(Endnote 1:
Das meiste dieses Einleitungkapitels basiert auf einem nicht
publizierten Manuskript von Herman Bernstein: "Die Geschichte
der amerikanisch-jüdischen Hilfeleistungen" (orig.: "The
History of American Jewish Relief"), geschrieben im Jahre
1928, jetzt in der JDC-Bibliothek. Oscar Handlin: Eine
Daueraufgabe (orig.: A Continuing Task) (New York, 1964) und
Herbert Agar: Die letzten Geretteten (orig.: The Saving
Remnant) (New York, 1960), wurden auch benutzt).
[Palästina 1914:
Judenverfolgung - Ruf nach Hilfe von Henry Morgenthau an
Jacob H. Schiff: 50.000 $]
Im August 1914 erreichte ein Telegramm das Büro von Jacob H.
Schiff, der Chef des Bankhauses Kuhn, Loeb & Co. Es war
vom US-Botschafter in der Türkei, Henry Morgenthau, Sr.,
abgeschickt worden und enthielt die Bitte, dass 50.000
an die Juden in Palästina gesandt würden, die durch Verfolgung
und Hunger bedroht seien, wegen der feindlichen Haltung der
türkischen Regierenden im Land. Die Auswirkungen des ersten
Weltkriegs auf die Juden in Europa und im Mittleren Osten
erreichte das amerikanische Judentum.
[Amerikanisch-jüdisches
Komitee (American Jewish Committee AJC) 1906 - Jacob H.
Schiff organisiert 50.000 $ für Palästina]
Schiff präsentierte die Sache seinen Freunden des American
Jewish Committee (AJC), das 1906 gegründet worden war, und das
sich nicht nur dem Schutz der jüdischen Zivilrechte und
religiösen Rechte in der ganzen Welt widmete, sondern auch
"die Folgen der Verfolgung zu lindern und den von Katastrophen
betroffenen Juden Hilfe zu eilten, wo immer sie geschehen." Am
31. August wurde das Geld gesammelt, mit Schiff und dem
Zionistischen Provisorischen Komitee (Zionist Provisional
Committee) (effektiv, Nathan Straus). Beide Teile gaben 12.500
$, und das AJC sprach den Rest von 25.000 $.
[Das Judentum in den "USA":
Spanische, portugiesische, deutsche und osteuropäische
Juden]
Das amerikanische Judentum war im Jahr 1914 tiefer gespalten
als in den kommenden Generationen. Neben der alten Teilung
zwischen den Nachkommen der spanischen und portugiesischen
(sephardischen) Juden und den deutsch-jüdischen Brüdern
(aschkenasisch), waren nun auch innerhalb des deutschen
Judentums tiefe Spaltungen - da waren die (S.3)
Mittel- und Oberklasse, die Liberalen, die sich schnell der
amerikanischen Lebensart anpassten - und da waren die Massen
der osteuropäischen Juden, die erst seit 1882 in der Neuen
Welt angekommen waren. Letzter waren in grossem Mass
Proletarier oder untere Mittelschicht, und ihre geistige
Identität war entweder jüdisch-orthodox oder, im anderen
Extrem, sozialistisch und antireligiös. Zwischen den beiden
Gruppen gab es sehr wenige Gemeinsamkeiten, ausser dass da ein
ungewisses und unklar definiertes Gefühl war, dass man eine
gemeinsame Herkunft und einen gemeinsamen kulturellen
Hintergrund hatte, der ihnen mehr bedeuten sollte, als dies
aktuell der Fall war.
[Deutsch-jüdische Führung in
den "USA"]
Die deutsch-jüdische Führung des amerikanischen Judentums war
eine hochgradig menschenfreundliche, intellektuelle Gruppe von
Frauen und Männern. Die soziale Elite an der Spitze bestand
aus Bankiers, Händlern, Richtern, Anwälten und Ärzten; sie
hatten ein gutes Zuhause, waren belesen, waren Schirmherren
der Künste und des Sports, unterstützten und förderten eine
gut geordnete Demokratie. Ihre Menschenfreundlichkeit war
ernsthaft und gut gemeint. Die meisten von ihnen - einige
waren bekannte Ausnahmen - hielten einige der religiösen
Regeln ihrer Vorfahren ein, oder eher jene davon, die von der
jüdischen Reformbewegung nicht aussortiert worden waren. Aber
es geschah auch, dass ihnen die Religion weniger bedeutete, je
mehr die Zeit fortschritt.
[Deutsche Juden in den "USA"
geben europäischen Juden finanzielle Hilfe für die
Assimilation]
In einem gewissen Sinn bestand ihre soziale Verpflichtung
gegenüber ihren Brüdern (die sie peinlichst als
"Glaubensgenossen" bezeichneten, um die Tatsache zu betonen,
dass zwischen ihnen nichts als die Religion gemeinsam war,
oder Reste davon) aus einer Art vererbtem Wesenszug. Der
gemeinsame Charakterzug war in den Ghettos in Deutschland
entstanden, die ihre Vorfahren [im 14.-18.Jh.] hatten erleben
müssen, wo knapp drei Generationen, bevor Morgenthau an Schiff
sein Telegramm sandte, das Leben denselben Typ Juden
hervorbrachte, wie er in Osteuropa noch bestand. In ihren
Bemühungen, sich "anzupassen", das heisst, Bürger in der Welt
zu werden, in der sie lebten, beurteilten sie ihre Hilfe an
die Juden als einen Teil eines Ganzen in ihrer Sorge um die
Menschlichkeit. Die gemeinsame Vergangenheit gab ihnen eine
moralische Pflicht, jenen Juden im zurückgebliebenen Europa zu
helfen, damit sie auch die glückliche Stufe der Gleichheit
erreichen konnten - und somit auch Wohlstand - den sie auch
selbst erlangt hatten. Dies - so erhoffte man sich - würde das
Ende des jüdischen Problems der europäischen Juden bedeuten;
es wäre dann auch das Ende ihres eigenen (S.4)
Problems als Juden, und es würde sie nicht länger
beeinträchtigen. Nun bestand in der Zwischenzeit die
Verpflichtung, und es galt, sie ehrenvoll und in Offenheit zu
erfüllen.
[Deutsche Juden in den "USA"
unterstützen allgemein mehr Projekte der Menschlichkeit als
Juden in Europa]
Die Sorge der deutschen Juden in Amerika um die Menschlichkeit
generell, und um die Juden im Speziellen, war kein Vorwand; im
Gegenteil hatte ihr liberaler Hintergrund und ihre Erziehung
in ihnen ein starkes Gefühl für Verantwortung gegenüber den
Armen und den Unterprivilegierten entwickelt. Oft überstieg
der Anteil ihrer Ausgaben für allgemeine, nicht an Sekten
gebundene, geistige Angelegenheiten die Beträge, die für ihre
"Glaubensbrüder" ausgegeben wurden; aber sogar dies war Teil
ihrer starken, typisch jüdischen Denkweise eines sozialen und
moralischen Gebots, das sie als eine Gruppe von anderen
reichen Männern in Amerika unterschied. Ihre Betonung auf
Nicht-Sektiererei gab ihrem jüdischen Dasein einen speziellen
Stellenwert. Sie versteckten das nicht; sie waren sich dessen
bewusst, und die meisten von ihnen sahen es ausgesprochen als
eine Ehrensache an, diese Denkweise beizubehalten.
