ein NKVD-Mitarbeiter
(13. NKVD steht für "Narodnyj Kommissariat
vnutrennich del", auf deutsch "Volkskommissariat für
innere Angelegenheiten". Es umfasste insbesondere den
Geheimdienst)
oder ein prominenter Parteifunktionär in die Hände fiel,
dafür aber eine Vielzahl wichtiger Akten aus nahezu allen
(S.31) Lebensbereichen.
(14. Ereignismeldung UdSSR Nr.20, BA R58/214
132 sowie Mitteilung Dr.Rall an Dr.Mommsen vom 27.2.42,
BA R93/5).
Die drei Tage bis zum Eintreffen der Deutschen waren
angefüllt von Plünderungen und dem verzweifelten Bemühen
vieler Minsker, die Stadt zu verlassen und sich auf dem
Land in Sicherheit zu bringen (15. Vakar 171-173; Karenkova).
Neben den deutschen Angriffen trugen also auch die
überstürzte Flucht der sowjetischen Leitungsorgane, das
dadurch mitverursachte Chaos und die Enttäuschung der
Minsker über dieses Im-Stich-Gelassen-Werden zu der
desolaten psychischen und physischen Lage der Einwohner
zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches bei.
3.2. Die Zeit der
Militärverwaltung
Im bis zum 1.September zum militärverwalteten Gebiet
gehörenden Minsk wurden neben der Wehrmacht die
Einsatzgruppen tätig. Das Verhalten beider Institutionen
soll zunächst rekonstruiert werden, da es eine
entscheidende Vorgabe für die Arbeit der Zivilverwaltung
darstellte.
3.2.1. Die Militärverwaltung
Entsprechend dem vorgesehenen Ablauf durchlief Minsk die
drei Formen der Militärverwaltung:
- die Zugehörigkeit zum Gefechtsgebiet dauerte mindestens
bis 9.Juli, (S.32)
(16. Die ersten Militärverwaltungseinheiten
erreichten bereits am Abend des 6.Juli die Stadt, nahmen
ihre Tätigkeit also zunächst noch im Kampfgebiet auf,
vgl. Feldkommandantur 812 48; Brief Kraatz an Dr.Lammers
vom 30.8.41, BA _R43II/691 38. Die Kampfhandlungen im
Minsker Kessel dauerten bis 9.7., Deutsches Reich IV
453).
- höchstens bis zum 19.Juli dauerte die Zugehörigkeit zum
rückwärtigen Armeegebiet,
- der sich schliesslich die Herrschaft des
Oberbefehlshabers des rückwärtigen Heeresgebietes bis
31.August 1941 anschloss
(17. Ereignismeldung UdSSR Nr.27. vom 19.7.41
erwähnt Minsk als Teil des rückwärtigen Heeresgebietes,
BA R58/214 221).
Im Mittelpunkt des Interesses stand bei den
Wehrmachtstellen die Herstellung von "Frieden und
Sicherheit" (18.
Dallin 108). ihre Operationen sollten nicht
behindert, nach Möglichkeit sogar unterstützt werden.
Allerdings wird diese vorrangige Zielsetzung immer wieder
durch ideologisch motivierte Handlungen durchbrochen. Dies
kompliziert die Analyse ebenso, wie die Tatsache, dass die
Organisation vor Ort von Militärverwaltungsgruppen
übernommen wurde, die nicht der Heeresgruppe, sondern dem
Generalquartiermeister direkt unterstanden. Demgegenüber
spielten Konflikte mit den Einsatz- gruppen nur eine
untergeordnete Rolle.
Lässt sich - auch aufgrund der Quellenlage - keine
Gesamtanalyse der Militärverwaltungszeit in Minsk
erstellen, so können doch die verschiedenen z.T.
gegenläufigen Tendenzen aufgezeigt werden.
(19. Deutsches Reich IV 1030 beklagt das
Fehlen einer umfassenden Untersuchung der
Militärverwaltungszeit).
Schon die erste Massnahme zeigte ebenso die rigorose
Entschlossenheit, Ruhe und Sicherheit für die
Besatzungsmacht in der Stadt herzustellen, wie auch die
ideologisch bedingte Meinung, in ein Land mit grund-
(S.33) sätzlich feindlich eingestellter Bevölkerung zu
kommen, die erst einmal mit harter Hand anzufassen sei:
"Auf Befehl der Truppe" waren schon vor Einzug des
Verwaltungsstabes alle männlichen Einwohner zwischen 18
und 45 Jahren - dies betraf ca. 30.000 Personen - zusammen
mit etwa 100.000 Kriegsgefangenen in ein Lager von ca.
