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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 1.  So wurde Krisenzeit: 1929-1932

[1.1. Die Strukturen des Joint und die führenden Personen]

[JDC-Struktur: 4 oder 5 führende Personen - Verabschiedung von Entscheindungen in jedem Komitee]

Das Verteilungskomitee JDC war immer stolz darauf, eine philanthropische Organisation auf geschäftlicher Basis zu sein. Die aktuelle Macht dieser Organisation lag nicht so sehr in der formellen Struktur, nicht so sehr im nationalen Rat, im Direktorium, oder im Ausführungskomitee (Executive Committee), sondern eher in einer kleinen Gruppe von 4 oder 5 Personen, die eigentlich die nötigen Entscheidungen trafen und diese dann in verschiedenen Komitees verabschieden liessen. Gleichzeitig wurden die Regeln einer formellen Demokratie beachtet und die traditionellen religiösen Vertreter auch noch berücksichtigt, ebenso die Arbeiterkreise, die geholfen hatten, die Organisation zu gründen.

[JDC-Struktur: Vorsitzender Felix M. Warburg - verheiratet mit der Tochter von Jacob H. Schiff]

Der Vorsitzende, ein Gründer und in den ersten Jahren des JDC eine wichtige Figur, war Felix M. Warburg. Er war ein Mitglied einer deutsch-jüdischen, aristokratischen Bankiersfamilie. Als junger Mann war er von Hamburg gekommen und hatte die Tochter von Jacob H. Schiff geheiratet, die in in die Firma Kuhn, Loeb & Co. eingeführt hatte.

[Warburg respektiert alle Juden als Juden]

Felix Warburg war ein Mann von grosser Ernsthaftigkeit und Überzeugung, ein feiner, warmherziger Mensch, der gegenüber seinen Anhängern von einer aufrichtigen Leidenschaft bewegt war, im Speziellen gegenüber seinen "Religionsbrüdern". Trotz seines provinziellen deutsch-jüdischen Hintergrunds war es für ihn keine Schwierigkeit, mit den Massen der osteuropäischen Juden mitfühlend umzugehen. Wie einer seiner Mitarbeiter es viele Jahre später gegenüber Warburg ausdrückte, "waren sogar Juden in Rumänien Menschen, eine Einstellung, die nicht von jedem immer akzeptiert wurde." Es war ihm wirklich ein Anliegen, den Leuten einfach zu helfen, ein (S.19)

Anliegen, das offensichtlich nicht auf einem Wunsch nach Status oder sozialem Stand basierte. Seine Hauptmotivation war eine aristokratische und doch irgendwie mit einem bescheidenen Sinn der Einstellung, dass Adel verpflichtet.

Das JDC war für Warburg "seine" Organisation, und sein Gesetz war patriarchal und zu dieser Zeit irgendwie hochtrabend. Er und einige andere waren für die Mehrheit der aufgebrachten Gelder verantwortlich, und dies führte dazu, dass sie sich alles andere als scheu verhielten, wenn es darum ging, ihre Ideen ohne parlamentarische Konsultationen und ohne Rücksicht auf demokratische Strukturren durchzubringen.

[Warburg: Bank - jüdische Angelegenheiten - und nichtjüdische Organisationen]

Er hatte in seinem Leben bereits viele Berufsbereiche erlebt. Die Bank war ein solcher Bereich, der eine Verpflichtung war, aber weder ein dominantes Interesse noch eine grosse Befriedigung. Er beschrieb diesen Gesichtspunkt seines Lebens einmal, indem er sagte, dass ihm das Leben lehrte, den "Honig von den sauren Blüten zu trennen".

Seine Welt der Menschlichkeit wurde von jüdischen Angelegenheiten dominiert, hielt ihn aber nicht davon ab, in den nichtreligiösen Angelegenheiten des Lebens auch eine Schlüsselrolle zu spielen, bei den Pfadfindern, beim Roten Kreuz, und so weiter, und er war auch einer der Gründer der Jüdischen Philanthropischen Gesellschaft und beim American Jewish Committee.

Er war tief in die kulturellen Aktivitäten von New York eingebunden, speziell bei der Musik und bei mehreren Museen, denen er grosszügig Hilfe leistete. Vor alle war er ein fröhlicher, warmherziger Mann, bei konstanter Anregung durch seine Freunde und Beschäftigten, und als Gegenleistung unterstützte er sie in vielerlei Aktivitäten.

Er war kein guter öffentlicher Redner, aber seine Wärme und Innigkeit, seine Aufrichtigkeit und das offensichtliche Fehlen von Hinterlist waren erfrischend. Politisch gesehen war er naiv, und war sehr erstaunt, dass er die politischen, jüdischen Führer nicht für seine Denkart gewinnen konnte, so wie er seine Kollegen bei sich zu Hause hatte für seine Ideen gewinnen können.

[JDC-Struktur: Paul Baerwald, ein zurückhaltender, scheuer Mann]

Paul Baerwald, auch ein Bankier, arbeitete mit Warburg im Verteilungskomitee JDC und war für Warburg ein loyaler Unterstützer und Freund. Baerwand war eine ganz andere Person als Warburg, mit seiner warmherzigen und engagierten Persönlichkeit. Baerwald war ein ernsthafter, aber eher scheuer Mann. Baerwald neigte zur Vorsicht und zu zurückhaltenden Ansichten, wo Warburg innovativ war. Baerwald wünschte immer, das zu tun, was die Mächte als "richtig" ansahen; er hatte sicher den Mut, seine Überzeugungen zu vertreten - aber seine Überzeugungen (S.20)

stimmten normalerweise mit der zurückhaltendsten Interpretation einer Situation überein. Baerwald überzeugte eher im direkten persönlichen Kontakt, wo sein überwältigender Wunsch, Gutes zu tun, und seine grosse Ernsthaftigkeit hervortraten. Als ein Vorsitzender des JDC in den 1930er Jahren und nach Warburgs Tod war er gegenüber seinem Vorgänger eher eine blasse Figur.