[Führer Louis Marshall bis
1929 - das AJC ist in Gruppen gespalten: Zionisten und
Antizionisten]
Das American Jewish Committee [AJC] war
der organisierte Ausdruck
der deutsch-jüdischen, geistigen Aristokratie, der Kultur, und
des Geldes. Der Kopf war bis zu seinem Tod der unumstrittene
Führer des amerikanischen Judentums, Louis Marshall - ein
Anwalt, Staatsmann, und ein Denker. Das AJC, das von ihm
geführt wurde, war aber mitnichten homogen, was die
politischen Perspektiven betraf.
Da waren Unterschiede, die aus der amerikanischen, politischen
Szene herrührten, und auch die Spaltung in Zionisten und
Nicht-Zionisten. Die Richter Louis D. Brandeis und Julian W.
Mack wurden während des Krieges die Hauptstützen des
amerikanischen Zionismus. Andere, speziell Julius Rosenwald,
der Chef von Sears Roebuck [eine Ladenkette für
Haushaltwaren], folgten der deutsch-jüdischen, liberalen
Tradition und sahen im Judentum nur einen religiösen Glauben,
und lehnte all die Implikationen einer jüdisch-nationalen
Identität ab. Die Mehrheit des AJC tendierte dazu, Marshall in
seinem Willen zu folgen, Palästina aufzubauen, dessen grosse,
geistige Wichtigkeit in der jüdischen Geschichte sie
anerkannten - als
ein
Platz für Flüchtlinge, nicht notwendigerweise als
den Platz für
Flüchtlinge, für jene Juden, die dort hin gehen wollten, oder
dazu gezwungen wurden.
[Vor 1914: AJC-Führer hoffen,
dass der Nationalismus durch Liberalismus verschwinden wird]
Zur gleichen Zeit taten sie alles, was in ihrer Macht stand,
um Juden zu helfen, national und rechtlich in ihren
Wohhnortsländern gleichgestellt zu werden, so dass sie nie
nach einem Flüchtlingsplatz würden suchen müssen. (S.5)
Früher oder später - so hoffte man - würde die gefährliche
Idee des Nationalismus insgesamt verschwinden.
[Ergänzung: Der
Herzl-Rassismus gegen die Araber
Die jüdischen Führer haben keine Ahnung von der arabischen
Existenz, und bis zu diesem Zeitpunkt haben die Araber auch
keine Waffen, und der Rassist Herzl gibt in seinem Buch "Der
Judenstaat" von 1896 an, man könne die Araber vertreiben wie
die Eingeborenen in den "USA", und vielleicht gäbe es dort
auch Goldminen auszubeuten wie in Südafrika. Aber ab 1915 sind
die Araber durch den Ersten Weltkrieg bewaffnet, und dies wird
von der jüdisch-zionistischen Politik nie berücksichtigt. Die
"zionistische Bewegung" ist also eine rein
rassistisch-kapitalistische Bewegung].
[1914-1918: Durch den Ersten
Weltkrieg kommt neuer Nationalismus auf - 10 der 15 Mio.
Juden sind vom Krieg betroffen]
Diese Glaubensrichtungen wurden sehr ernsthaft vertreten, und
dann folgte die Zeit mit dem Sommer 1914 - als die gesamte
Struktur des Liberalismus des 19. Jh. zusammenbrach. Der
Zusammenbruch wurde von einer Katastrophe begleitet und traf
die jüdische Bevölkerung in den östlichen und südöstlichen
Teilen Europas und im Mittleren Osten. Drei Imperien und ein
Königreich - Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland, und
Rumänien [England?] - waren in einen tödlichen Konflikt
verwickelt. Von über 15 Millionen Juden weltweit lebten 10
Millionen in diesen Ländern.
[1914-1918: Jüdische
Flüchtlinge in Osteuropa zwischen den Fronten]
Innerhalb einer sehr kurzen Zeit wurden 500.000 Juden
innerhalb Russlands zu jüdischen Flüchtlingen. Sie wurden von
den zaristischen Armeen vertrieben. 400.000 weitere flohen vor
den heranrückenden Russen in das Innere von Österreich-Ungarn.
Dann überrannten die deutschen Armeen grosse Gebiete des
einstmals russischen Polen. Von diesen Vorgängen waren
ungefähr 800 Gemeinden und Dörfer betroffen und stark
beschädigt, wo Juden lebten, und ungefähr 80.000 jüdische
Häuser wurden zerstört.
(Endnote 2: Bernstein: Geschichte der amerikanisch-jüdischen
Hilfsarbeit (engl.: History of American Jewish Relief), S.161)
Ausserdem gilt es zu betonen, dass die Aktionen des
amerikanischen Judentums durch die alarmierenden Nachrichten,
die die USA hinsichtlich des Schicksals der 85.000 Juden in
Palästina errreichten, angestossen wurden.
[4. Oktober 1914: Orthodoxe
Juden gründen das Zentralkomitee (Central Committee), um
leidenden Juden zu helfen]
Die ersten, die agieren mussten, waren die orthodoxen Juden,
die meistens aus Osteuropa stammten. Am 4. Oktober 1914
gründeten sie das Zentralkomitee zur Hilfe der notleidenden
Juden im Krieg (Central Committee for the Relief of Jews
Suffering through the War). Die Hauptdirektoren des Komitees
waren Leon Kamaiky, Harry Fischel, Harry Lucas, und Morris
Engelman. Aber orthodoxe Juden konnten die Last kaum alleine
tragen.
[25. Oktober 1914: Das
Amerikanisch-Jüdische Komitee gründet das
Amerikanisch-Jüdische Hilfskomitee (American Jewish Relief
Committee (AJRC)]
Die Führung des Amerikanisch-Jüdischen Komitees (American
Jewish Committee, AJC) berief deshalb ein Treffen von 40
Organisationen ein, das am 25. Oktober 1914 in New York
stattfand. Dort wurde ein Komitee der Fünf gewählt: Oscar S.
Straus, Louis D. Brandeis, Julian W. Mack, Harry Fischel (vom
Zentralkomitee, Central Committee), und Meyer London (von den
Sozialisten). Dieses Komitee seinerseits fragte 100 prominente
Juden aller Lebensrichtungen, Direktoren für ein neues Komitee
auszuwählen: für das Amerikanisch-Jüdische Hilfskomitee
(American Jewish Relief Committee, AJRC). Louis Marshall wurde
Vorsitzender, Felix M. Warburg wurde Schatzmeister, und Cyrus
L. Sulzberger wurde der Sekretär. (S.6)
[27. November 1914: Eine
Organisation für die Geldverteilung: Gründung des
Vereinigten Verteilungskomitees (Joint Distribution
Committee, JDC)]
Im Gegensatz zu den Erwartungen aber entschied die orthodoxe
Gruppe am Ende, sich nicht am AJRC zu beteiligen, und so wurde
am 27. November 1914 eine andere Körperschaft eingerichtet, um
die gesammelten Gelder getrennt von den beiden Komitees zu
verteilen. Auf den Vorschlag des neuen Rechnungsprüfers des
Komitees, Harriet B. Lowenstein, der Sekretär von Felix M.