2qkm (20. Justiz
IX 13) interniert worden. Aufgrund der Enge, der
fehlenden Lebensmittel und der Härte der zahlenmässig
unzureichenden Wachmannschaften herrschten hier
katastrophale Zustände, die als eine erste schere Hypothek
die Glaubwürdigkeit des Kooperationswillens deutscher
Stellen belasteten.
(21. Feldkommandantur 812 40; vgl.
Ereignismeldung UdSSR Nr.19 und 21, BA R58/214 133,146.
Im Lager herrschten chaotische Zustände. Zunächst wurden
die Gefangenen auf einem uneingezäunten, sandigen Platz
geschafft, wo sie in sengender Sonne von Kavalleristen
bewacht wurden; die Gefangenen mussten aus Platzmangel
ihre Notdurft an Ort und Stelle verrichten. Die
Insassen, die von ihren Angehörigen - was erlaubt war -
Lebensmittelpakete erhielten, wurden häufig Opfer von
Überfällen; die Kriegsgefangenen hungerten z.T. schon
sechs bis acht Tage, Prestuplenija 3; Minsker Zeitung
vom 28./29.6.42. Die grosse Zahl an Kriegsgefangenen
ergab sich aus dem um Minsk und Bialystok geschlossenen
Kessel, Dallin 81).
Dazu kam das rücksichtslose Verhalten der deutschen
Truppen. Einfache Soldaten und untere Offiziersränge
plünderten in grossem Ausmass noch bis Mitte Juli
Wohnungen und Geschäfte, selbst Dienststellen der
neueingesetzten Stadtverwaltung. Vergewaltigungen und der
"schroffe Umgangston" wurden selbst in den
Einsatzgruppenberichten beklagt.
(22. Ereignismeldung UdSSR Nr.23, BA R58/214
213/214; vgl. Feldkommandantur 812 47; Vakar 173).
Daneben beteiligten sich aber auch Befehlshaber einzelner
Truppenteile an Kunstraub und (S.34) Plünderungen grossen
Ausmasses.
(23. Kube an Ostministerium vom 3.10.41, Der
Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem
Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1949
(fortan IMGN), Band VIII, 108/109).
Es waren also schon gewisse Vorgaben geschaffen, als mit
dem Einzug der zwei Mann starken Militärverwaltungsgruppe
am Abend des 6.Juli die eigentliche
Verwaltungsorganisation - abgesehen von der kurz vorher
erfolgten Errichtung einer Ortskommandantur - begann.
Unter den Bedingungen einer viel zu dünnen Personaldecke
und eines kaum eingeengten Handlungsspielraumes war es
ihre Aufgabe, das generelle Ziel einer Ordnung und
Strukturierung der Verhältnisse für die Erfordernisse der
Truppe im Spannungsfeld zwischen Pragmatismus und
Ideologie zu erreichen.
Zunächst ging es darum, die Zusammenarbeit mit den anderen
deutschen Dienststellen in der Stadt zu organisieren.
Durch allmorgendliche Besprechungen mit den Vertretern der
Einsatzgruppen, der verspätet in Minsk eingetroffenen
Wirtschaftskommandos und der sich in der Stadt befindenden
Truppenteile scheint dies gelungen zu sein.
(24. Feldkommandantur 812. Diese Struktur
blieb bis zur Übergabe an die Zivilverwaltung in Kraft;
dafür, dass die Koordination wenigstens im grossen und
ganzen funktioniert, spricht das Fehlen von damals
häufigen Klagen über Eigenmächtigkeiten der einen oder
anderen Seite, vgl. Kraatz an Lammers vom 30.8.41, BA
R43II/691 39).
Die Zusammenarbeit mit Weissrussen gestaltete sich
insofern schwieriger, als einerseits der Mangel an
geeigneten kooperationswilligen Leuten beklagt wurde,
andererseits die Militärverwaltung in diesem Punkt
offenbar über keinerlei Erfahrung oder Fachwissen
verfügte. Immerhin gelang es bereits Anfang Juli - (S.35)
allerdings nur Dank der Vermittlung der Einsatzgruppen -
einen weissrussischen Emigranten, Dr.Tumasch, als
"Stadtkommissar" einzusetzen. Daneben wurden "drei
zuverlässige Weissruthenen" als Magistrat etabliert und
eine provisorische Hilfsstadtverwaltung mit ca. 150
Beschäftigten - vornehmlich aus ehemaligen Insassen des
Internierungslagers - zusammen- gestellt.
(25. Ereignismeldung UdSSR Nr.21, BA R58/214
144; vgl. Ereignismeldung UdSSR Nr.17, BA R/58/214 108.
Ende Juli wurden sogar in allen Rayons des Kreises Minsk
Emigranten als Verwaltungschefs eingesetzt, vermutlich
stammten sie aus der dreissigköpfigen Gruppe, mit der
Dr.Tumasch nach Minsk gekommen war, vgl. Ereignismeldung
UdSSR Nr.36, BA R58/215 167).
Die Militärverwaltung strebte also zumindest auf der
untersten, kommunalen Ebene die Schaffung einer
eigenständigen, einheimischen Verwaltung an.
(26. Vortrag Regierungsrat (RR) Jungwirth beim
GKW vom 8.4.43, BA R93/20 1497 (fortan: Jungwirth).
Dies hätte durchaus der Grundstein zu einer weiteren
Zusammenarbeit mit kollaborationsbereiten Kräften sein
können.
Die Stadtverwaltung besass Mitte Juli schon 13
Fachverwaltungen (27.
Feldkommandantur 812). Allerdings ist deren
Effektivität sehr skeptisch zu beurteilen. Die aus "in der
Stadt vorhandenen Wolgadeutschen" gebildete Hilfspolizei
und der weissrussische unbewaffnete "Ordnungsdienst"
wurden beispielsweise in den Einsatzgruppenmeldungen als
"organisierte Räuberbande" bezeichnet, die die Bevölkerung
terrorisiere.
(28. Ereignismeldungen UdSSR Nr.37, BA R58/216
227. In derselben Meldung wird von der Exekution eines
Ordnungsdienstmannes berichtet, er illegal Wohnungen
durchsucht und geplündert haben soll, ebenda 240. Die
Vermutung liegt nahe, dass - wie auch anderswo -
zumindest ein Teil der "Ordnungskräfte" aus der Minsker
Halb- und Unterwelt gestammt haben dürfte. Wie später
zugegeben wurde, hatten sich die Weissrussen mit
"organisierten" Waffen selbst eingedeckt, Minsker
Zeitung vom 26.6.42).
Sie waren von der Feldgendarmerie (S.36)
gegründet worden.
(29. Feldkommandantur 812 46. Die Gesamtstärke
beider Einheiten wird mit 70 Mann angegeben, ebenda).
Nicht viel besser war es - um ein anderes Beispiel zu
nennen - um das von Deutschen geführten "Amt für Presse
und Propaganda�� bestellt. Man agierte mit wörtlichen
Übersetzungen von Wehrmachtsberichten, die offenbar weder
das Informationsbedürfnis der einheimischen Bevölkerung
stillen konnten noch auf ihre Mentalität zugeschnitten
waren (30.
Ereignismeldung UdSSR Nr.37, BA R85/216 222).
Ein Anfang August unternommener Versuch, mit der
Herausgabe eines weissrussischen Mitteilungsblattes
Terrain zu gewinnen, scheiterte an dem zu hohen Preis. Den
dort angestellten Weissrussen
gelang es zudem, einige nationalistische Artikel
unterzubringen, die zumindest dem SD zu weit gingen. Im
September wurde dann bereits über einen Rückstand
gegenüber der - illegalen - sowjetischen Propaganda
geklagt (31.
Ereignismeldung UdSSR Nr.42, BA R58/216 283). Der
sehr wohl vorhandene immense Nachrichtenhunger (32. Ereignismeldung
UdSSR Nr.43, BA R58/215 169) in der Bevölkerung
konnte also nicht genutzt werden. Das Medium Rundfunk
blieb gänzlich ungenutzt. Der im August anlaufende Minsker
Rundfunk wurde zunächst als reiner Soldatensender
betrieben.
(33. Hermann Tölle: "Rundfunk in
Weissruthenien", in: Reichsrundfunk 1942/43, Heft 19,
370).