Warburg, wurde die Verteilungsorganisation Joint Distribution
Committee [Vereinigtes Verteilungskomitee] genannt.
[August 1915: Die Sozialisten
gründen das Volks-Hilfskomitee (People's Relief Committee) -
der "Joint" wird bekannt]
Im August 1915 richteten die Sozialisten eine dritte
Körperschaft ein, die mit den anderen zusammenarbeiten sollte,
das Volks-Hilfskomitee (People's Relief Committee), unter
Leitung von Meyer London, Sholem Asch und anderen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später, auch wenn die drei
originalen Komponenten seit langem nicht mehr arbeiten, so
bleibt der offizielle Name American Jewish Joint
Distribution Committee; damit wurde ein Tradition etabliert,
und keiner würde daran denken, den schwerfälligen Namen zu
ändern. "Der Joint" wurde für Millionen Juden zu einem
Umgangswort.
[Bitten der jüdischen
Kriegsopfer 1914-1918 - 1,5 Mio. $ auf dem Dampfer "Vulcan"
für Palästina - der Dampfer "Des Moines" für Palästina]
Die Bitten, die während der Kriegsjahre 1914-1918 an die junge
Organisation kamen, waren enorm. In den USA wurden örtliche
und staatliche Komitees organisiert, und Sprecher wie Judah L.
Magnes, ein Reformrabbiner, Pazifist, Enfant Terrible, und -
später - Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem,
einer der grossen Redner seiner Zeit, wurden auf
Spendensammlungsreise geschickt. Bis zum Ende des Jahres 1915
konnten ungefähr 1,5 Millionen $ aufgebracht werden. Dieses
Geld wurde an Bord des Kohlendampfers U.S.S.
Vulcan im März 1915 nach
Palästina geschickt, zusammen mit 900 Tonnen Lebensmittel und
Medizin (55 % kam den leidenden Juden zugute, der Rest wurde
auf einer nicht-konfessionellen Basis unter der Aufsicht des
amerikanischen Konsuls verteilt).
Nach langer Verspätung erreichte auch ein zweites
Gnadenschiff, die U.S.S.
Des
Moines, im September 1916 Palästina.
[Hilfe für die
österreichischen Juden in Russland]
Die Jüdische Hilfsgesellschaft in Russland, EKOPO, erhielt vom
Verteilungskomitee JDC Geld, um die Flüchtlinge der
Kriegsgebiete zu versorgen, speziell, jene, die von
gegnerischen Territorien stammten (d.h. aus Österreich), weil
diesen von der zaristischen Regierung verboten worden war,
Hilfe von russisch-jüdischen Institutionen zu erhalten.
[Hilfe des Hilfsvereins der
deutschen Juden für Juden im deutsch besetzten Polen]
Was das deutsch besetzte Polen angeht, so richtete der
Hilfsverein der deutschen Juden einen speziellen Zweig ein, um
den betroffenen Juden in diesem Gebiet zu helfen. Sie
fungierten als JDC-Vertreter (S.7)
dort bis zum amerikanischen Kriegseintritt im Jahr 1917.
[JDC-Inspektionen zur
Kontrolle der Verteilungen]
Das JDC sandte auch Magnes und Dr. Alexander Dushkin nach
Polen, um Anschludigungen über eine ungerechte Verteilung der
Gelder nachzuprüfen (die zwei Bevollmächtigten beseitigten das
Hilfsvereins-Komitee). Beide, die Anschuldigungen und die
Untersuchungskomission waren die ersten in einer Reihe
ähnlicher Ereignisse während der kommenden Jahrzehnte.
[Präsident Wilson erklärt den
27. Januar 1916 zum Hilfetag für leidende Juden (Jewish
Sufferers Relief Day)]
In der Zwischenzeit setzte Präsident Wilson auf Drängen von
Freunden der jüdischen Bevölkerung in den USA den 27. Januar
1916 als Hilfetag für leidenden Juden fest (Jewish Sufferers
Relief Day). An diesem Tag wurde 1 Million $ gesammelt.
[Sammlung des JDC 1914-1918:
Über 16,5 Mio. $ - Spendensammlung von Jacob Billikopf]
Bis Ende 1918 war es dem JDC gelungen, über 16,5 Mio. $ zu
sammeln. Dies war durch eine perfekte Spendensammlungstechnik
möglich, in weiten Teilen durch die Arbeit von Jacob Billikopf
von der Jüdischen Wohlfahrtsgesellschaft von Kansas City
(Kansas City Federation of Jewish Charities). Das Geld wurde
in den Gebieten des grössten Leids sehr sorgfältig verteilt.
Mit dem Fortschreiten des Krieges mussten grosse Summen nach
Österreich geschickt werden, und nach 1919 in jene Teile von
Rumänien, die erreicht werden konnten.
[Geldversand nach Amerikas
Kriegseintritt 1917-1918 durch das neutrale Holland - Boris
D. Bogen, Max Senior]
Nach Amerikas Kriegseintritt war das Hauptproblem, wie man das
Geld in die Gebiete schleusen konnte, die unter feindlicher
Kontrolle standen. Von der Gründung weg bestand das JDC auf
seine volle Legalität und auf die Zusammenarbeit mit dem
US-Aussenministerium. Jeder Schritt, den es unternahm, "wurde
erst nach Absprache mit und mit der Bewilligung der
Regierungs-Offiziellen unternommen, speziell bezüglich des
US-Aussenministeriums."
(Endnote 3: ebenda [Bernstein: History of American Jewish
Relief], S.178)
Mit der Regierungsbewilligung wurde vom Leiter der
Holländischen Bank im neutralen Holland ein Komitee gebildet;
das JDC sandte Boris D. Bogen und Max Senior aus Amerika, um
im dortigen Komitee Vertreter zu haben. Diese Gruppe
transferierte das empfangene Geld der USA an holländische,
diplomatische Vertreter in den betroffenen Gebieten weiter,
die das Geld gemäss den erhaltenen New Yorker Richtlinien via
Holland verteilten. Auf diese Weise konnten zwischen Frühling
1917 und März 19198 fast 2 Millionen $ in die
deutsch-besetzten Gebiete geleitet werden.
[Ab 1918: Neue
Nationalstaaten und neuer Nationalismus lässt die Juden
immer zum Opfer werden]
Trotz allen Anstrengungen, speziell in Russland, wurde das JDC
am Ende des Krieges mit einem unheimlichen Leid konfrontiert.