Die wichtigste Aufgabe war die Lösung des
Ernährungsproblems. Die massiven Schwierigkeiten ergaben
sich aus der Tatsache, dass es nicht gelang, die alten
Austauschbeziehungen mit dem Umland wiederherzustellen;
von dort (S.37) zurückströmende Geflüchtete erschwerten
die Lage. Die Folge war neben andauernden Plünderungen und
Hunger die Rückkehr zur Natural- und Tauschwirtschaft. Den
Militärbehörden gelang es - wie von ihnen selber
zugestanden - nicht, durch Gegenmassnahmen die Lage zu
konsolidieren. Diese bestanden in der Einrichtung von
städtischen Versorgungslagern und -läden. Appellen an die
Bevölkerung, Eröffnung von Märkten und Gemeinschaftsküchen
sowie Dienstleistungsbetrieben zu Festpreisen.
(34. Feldkommandantur 812 42/43. Zur Lage
Anfang September vgl. Ereignismeldung UdSSR Nr.73, BA
R58/216 280; Gegenmassnahmen werden beschrieben in der
Ereignismeldung UdSSR Nr.37, BA R58/216 231;
Erscheinungen der Naturalwirtschaft in den
Ereignismeldungen UdSSR Nr.37 und 43, BA R58/216 231,
R58/215 168).
Erhebliche Schwierigkeiten ergaben sich bei der
Wiederinbetriebnahme von kriegswichtigen
Industriebetrieben. Neben den Zerstörungen waren die
Engpässe in der Wasser- und Stromver- sorgung und die noch
unabgeschlossene Registrierung der arbeitsfähigen
Bevölkerung dafür ausschlaggebend.
(35. Feldkommandantur 812 41/42;
Ereignismeldung UdSSR Nr.23, BA R58/214 166).
So waren denn bis Oktober 1941 von den ehemals 332
Betrieben mit 40.000 Beschäftigten erst 39 mit 3378
Arbeitern wieder in Gang gebracht worden (36. Wilinchik 194).
Insgesamt konnte die Militärverwaltung kaum positive
Akzente für die weitere Besatzungszeit setzen. Es gelang
ihr weder, die dringendsten Versorgungsprobleme der Stadt
zu lösen, noch eine funktionierende Verwaltung und
Kontrolle der Einwohner zu organisieren oder dauerhafte
Strukturen der Zusammenarbeit mit den Minskern zu
etablieren. Selbst die Unterstützung für die Wehrmacht
zeigte kaum Erfolge. Fragt man nach den Gründen, so fallen
zunächst objektive Schwierigkeiten ins Gewicht
(S.38): Die Flucht der
allermeisten Fachkräfte mit der Roten Armee, das Fehlen
einer grösseren, kollaborationsbereiten
Bevölkerungsgruppe - nicht zuletzt verursacht durch die
Stalinschen "Säuberungen der 30er Jahre", die die
nationalistische weissrussische Intelligenz stark
getroffen hatten (37. Vakar 169) -,
die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und die immense
Zerstörung der Stadt in den ersten Kriegstagen sind hier
zu nennen. Daneben fällt das Fehlen einer
durchkonzipierten Besatzungs- politik ins Gewicht; die
Massnahmen waren wenig aufeinander abgestimmt, man war
schlecht auf die Situation vorbereitet, reagierte
unflexibel.
(38. Später, im Januar 1943, pries die Minsker
Zeitung das Improvisieren, von ihr "Organisieren"
genannt, als den "wichtigsten Begriff" im Osten, Minsker
Zeitung 10./11.1.43).
Zudem war die Personaldecke viel zu dünn, wollte man den
Anspruch auf Leitung und Kontrolle aller Massnahmen
aufrechterhalten. Neben der mangelnden Vertrautheit mit
Land und Leuten fallen als subjektive Kriterien die
ideologischen Denkmuster ins Gewicht, die auch bei vielen
Massnahmen der Militärs deutlich durchschimmerten. Die
brutalen Sofortmassnahmen gegen Juden und als asiatisch
eingestufte Menschen gehören in diesen Zusammenhang. Die
hierbei federführenden Einsatzgruppen werden im
nachfolgenden Kapitel beschrieben, wobei aber klar werden
wird, dass Militärdienststellen sich ihnen nicht nur nicht
widersetzten, sondern aktiv und initiativ beteiligt waren.
3.2.2. Die Einsatzgruppen in Minsk
Wie geplant folgten die Einsatzgruppen (EGr) unmittelbar
der kämpfenden Truppe. Im zeitlichen Vorgriff soll hier
ihr gesamter Aufenthalt in Minsk bis zur Einsetzung eines
KdS rekonstruiert werden. Die ersten Angehörigen des SK
(S.39) 7a trafen am 2.Juli
1941 ein, am 4.7. gaben bereits die Sks 7a und 7b die
weissrussische Hauptstadt als ihren Sitz an. Vom 5. bis
ca. 19.Juli befand sich im ehemaligen "Haus des
weissrussischen Sowjets" - von den Deutschen stets "das
Hochhaus" genannt - das Hauptquartier der Einsatzgruppe B
unter Arthur Nebe. Das in der letzten Julidekade in Minsk
eingetroffene EK 8 blieb hier mindestens sechs Wochen und
liess, als es weiterzog, einen kleinen Resttrupp zurück,
der zusammen mit einem im September eingetroffenen
Vortrupp der Einsatzgruppe A - der das neugegründete
Generalkommissariat Weissruthenien seit 1.September
zugeteilt worden war -
(39. Das Einsatzgebiet der Egr B war zu gross
geworden, während die Egr A durch den stockenden
Vormarsch im Baltikum "unterbeschäftigt" war).
ca. zehn Leute umfasste. Dieser Zustand dauerte bis Mitte
November an, als das erste Vorkommando des EK 1b Minsk
erreichte. Ende des Monats war die gesamte Einheit unter
Obersturmbannführer Ehrlinger eingetroffen und hatte im
ehemaligen Universitätsgebäude Quartier bezogen. Am
3.12.41 erfolgte die Gründung der "Dienststelle des
Kommandeurs der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD".
Anders als bei der Verwaltung begann die
Institutionalisierung der Sipo/SD-Kräfte also erst im
Dezember 1941.
(40. Krausnick 173-183, 286; Justiz XVII 511;
Ereignismeldungen UdSSR Nr.13, 14 und 20, BA R58/214 55,
77,105,132).
Bis zum Einzug der Zivilverwaltung erstreckten sich die
Aktivitäten auf die Schaffung eigener Informationsquellen,
die Betreuung des Internierungslagers und erste
Exekutionen von Juden.
Zur Sicherung des eigenen Einflusses war es zunächst
einmal notwendig, zuverlässige Informationen über die
Situation in der Stadt zu gewinnen. Der Aufbau eines
V-Mann-Netzes mit im September bereits 40 Mitgliedern
(S.40) sollte dies Problem lösen. (41. Ereignismeldungen UdSSR Nr.20 und
61, BA R58/215 267 und R58/217 295). Aktive
Politik versuchte man durch Kontaktaufnahme und Förderung
einzelner Vertreter orthodoxer Kirchen, insbesondere der
autokephalen Richtung, und Behinderung katholischer
Missionsbemühungen zu betreiben. Hiervon versprach man
sich eine Förderung separatistisch-antirussischer
Bestrebungen sowie eine Eindämmung des polnischen
Einflusses. (42.
Ereignismeldungen UdSSR Nr.50 und 88, BA R58/215 267 und
R58/217 226/227). Das zweite Element der
zaghaften politischen Bemühungen der Einsatzgruppen
bildete die Vermittlung von Emigranten für
Verwaltungsaufgaben.
Ein weiterer Aufgabenbereich der Kommandos war die
Unterstützung der Wehrmacht bei der "Durchkämmung" des
Internierungslagers, d.h. bei der Überprüfung der hier
Inhaftierten und der Erschiessung aller Unliebsamen. Die
"Liquidierungen" begann gleich nach dem Eintreffen in
Minsk. Sie hatten sich Mitte Juli schon "eingespielt". (43. Ereignismeldung
UdSSR Nr.21, BA R58/214 152). Exekutiert wurden
neben Juden "Funktionäre, Asiaten, Kriminelle u.s.w." (44. ebenda). Nach
einzelnen Angaben in einigen Ereignismeldungen bewegte
sich die Zahl der Ermordeten zwischen 200 und 700 täglich.
(45. Ereignismeldungen UdSSR Nr.36,37,42 und
92, BA R58/215 75, R58/216 240 und 310, R58/217 294. Die
Zahl der insgesamt "Überprüften" wird nur in der letzten
Meldung genannt. Hier betrug sie 2000 Personen).