Allein in Polen waren wahrscheinlich über eine Million Juden
ohne ein Zuhause und hungerten regelrecht. Darüberhinaus
verursachten die Gründungen der neuen Nationalstaaten - Polen,
Litauen, Lettland, Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien,
(S.8)
Ungarn und Österreich - und die Bolschewikische Revolution,
weitere Verlagerungen und örtliche Kriege. Die jüdischen
Minderheiten, die nicht wussten, auf welcher Seite sie jeweils
stehen sollten, und die eine wenig beneidenswerte
Mittelklasse-Position in diesen nationalen und
revolutionär-massenhaften Nachkriegskämpfen einnahmen, wurden
bei jeder Verleumdung und Verfolgung jeweils zur Zielscheibe.
[Pogrome in Galizien und
Polen - Bürgerkrieg in der Ukraine - Epidemien]
In Ost-Galizien und in Nordost-Polen kam es zu blutigen
Pogromen, die von Polen angezettelt wurden. Noch schlimmer war
die Lage in der Ukraine, wo Bolschewiken und ihre
antisemitischen weissrussischen Gegner um die Macht kämpften.
Dabei wurden wahrscheinlich mehr als 200.000 Juden getötet
oder starben in den Seuchen in Ostpolen und in der Ukraine;
75.000 weitere wurden verwundet.
[1920-21:
Polnisch-sowjetischer Krieg mit jüdischen Opfern]
Das Leid war während des nutzlosen Polnisch-Sowjetischen
Kriegs 1920-1921 besonders brutal, der in Gebieten mit grosser
jüdischer Bevölkerung ausgetragen wurde.
[1919-1921 Osteuropa:
Jüdische Waisenkinder - Tuberkulose - verlassene Gemeinden -
verzweifelte Eltern verlassen ihre Kinder]
Die Resultate waren schrecklich. In Polen wurde die Anzahl
Waisenkinder nach dem Krieg auf 75.000 geschätzt. In der
Ukraine wurde von 200.000 Waisenkindern berichtet. Allein 60 %
der überlebenden Kinder in Galizien litten an Tuberkulose. In
der Ukraine lagen 500 jüdische Gemeinden verlassen da, und
ungefähr eine halbe Million Juden waren wirtschaftlich
ruiniert. Die Selbstmordrate schnellte alarmartig in die Höhe,
und einige Kinder erlebten es, dass sie von den Eltern vor die
Türe von relativ wohlhabenden Leuten abgesetzt und dann von
ihren Eltern verlassen wurden, weil diese die Verzweiflung,
ein hungerndes Kind zu haben, nicht mehr aushalten konnten.
(Endnote 4: In:
-- Jacob Lestschinsky: Crisis Catastrophe and Survival
(London, 1946)
-- Mark Wischnitzer: Die Juden in der Welt (Berlin 1935),
S.225)
[Der erste Holocaust
1914-1921 wurde nach 1945 vergessen]
Die Zerstörung des europäischen Judentums während des Zweiten
Weltkriegs hat die Erinnerung an den ersten Holocaust im 20.
Jh. als Folge des Ersten Weltkriegs ausgelöscht. Aber auch in
Begriffen von vor Auschwitz war das Erlebnis schlimm genug.
[1915-1921: Hilfsaktionen
durch das JDC - die Amerikanische Hilfsverwaltung (American
Relief Administration, ARA) - Herbert Hoover - Boris D.
Bogen]
Humanitäre Gruppen wie das JDC versuchten in einer
angebrachten Weise zu reagieren. Nach der Klärung einiger
Missversändnisse trug das JDC zu den Bemühungen eines
100-Millionen-$-Betrages der American Relief Administration
(ARA) under Herbert Hoover bei, das durch den Kongress
eingerichtet worden war, um den Leuten in Europa zu helfen.
Das JDC steuerte 3,3 Millionen $ bei, und im Gegenzug wurde
JDC-Angestellten wie Boris D. Bogen erlaubt, Hilfsmissionen
für Juden in Osteuropa als Vertreter des ARA zu unternehmen.
[1915-1921: Aktionen des
Joint in Osteuropa: Küchen - Spitäler - Lebensmittelkonvois
- Büros - Schulen]
Finanziert durch eine enorme Spendensammlungsarbeit, die
insgesamt ein Total (S.9)
von 33,4 Millionen $ für die Jahre 1919-1921 einbrachte,
konnte das JDC in grossem Stil Suppenküchen einrichten,
Spitäler wiederaufbauen und ausrüsten, Waisenhäuser
einrichten, und für Hunderte von Städten und Dörfern in Polen
Lebensmittelkonvois auf Lastwagen organisieren. Es wurde ein
Fahndungsbüro eingerichtet zur Familienzusammenführung
eingerichtet für Familien, die sich wegen des Kriegs und der
Krankheiten aus den Augen verloren hatten; das JDC gab Hilfe
bei der Wiedereinrichtung von Schulen und höheren
Schulungsinstitutionen mit religiöser und weltlicher
Ausrichtung.
[1919: U.S.S.
Lebensmitteldampfer "Westwar Ho" in Polen - Verteilung von
Lebensmitteln an Juden und Polen]
Im Jahr 1919 kam die U.S.S.
Westward
Ho [ein Dampfer] mit Lebensmitteln in Polen an; die
Polen beharrten darauf, dass die Lebensmittel getrennt an
Juden und Polen verteilt wurden. Grosse Teile des Geldes wurde
an nicht-konfessionelle Missionen auf dem polnischen Land
verschickt, weil das JDC Angst hatte, dass Antisemitismus
aufkommen könnte, wenn nur Juden versorgt würden (trotz der
Tatsache, dass die ARA sich in grossem Stil darum kümmerte,
die polnischen Massen von den Nachwirkungen der
Feindlichkeiten zu bewahren).
[Juni 1919: Der Joint bekommt
die Anerkennung als soziale Agentur in Polen]
Im Juni 1919 arrangierte der US-Botschafter in Polen die
offizielle, polnische Anerkennung des JDC als soziale Agentur
in diesem Land.
[Ende 1919: Der Joint
nominiert Dr. Julius Goldman als europäischen Direktor -
Prinzipien Goldmans]
Nach den ersten beiden Jahren der ersten Nothilfe kam die
Zeit, Bilanz zu ziehen und eine zukünftige Politik
abzustecken. Das JDC hatte Ende 1919 Dr. Julius Goldman zu
seinem ersten europäischen Direktor ernannt. Goldman
versuchte, in die Operationen etwas Ordnung zu bringen und gab
Leitlinien für die Arbeit in den verschiedenen Ländern heraus.
[1919-1920: Bogen organisiert
die Sozialarbeiter in den "USA" für Polen und Russland]
Bogen, der für Polen und Russland verantwortlich war,
beantragte und erhielt vom New Yorker Büro das Einverständnis,
Sozialarbeiter in Amerika für die Hilfe in Europa auszubilden.
[1920-1921: Misserfolg bei
Bogen: Gründung lokaler Joint-Komitees ist in Polen nicht
möglich - Sammlung von 20.000 $ in Polen]
Im Februar 1920 kam Bogen mit 126 Mitgliedern der ersten
JDC-Überseeeinheit in Polen an. Bogen versuchte auch, die
tiefen ideologischen Unterschiede innerhalb des
osteuropäischen Judentums zu überbrücken und beantragte, dass
lokale Komitees aufgestellt würden, von denen er erhoffte,
dass daraus ein zentrales Komitee für Sozialarbeit in Polen
hervorgehen würde. Dies geschah leider nicht. Dabei hatte sich
Bogen im Januar 1921 auf der Hilfskonferenz für Kongresspolen
(der zentrale Teil des Landes) in Warschau auf einem guten Weg
gesehen.
Im Frühling 1920 wurden auch lokale Spendensammlungen
organisiert; obwohl finanziell unbedeutend (ungefähr 20.000 $
wurden in Polen im Jahr 1920 aufgebracht), so war dies doch
eine wichtige moralische Stütze für die Bevölkerung und sorgte
einer demoralisierten Bittstellerhaltung vor.
[Ab 1920: Neue jüdische
Hilfsgruppen]
Durch den grossen (S.10)
Akt von Bogen begannen nun Ende 1920 auch einige lokale
Gruppen, Verantwortung für die lindernde Hilfe zu übernehmen.
[1920: Der Joint installiert
einen Geldverschickungsdienst unter Isidore Hershfield -
5.250.000 $ für polnische Juden 1920]
Ein weiterer lebenswichtiger Dienst, der durch das JDC in
Osteuropa eingeführt wurde, speziell in Polen, war die
Institution eines Büros für private Geldanweisungen unter
Isidore Hershfield (der Nachfolger von Samuel Golter).
Amerikanische Verwandte polnischer Juden konnten jetzt kleine
Geldsummen an sie überweisen und dabei einigermassen sicher
sein, dass das Geld auch am gewünschten Ziel ankam. Zusätzlich
zu der beträchtlichen finanziellen Hilfe, die an die
polnischen Juden ausgegeben wurde - das waren in den ersten
acht Monaten des Jahre 1920 5.250.000 $,
(Endnote 5: In:
-- Bernstein: The History of American Jewish Relief, p.257
-- Artikel von Zosa Szajkowski mit den Problemen der
JDC-Geldverschickung; In: American Jewish Historical Quarterly
17, Nrn. 1-3)
was mehr war, als das ausgegebene Geld, das das JDC zugunsten
Polens ausgab - war der Effekt auf die Moral der polnischen
Juden enorm.
[Die Arbeit des Joint für
Waisenkinder - Waisenkinderorganisation CENTOS 1923 -
medizinische Organisation TOZ 1921]
Spezielle Bemühungen waren den Kindern und der Pflege der
Waisenkinder gewidmet, der Regelung der Flüchtlingsfrage, und
der Entwicklung medizinischer Einrichtungen. Im Jahre 1923
gründete das JDC eine Waisenkinder-Pflegegruppe mit dem Namen
CENTOS (Federation of Associations for the Care of Orphans in
Poland), die sich später ein eine allgemeine
Kinderhilfeorganisation umwandelte.
Die TOZ,
(Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludnosci Zydowskiej (Society for
Safeguarding the Health of Jewish Population)
war eine medizinische Gesellschaft, die im Jahre 1921
gegründet worden war.
Diese beiden Organisationen tendierten beide dazu, immer
weniger von direkter JDC-Hilfe abhängig zu sein, obwohl sie
nie ganz selbsttragend wurden.
[1921-1922: Das Joint baut
Häuser und installiert jüdische Gesellschaften]
Während der Jahre 1921 und 1922 gelang es dem JDC auch, den
grossen Teil seiner Arbeit für Hunderte und Tausende von
Flüchtlingen zu beenden, indem es für die Flüchtlinge
vorübergehende oder dauerhafte Häuser zur Verfügung stellen
konnte, und indem örtliche Gesellschaften etabliert werden
konnten, die sich mit den Problemen beschäftigten.
[Ab Sommer 1920: Kulturarbeit
wird vom Joint unter Cyrus Adler unterstützt]
Auf kulturellem Gebiet empfahl das JDC-Kulturkomitee in New
York unter Vorsitz von Cyrus Adler im Sommer 1920, dass die
Schulen in Osteuropa unterstützt werden sollten, indem ihnen
ein Drittel der vom Zentralkomitee [Central Committee] und dem
Volks-Hilfskomitees [People's Relief Committee] in speziellen
Aktionen aufgebrachten Gelder zufliessen sollten.
[Kulturelle Unterstützung:
Spaltung zwischen anti-zionistischen, jiddischen Schulen und
zionistischen Schulen]
Nun führte dieses Abkommen aber bald zu grossen Verstimmungen,
weil die amerikanisch-jüdischen Sozialisten dazu tendierten,
die säkularen, anti-zionistischen, jiddischen Schulen zu
unterstützen, während die Orthodoxen (S.11)
natürlich, ihr eigenes Schulsystem in Polen unterstützten.
Somit wären die hebräischen und zionistischen Schulen (die
Tarbuth-Schulen) diskriminiert gewesen, die zu dem Zeitpunkt
an Grösse und Stärke zunehmen. Seit das AJRC [American Jewish
Relief Committee] zu dieser Zeit praktisch nicht mehr
funktionierte, so übernahm das JDC selbst die Verantwortung,
die Gelder in passenden Proportionen zu verteilen und so die
Schulen zu unterstützen, die Orthodoxe und Sozialisten nicht
unterstützen wollten.
[1921: Die JDC-Hilfe mit
Wagenladungen in Polen und in der polnischen Ukraine -
Ukrainer ermorden Cantor und Friedlander am 5. Juli 1920]
Das Ende des russisch-polnischen Kriegs von 1920-1921
bedeutete auch die letzten Schritte der Nothilfe durch das
JDC. Zwei Amerikaner, die sich zu der Zeit in Polen
aufhielten, Dr. Charles D. Spivak und Elkan C. Voorsanger,
überwachten die Verteilung von Wagenladungen mit Gütern an die
betroffenen Gebiete. Die JDC-Vertreter reisten auf
Spendermissionen auch durch den polnisch-besetzten Teil der
Ukraine. Auf einer solchen Reise zweier JDC-Mitarbeiter wurden
Bernard Cantor und Prof. Israel Friedlander am 5. Juli 1920
durch Ukrainer ermordet.
[Ab 1919?: Gründung eines
europäischen Exekutiv-Zweigs des JDC unter Dr. Goldman]
Das nahende Ende der Notzeit war durch
Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft des JDC in Europa
gekennzeichnet. Dr. Goldman, der europäische Direktor, wollte
eine allumfassende europäische Exekutive gründen, die die
JDC-Komitees in den verschiedenen Ländern kontrollieren
sollte. Bogen andererseits zog die zentrale Kontrolle von New
York aus und die Verwaltung der JDC-Gelder durch amerikanische
Landesdirektoren vor. Am Ende wurde Goldmans Konzept
angenommen und wurde für die Zeit zwischen den beiden Kriegen
die Standard-Praxis.