Hauptaufgabe war
jedoch schon in den ersten Tagen die Erfassung,
Absonderung und Ermordung von Juden. Nach dem bereits
aus anderen besetzten Ländern bekannten Muster war
bereits am 13.Juli ein Judenrat gebildet worden, dem
(S.41) die Registrierung und Kennzeichnung der Juden mit
dem "Judenfleck" oblag.
(46. Ereignismeldung UdSSR Nr.21, BA R58/214
146; Feldkommandantur 812 46. Zur Praxis der Judenräte
vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München 1964,
190-248).
Mitte des Monats wurde dann mit der Umzäunung des Ghettos
im nordwestlichen Stadtzentrum begonnen; es wurde vom
20.-25.Juli von ca. 80.000 Menschen bezogen.
(47. Nemecko 54; Ereignismeldung UdSSR Nr.31,
BA R58/215 9; Feldkommandantur 812, 46. Vgl. Kapitel
6.1. der vorliegenden Arbeit).
Ein jüdischer Ordnugnsdienst sowie jüdische
Selbstverwaltungsstellen waren für Ruhe und Ordnung
innerhalb des Ghettos zuständig, Wehrmachtsangehörige und
Hilfspolizei überwachten es von aussen. Jüdische
Arbeitskolonnen wurden gebildet, die zunächst das Ghetto
mit einer Ziegelmauer umgeben mussten und danach für
Arbeiten innerhalb und ausserhalb des jüdischen
Wohnbezirks eingesetzt wurden. Alle diese Massnahmen
wurden von Einsatzgruppen und Wehrmacht gemeinsam
durchgeführt. Den Befehl zur Errichtung des Ghettos
unterzeichnete der Feldkommandant (48. Feldkommandantur 812 45/46;
Prestuplenija 4). Die Umsiedlung von 80.000
Menschen in fünf Tagen war letztlich nur durch die
erzwungene Mitarbeit des Judenrats möglich.
Daneben wurden von Anfang an Juden erschossen. Bereits am
24.Juli meldete die Einsatzgruppe, dass die gesamte
jüdische Intelligenzschicht - Lehrer, Professoren,
Rechtsanwälte etc. mit Ausnahme der Mediziner -
"liquidiert worden" sei (49. Ereignismeldung UdSSR Nr.32, BA R58/215
21). Da auch sonst vierstellige
Erschiessungszahlen gemeldet wurden, bezieht sich die
Aussage der Ereignismeldung Nr.33, "die Lösung der
Judenfrage während des Kriegs erscheint in diesem Raum
undurchführbar"
(50. Ereignismeldung UdSSR Nr.33, BA R58/215 45) (S.42),
eher auf den ländlichen Raum. In Minsk hatte man die
übergrosse Mehrheit der Juden bereits unter Kontrolle.
Die Arbeit der Einsatzgruppen wurde in den ersten zwei
Monaten durch die reibungslose Zusammenarbeit mit allen
Wehrmachtsstellen erheblich begünstigt (51. Vgl.
Ereignismeldung UdSSR Nr.27, BA R58/214 221). Es
gab keine ernsthaften Konflikte bei politischen oder
organisatorischen Entscheidungen. Dasselbe trifft auf die
Durchführung des Mordprogramms zu. Der Antisemitismus war
scheinbar weit in Wehrmachtskreise vorgedrungen.
3.3. Die Bevölkerung
Die Vorgänge dieser ersten Monate würden nicht
verständlich, wenn nicht versucht werden würde, die
Ereignisse aus dem Blickwinkel der Minsker zu betrachten.
Da die Stadt schon am sechsten Kriegstag besetzt wurde,
gelang nicht allen Minskern, die dies versuchten, die
Flucht. (52.
Novikov 24/25. Vgl. das Einzelschicksal einer
gescheiterten Flucht in Korenkova 236-238).
Die allgemeine Stimmungslage war, wie die Deutschen
regelmässig berichteten, apathisch und niedergeschlagen,
beinahe depressiv.
(53. Ereignismeldungen UdSSR Nr.20,23,43,37, BA R58/214
133,166, R58/215 78,169, R58/216 221).