Erst später nach 1945 wurde die Nominierung amerikanischer
Landesdirektoren wieder eingeführt, wobei aber die europäische
Exekutive gleichzeitig nicht abgeschafft wurde, sondern diese
basisorganisarotische JDC-Einheit existiert noch bis zum
heutigen Tag.
[Europäische Direktoren des
JDC 1919-1938: Goldman - Becker - Rosenberg - Kahn]
Julius Goldman trat Ende 1920 zurück. Es folgte James A.
Becker. Dessen Nachfolger wurde im Jahre 1921 für ein Jahr
James N. Rosenberg. Im Jahr 1924 übernahm Dr. Bernhard Kahn
den Posten des europäischen JDC-Direktors, den er für 14
Jahren behielt.
[Ende Oktober 1920: Die
Entscheidung zur Einstellung der Nothilfe durch Goldmans
Vorschlag - und Protest in Polen]
Bevor er nach Amerika zurückkehrte, schlug Goldman dem JDC in
New York vor, dass eine Entscheidung getroffen werden müsste,
die Nothilfe einzustellen. Die Entscheidung wurde am 28.
Oktober 1920 durch das JDC Executive Committee beschlossen.
(S.12)
Das Datum für die Einstellung der Nothilfeprogramme wurde auf
den 1. Juli 1921 festgesetzt. Wie erwartet verursachte die
Entscheidung einen grossen Aufruhr. Eine Konferenz der
Vertreter der jüdischen Hilfskomitees in Warschau am 20.
Februar 1921 protestierte gegen die neue Politik und verlangte
eine Verschiebung um sechs Monate, zumindest, was Polen
anging. Auch gegen die Entscheidung, die JDC-Abteilung für
Geldüberweisungen zu schliessen, wurde protestiert.
[1921: Situation der Juden in
Europa ist von Land zu Land verschieden]
Die Lage im Jahr 1921 variierte von Land zu Land. Es gab keine
praktische Möglichkeit, in Polen die Nothilfe an dem Datum zu
stoppen, das von New York bestimmt worden war; aber der Trend
war nun gesetzt, und obwohl das JDC die Nothilfe eigentlich
nie eingestellt hat, so wurde das Betätigungsfeld bis Ende
Jahr doch sehr reduziert.
[1919-1921: Situation in
Litauen mit zwei gegensätzlichen Komitees - 35.000
Flüchtlinge aus Polen - Jüdische Volksbank]
Litauen war ein ganz anderer Fall; das JDC ging dort nur 1919
hin, als Sholem Asch, der berühmte jiddische Schriftsteller,
sich dort im Auftrag des JDC aufhielt. Ihm folgte ein Komitee
des Deutschen Hilfsvereins, mit dem das JDC ein sehr enges
Verhältnis hatte. Das Komitee bestand aus Dr. Bernhard Kahn,
Dr. Arthur Hantke (ein sehr bekannter, deutsch-zionistischer
Führer), und Dr. Meier Hildesheimer. Ein litauisch-jüdischer
Nationalrat stand einem linksgerichteten Arbeiterkomitee
gegenüber. Amerikanische Vertreter versicherten in der
folgenden Zeit, die örtlichen Unterschiede etwas zu regeln und
der leidenden jüdischen Bevölkerung zu helfen, speziell den
35.000 Flüchtlingen aus Polen. Am Ende wurde mit Hilfe des JDC
die Jüdische Volksbank entwickelt, die im Jahr 1921 77 Ableger
entwickelte und Kredite zu niedrigen Zinssätzen anbot.
[Ab Februar 1920:
JDC-Aktionen in Lettland für geflohene Juden auf dem Land]
In Lettland begannen die JDC-Operationen erst später im
Februar 1920, als die ersten Möglichkeiten, Geld dort hin zu
schicken, bekannt wurden. Das JDC sandte den betroffenen
lettischen Juden Nothilfe. Viele von ihnen hatten die Städte
verlassen und hielten sich auf dem Land auf, weil es in den
Städten kaum noch Lebensmittel gab.
[Henry G. Alsberg im Prager
Komitee]
In Lettland und in der Tschechoslowakei war ein JDC-Vertreter
mit dortigem Wohnsitz, Henry G. Alsberg, eine gewisse Zeit
lang Leiter des Prager Komitees (Hilfskomité) der vermögenden
Juden.
[1920: Juden der Slowakei und
Subkarpatien werden vom Prager Komitee unabhängig]
Unter einem neuen Direktor wurden im Jahre 1920 die Sektionen
der Slowakei und von Subkarpatien-Russland (in tschechischen
Initialen (S.13)
PKR) vom Prager Komitee unabhängig. Subkarpatien war die
östlichste und ärmste Region, wo Ruthenisch gesprochen wurde.
Die Juden von Böhmen und Mähren dagegen, die westlichen
Sektionen der Tschechoslowakei, erholten sich sehr rasch und
brauchten bald keine Hilfe mehr.
[1919: JDC-Aktion für 120.000
jüdische Flüchtlinge in Wien: 1 Mio. $ - Wiener
Sozialhilfekomitee (Viennese
social aid committee)]
In Österreich bestand das Hauptproblem aus den fast 120.000
jüdischen Flüchtlingen, die sich Ende des Krieges in Wien
zusammenfanden. Das JDC schickte Ende 1918 Meyer Gillis und
Max Pine in die leidgeplagte Stadt. Bevor die Hilfe des JDC in
Gang kam, zogen aber viele der Flüchtlinge auf eigene
Initiative in Trecks nach Polen in ihre Heimat. Das alte
Wiener Sozialhilfekomitee (Viennese social aid committee), die
Israelitische Allianz zu Wien, tat, was in ihrem Möglichkeiten
stand, um den Bleibenden zu helfen. Das JDC schickte im Jahr
1919 beinahe 1 Mio. $ nach Wien, um Suppenküchen zu
unterstützen und medizinische Hilfe und Kinderhilfe zu
leisten.
[Ungarn 1919-1921: Aktion
durch die ARA - die jüdische Kun-Regierung - die reaktionäre
Regierung - antisemitische Gesetze - Deportationen
polnischer Juden - das JDC beendet seine Aktionen im Jahr
1921]
In Ungarn war die Situation nochmals anders. Dort agierte die
ARA [American Relief Administration] mit ihrem Programm,
minimale Hilfe zu leisten, mit behutsamer Stützung durch
JDC-Gelder für spezielle jüdische Ziele. Langsam übernahm ein
ungarisch-jüdisches Komitee, das - wie in anderen Ländern -
eingerichtet wurde, mit dem vollen Segen des JDC, die
spezifischen jüdischen Aufgaben.
Das Problem in Ungarn war dabei in weiten Teilen ein
politisches. Nach dem Fall des kurzlebigen Kommunistenregimes
unter Béla Kun, ein Jude, kam eine weissungarische Regierung
an die Macht, die eine antisemitische Linie führte, obwohl in
Tat und Wahrheit die Juden vielleicht unter der Kun-Regierung
mehr als alle anderen gelitten hatten. Das neue, reaktionäre
Regime liess 22 Zugladungen mit polnisch-jüdischen
Flüchtlingen zurück nach Polen deportieren. Im Jahr 1920 war
Ungarns Regierung die erste Nachkriegsregierung, die einen
Numerus clausus einführte, der die jüdischen Studenten an den
Universitäten auf einen niedrigen Prozentsatz beschränkte. Das
JDC beendete seine Operationen in Ungarn jedenfalls im Jahre
1921.
[Rumänien 1919-1921: Chaos in
den neuen rumänischen Gebieten Bessarabien, Bukowina und
Transylvanien - JDC-Aktionen durch Hettie Goldman]
Die Lage der Juden im Rumänien der Nachkriegszeit war sogar
noch komplizierter. Während die Juden in Alt-Rumänien
(Walachei und Moldavien) relativ wenig zu leiden hatten,
regierte in Bessarabien, in der Bukowina und in Transylvanien
das komplette Chaos. Dies waren die rumänisch besetzten
Gebiete der Nachbarstaaten Russland, Österreich und Ungar. Das
JDC leistete dort unter Hettie Goldman (S.14)
und unter James A. Becker 1919-1920 Pionierarbeit. Hauptpunkte
waren die Einsetzung eines örtlichen Zentralkomitees in
Bessarabien, in der Bukowina und in Transylvanien, sowie die
Leistung von Nothilfe.
[Rumänien: Hilfsaktionen des
Joint unter Alexander A. Landesco - Hilfsaktionen des Joint
unter Noel Aronovici für 15.000 ukrainisch-jüdische
Flüchtlinge]
Nach Becker wurde Alexander A. Landesco, selbst ein
amerikanischer Jude, der in Rumänien geboren war, zum Agenten,
der Kreditkassen einführte - kleine Kooperativ-Banken, die
Geld zu niedrigem Zinssatz abgaben. Ausserdem mussten auch
15.000 Flüchtlinge der ukrainischen Pogrome unterstützt
werden. Dieses Problem wurde mit einem örtlichen
Sozialarbeiter bewältigt, Noel Aronovici, der in den Dienst
des JDC trat und in der Zwischenkriegszeit zu einer zentralen
Figur des JDC wurde.
Im Februar 1921
verliess Landesco Rumänien, der dafür gesorgt hatte, dass die
Hilfe eingestellt werden konnte.
[1921: Juden vom Fluss
Dniester werden von der rumänischen Armee nach Alt-Rumänien
vertrieben - neue Joint-Aktionen]
Bald nach seiner Abreise musste das JDC erneut eingreifen, als
40.000 bessarabische Juden, die innerhalb der 7-Meilen-Zone an
der russischen Grenze am Fluss Dniester wohnten, durch
Regierungstruppen brutal nach Alt-Rumänien vertrieben wurden.
In Transylvanien wurde die Reduktion der JDC-Hilfe nur dadurch
möglich, dass Verwandte in den USA die Geldhilfen nach dorthin
erhöhten.
[1914-1918: JDC-Aktion in der
Türkei via holländische Botschaft - Aaron Teitelbaum ab
1918]
Wie wir gesehen haben,
wurde das JDC wegen eines Hilferufs aus dem Mittleren Osten
gegründet. Während des Kriegs erhielt das türkische Judentum
die Hilfe über die holländische Botschaft in Istanbul, und
nach dem Krieg war es, Aaron Teitelbaum vom JDC, der die
Verwaltung der dortigen Hilfe überwachte
[Griechenland 1917: Feuer in
Thessaloniki - Joint-Hilfe]
und ebenso im griechischen Thessaloniki, wo eine alte jüdische
Gemeinde von einem zerstörerischen Feuer 1917 getroffen worden
war.
[Palästina 1914-1918: 1,5
Mio. $ für durch türkische Regenten entwurzelte Juden
gespendet]
In Palästina wurde die Hilfe durch ein Komitee unter Eliezer
Hoofien
unter der
Schirmherrschaft des spanischen Konsuls, Señor Ballabar,
verteilt. Hoofien war ein holländischer Zionist, der später
der Kopf der führenden Bankinstitution des palästinensischen
Judentums wurde, der Anglo-Palästina-Bank.
Während des Kriegs wurden
durch das JDC über 1,5 Mio. $ verschickt, um mit Problemen der
durch die türkischen Regenten physisch entwurzelten und aus
ihren Häusern vertriebenen jüdischen Gemeinde fertigzuwerden.
Nach der Besetzung des Landes durch die Briten fragte das JDC
David de Sola Pool, ein Mitglied der Zionistischen Kommission,
ob er als Vertreter des JDC agieren würde. Die Gelder wurden
verwendet für Waisenkinderkomitees, für eine
zionistisch-medizinische Einheit, für die Unterstützung für
religiöse Gruppen und ihre Institutionen, für
Kreditbanken. (S.16)
Alles in allem verschlang diese Arbeit in der Zeit zwischen
1918 und 1921 über 3,2 Millionen $.
[Sibirien 1919-1920: Aktionen
des Joint für jüdische Kriegsgefangene unter Dr. Frank F.
Rosenblatt]
Ausserdem gab es weitere Aktionen, die zwar kleiner waren,
aber für die Betroffenen entscheidend. So wurde 10.000en
gestrandeten Kriegsgefangenen in Sibirien geholfen. Dr. Frank
F. Rosenblatt, der JDC-Vertreter, war die treibende Kraft,
einen Fond für die Repatriierung der sibirischen
Kriegsgefangenen zu gründen ("Siberian War Prisoners'
Repatriation Fund"), dem mehrere Organisationen beteiligt
waren, darunter das amerikanische Rote Kreuz. Das
Verteilungskomitee JDC gab dort 700.000 Dollar aus.
[Japan 1919-1920: Juden in
Yokohama]
Andere Juden waren in Yokohama gestrandet, einem der vielen
Plätze, und gemeinsame Bemühungen des JDC und anderer grosser
jüdischer Auswanderungsagenturen, die Hebräische
Auswanderungshilforganisation ("
Hebrew Immigrant Aid Society" (HIAS),
verhalfen ihnen zur Auswanderung.
[Hilfe für Juden im Irak und
im Iran - Juden in Abessinien / Äthiopien]
Anderen wurde im Irak und im Iran geholfen, und eine Gruppe
eine Gruppe von Wissenschaftlern, die mit den abessinischen
Falashas arbeitete, die von einigen als ein verlorener
jüdischer Stamm betrachtet wurden, bekamen für ihre Bemühungen
auch etwas Hilfe.