Zwar stand man den neuen Herren nicht grundsätzlich
feindlich gegenüber (54. Vakar 185; Ereignismeldung UdSSR Nr.31,
BA R58/215 7), jedoch schürten mehrere
Komponenten die Zukunftsangst der Einwohner. Im
Mittelpunkt stand dabei der Kampf ums tägliche Überleben:
um ein Dach über dem Kopf - man musste häufig die knappen
Wohnungen wechseln (55. Novikov 27) -, ums Essen, die
(S.43) Furcht vor einer Hungersnot war allgegenwärtig (56. Ereignismeldung
UdSSR Nr.73, BA R58/216 281). Die natürliche
Folge war neben anfänglichen Plünderungen ein blühender
Schwarzmarkt, der bald unkon- trollierbar wurde (57. Ereignismeldung
UdSSR Nr.37, BA R58/216 31). Daneben fürchtete
man die Rückkehr der Roten Armee und die damit verbundenen
Racheakte an tatsächlichen oder vermeintlichen
Kollaborateuren: eine nach den Erfahrungen von zehn Jahren
Stalinscher Herrschaft mit ihren "Säuberungs"-wellen
verständliche Furcht.
(58. Ereignismeldung UdSSR Nr.73, BA R58/216
281. Zu den Massakern der Vorkriegszeit in der Gegend
von Minsk vgl. S.Posnjak: "Kuropaty - Eine Tragödie, von
der alle wissen müssen", in: Moskau News, November 1988,
18).
Angesichts der gefahrenbeladenen Unsicherheit verwundert
es nicht, wenn die Minsker versuchten, sich aus
politischen Angelegenheiten herauszuhalten. Einerseits
führte dies dazu, dass neben illegalem Abhören
sowjetischer Sender - also einer im Grunde passiven
Handlung - kaum Widerstandsakte bezeugt sind;
(59. Entsprechende Meldungen sind in den
Ereignismeldungen jedenfalls sehr spärlich, Ausnahmen
finden sich in en Meldungen Nr.37 und 73, BA R58/216 240
und 280. Auch in der sowjetischen Literatur findet sich
wenig mehr als Allgemeinplätze, vgl. Borba I 94; darüber
hinaus gab es in den ersten Tagen der Besetzung
Heckenschützen ungeklärter Herkunft, wahrscheinlich
handelte es sich um versprengte Rotarmisten, Minsker
Zeitung vom 28./29.6.42).
andererseits fiel es aber auch den Deutschen schwer,
Einheimische zur Mitarbeit in ihrem Sinne heranzuziehen.
Sie blieben im wesentlichen auf Emigranten angewiesen.
Aktionen aus Eigeninitiative - wie die Umbenennung
sowjetischer Strassennamen -
(60. Wehrmachtsbefehlshaber Ostland an RKO vom
22.8.42, BA R90/126 469)
blieben die absolute Ausnahme, den Einsatzgruppen gelang
es nicht, "spontane" Pogrome der Bevölkerung gegen Juden
(S.44) wie z.B. in Litauen zu
initiieren (61.
Ereignismeldung
UdSSR
Nr. 43, BA R58/215 170; vgl. Kapitel 4.5).
War auf weissrussischer Seite kaum Antisemitismus
vorhanden, so zeigten sich die Juden bemerkenswert
schlecht über das ihnen drohende Schicksal unterrichtet.
Ihr Verhalten scheint sich in der ersten Zeit kaum von dem
anderer Minsker unterschieden zu haben (62. Bericht des
Vertreters es Ostministeriums (OMi) an OKH/GenQu Nr.33,
Juli 41, BA R90/126 3).
Die Haltung der Bevölkerung kann insgesamt als ängstlich
abwartend und besorgt charakterisiert werden. Sie scheint
unter einer Art kollektivem Schockzustand gestanden zu
haben, den ein deutscher Beobachter anschaulich
schilderte: "In den gähnenden Mauerhöhlen, aus denen
heisse Glutwellen entgegenschlagen, kramen die Einwohner,
meist armselig gekleidete Frauen, unter der Asche ihre
Habe hervor. Viele haben schon das vergebliche Suchen
aufgegeben. Sie stehen nur stumm und gebeugt neben ihrer
einstigen Wohnstätte." (63. Minsker Zeitung vom 28./29.6.42). Sie
waren nur in der Lage zu reagieren, das Agieren blieb den
deutschen Stellen vorbehalten, ihre Taten würden das
weitere Verhalten der Bevölkerung massgeblich
beeinflussen. (S.45)