[Deutschland 1919: 60.000
eingewanderte osteuropäische Juden - 1923: Hyperinflation
und Hilfsaktionen des Joint für die Juden und für deutsche
Kinder]
In Europa wurde die Hilfsarbeit unter der Leitung von Becker
im Jahre 1921 mehr oder weniger eingestellt. Die Ausnahme von
der Regel stellte Deutschland dar, wo 60.000 osteuropäische
Juden eingewandert waren, die meisten von ihnen nach dem
Waffenstillstand von 1918. Daraufhin erlitt Deutschland In den
Jahren 1922-1924 seinen wirtschaftlichen Niedergang und die
Hyperinflation. Das JDC musste dem deutschen Judentum helfen.
Sie konzentrierte sich auf die Kinderhilfe, und die
Geldleistungen, die z.T. aus nichtreligiösen amerikanischen
Quellen stammten, kamen auch deutschen Kindern generell
zugute.
[Die Zusammenarbeit des Joint
mit dem Quäkern in Deutschland]
Bei dieser Aktivität entwickelte sich zwischen dem JDC und der
amerikanischen Quäker-Gemeinde (American Friends Service
Committee (AFSC) eine Zusammenarbeit; diese Freundschaft
zwischen den beiden Hilfsorganisationen hatte während den
Katastrophen der 1930er und 1940er Jahre eine grosse
Wichtigkeit.
[Neues Europäisches
Beratungskomitee ("European Advisory Committee") unter Louis
Marshall - Untersuchungen in Europa durch Felix M. Warburg,
Goldman und Becker - Beginn mit Hilfe zur Selbsthilfe]
In New York setzte das JDC ein Europäisches Beratungskomitee
ein, unter Führung von Louis Marshall. Es sollte eng mit dem
europäischen Direktor zusammenarbeiten. Felix M. Warburg ging
dafür im Jahre 1921 nach Europa, um die Situation zu
untersuchen. Sein Bericht war - zusammen mit den Ansichten von
Goldman und Becker - schlussendlich der Anstoss für das JDC,
in Europa eine neue Politik einzuschlagen: Man wollte den
jüdischen Gemeinden in Europa Hilfe zur Selbsthilfe geben.
Dafür sollten die "Wiederaufbauaktivitäten" unterstützt
werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass (S.16)
jedes Zentralkomitee in Europa auf eine sichere,
selbsttragende Basis gestellt wurde. Wo es kein Zentralkomitee
gab, sollten funktionsgebundene Organisationen für
Sozialarbeit unabhängig gemacht werden. Dies würde
schlussendlich dem JDC erlauben, sich zurückzuziehen und seine
Aktivitäten zu beenden.
Am 17. Juni 1921 gab der Vorsitzende des neuen
Wirtschaftsaufbaukomitees, Herbert H. Lehman, diese Vorschläge
dem JDC-Exekutivkomitee bekannt.
[Joint: Unterkomitees]
Parallel zu Lehmans Komitee gab es andere spezielle Komitees,
die für spezielle Flüchtlingsprobleme aufgestellt wurden
(unter David M. Bressler), für Waisenkinder (unter Solomon
Lowenstein), und für medizinische Hilfe (unter Bernard
Flexner); diese traten nun dem älteren Kulturkomitee unter
Cyrus Adler bei, und so entstand eine neue organisatorische
Struktur des JDC, die eigentlich so schnell wie möglich zur
Auflösung vorbestimmt sein sollte. Die Budgets wurden gemäss
der verschiedenen Funktionen aufgeteilt, und frei die den
europäischen Direktoren zugeteilten Gelder wurden auf ein
Minimum reduziert. Das eigene Buchhaltungssystem wurde durch
die Revisionsfirma von Loeb und Troper kontrolliert.
[Joint: Die Autorität der
Laien - die Politik machen andere]
Was an der ganzen Struktur auffällig war, neben der
praktischen, technischen Probleme, war die komplette und
unhinterfragte Autorität der Laien, die zu den Geldern
beitrugen oder die Sammlungen anderer leiteten. Marshall,
Warburg, Lehman, Lowenstein, Bressler, Flexner, Adler - diese
Männer bestimmten, was getan werden sollte. Die
Professionellen wie Bogen oder Senior, Dr. Rosen in Russland
(von dem wir später noch berichten werden), und sogar Jacob
Billikopf in den USA, waren wichtig; sie wurden höflich
behandelt, und man hörte sie sorgfältig und mit sympathischem
Lächeln an, aber am Ende waren nicht sie es, die die Politik
bestimmten.
[Polen 1921-24: Der Joint
verschickt über 20 Mio. $]
In den Jahren 1921 bis 1924 sammelte das JDC über 20 Millionen
$ in der Hoffnung, den europäischen Juden damit in einer
"Einmal-für-allemal"-Anstrengung zu helfen.
[Polen 1924-1925: Rezession,
Missernten und antijüdische Regierungsmassnahmen - hungernde
Juden]
Aber als Warburg 1925 eine weitere Reise zur Untersuchung der
Lage machte, fand er, dass das JDC seine Verantwortung einfach
nicht abgeben konnte, zumindest noch nicht. Polen befand sich
in einer wirtschaftlichen Rezession, und die Regierung hatte
deswegen eine Serie widersprüchlicher wirtschaftlicher
Massnahmen getroffen, von denen einige ausgesprochen gegen die
Juden gerichtet waren. Eine Serie von Missernten in
Bessarabien und in der Bukovina verbesserten die Situation
ebenfalls nicht. (S.17)
Im Winter 1925-1926 waren 83 % der jüdischen Arbeiter in
Warschau arbeitslos.
(Endnote 6: Handlin: A Continuing Task (New York, 1964), S.52)
[Juden von Europa 1926-1928:
Aktionen des JDC von 12,5 Mio. $]
Warburg, der von seinen Untersuchungen zurückkam, schlug die
Gründung eines "Übersee-Konto" vor. Das JDC und die Zionisten
arbeiteten in dieser Unternehmung zuerst zusammen (1925), aber
dann sortierten sich die verschiedenen Ziele der beiden
Gruppen gegenseitig aus. Dabei wurde die amerikanisch-jüdische
Gemeinde gegenüber den Katastrophenappellen zunehmend
gleichgültig. Aber dem JDC gelang es trotzdem, in den Jahren
1926-1928 ungefähr 12,5 Millionen $ zusammenzubringen, um die
Arbeit in Europa fortzusetzen.
[1929: Das JDC kann nicht
aufgelöst werden]
Am Ende des ersten Jahrzehnts nach dem Krieg, 15 Jahre nach
seiner Gründung, war das JDC immer noch am Leben, obwohl auch
nur sehr widerwillig. Es hatte sich selbst immer als eine rein
vorübergehende Organisation zu sehen, um seinen
"Glaubensbrüdern" im Ausland wirtschaftlich wieder auf die
Füsse zu verhelfen. Amerikanische Juden mussten den Juden im
Ausland sicherlich helfen, aber der eigentliche Platz für
Menschenliebe und Sozialarbeit war in den USA. Irgendwie war
es bezeichnend, dass sich das JDC im Jahre 1929 in einer Welt
wiederfand, die das JDC zu einer dauerhaften
Organisation verwandelt hatte. (S.18)