[JDC-Struktur: James N. Rosenberg, ein zurückhaltender Anwalt mit Enthusiasmus und Drang - Antizionist]

Eine weitere Person von grosser Wichtigkeit im JDC war James N. Rosenberg, ein Anwalt, den Warburg ins JDC geholt hatte. Rosenberg tendierte auch zur zurückhaltenden Linie, aber wo Baerwald vorsichtig und scheu war, war Rosenberg extrem und frech. Rosenberg hinterliess im JDC einen unauslöschlichen Eindruck. Wir werden noch Gelgenheit haben, seine Abneigung gegenüber dem Zionismus und seinen Vertretern zum Ausdruck zu bringen; aber dann unterstützte er in den 1920er und 1930er Jahren doch wiederum Warburgs Versuche, um sich mit Chaim Weizman, dem Zionistenführer, zu arrangieren. In Tat und Wahrheit aber stand er dem Zionismus viel reservierter und sogar feindlich gegenüber als Warburg. Auf der anderen Seite waren Rosenbergs Enthusiasmus und dessen kolossaler Drang Faktoren, die das JDC mit der wirtschaftlichen und sozialen Hilfe für die russischen Juden in Berührung brachten, wie wir es später noch auseinandersetzen werden.

[JDC-Struktur: Sekretär Joseph C. Hyman, Geschäftsführer]

Joseph C. Hyman, der Sekretär, besetzte eine definitiv niedrigere Rolle, war aber als der aktuelle Geschäftsführer für die Organisation sehr wichtig.

[JDC-Structur: Pläne in New York - die eigentliche Arbeit in Europa - Pläne von Kahn und Rosen]

Über die Pläne für Spendensammlungen und das allgemeine Büdget wurde in New York entschieden, aber die eigentliche Arbeit des JDC war in Europa. Fast alle Entscheidungen über Europa lagen in den Händen von zwei intellektuellen Personen, Dr. Bernhard Kahn, der Kopf des Europabürosh A. Rosen, der Kopf der russischen JDC-Arbeit.

[JDC-Struktur: Dr. Bernhard Kahn, "Herr Joint" ("Mr. Joint")]

Bei der Diskussion um die Arbeit in Russland werden wir es noch mit Rosen zu tun haben, aber für den Rest von Europa war Dr. Kahn der "Mr. Joint". Die Gruppe der jüdischen Deutsch-Amerikaner, Bankiers und Anwälte, die die eigentlichen Kräfte im JDC waren, brauchten einen Mann, dem sie vertrauen konnten, und der ihre Ideen in den eigentlichen Operationen des JDC umsetzen würde. Kahn war ein deutsch erzogener Jude, ein Mann, dem Warburg vertrauen konnte.

Er war in Schweden mit litauischen Eltern geboren, ein brillianter Mann, im jüdischen Recht und in der jüdischen Überlieferung gut versiert, mit einer guten Kenntnis von Hebräisch und Jiddisch. Er sprach alle (S.21)

grossen, europäischen Sprachen, er war in der deutschen Kultur tief verwurzelt, und er war ein Wirtschaftsexperte, der nicht nur mit dem JDC lange zusammenarbeitete, sondern auch mit dem Hilfsverein, der grossen deutsch-jüdischen philanthropischen Organisation. Kahn war ein früher Anhänger der zionistischen Bewegung. Er war 1903 ein Delegierter des Zionistenkongresses gewesen, der den Vorschlag vorübergehender Planungen für Uganda abgelehnt hatte.

Er war ein reservierter Mann, äusserlich eher kalt und pedantisch, aber vom tiefen Wunsch ergriffen, den Juden zu helfen. Er war die Art Männer, die für die Führung des JDC gebraucht wurden. Er war gänzlich und absolut zuverlässig, extrem kompetent. Er war hinreichend zurückhaltend und unbeugsam, so dass man ihn für das das JDC in New York empfehlen konnte, und gleichzeitig war er ein Mann mit einer komplett unabhängigen Denkweise, mit einer grossen Vorstellungskraft, die mit der Denkweise der JDC-Gruppe übereinstimmte, wie die Agentur geführt werden sollte. Gegenüber Kahn zeigte er nie die leiseste Spur von Unterwürfigkeit. Es gab nie einen Verdacht, dass er unehrlich zu sich selber gewesen wäre, und auch nicht gegenüber dem Büro in New York.

[JDC-Struktur: die "US"-Gruppe - die Kahn-Gruppe - die Rosen-Gruppe]

In Tat und Wahrheit schaute es so aus, dass das JDC in drei Teile aufteteilt war - eine Agentur in Amerika, die das Geld sammelte, und zwei unabhängige Gruppen, die das Geld ausgaben: eine unter Kahn, und eine andere unter Rosen.

[JDC-Struktur: Der innere Kreis: Warburg, Baerwald, Kahn, Rosen, Rosenberg, Hyman]

Warburg, Baerwald, Kahn, Rosen, Rosenberg, und Hyman - diese Männer stellten den inneren Kreis dar, der die JDC-Politik bestimmte. Die meisten der Mitarbeiter der auf Warbug bezogenen JDC-Arbeit kamen von der deutsch-jüdischen Aristokratie, mit Ausnahme von Hyman und Rosen.

[JDC-Structur: Louis Marshall]

Bis zu seinem Tod im Jahre 1929 war die grosse Persönlichkeit von Louis Marshall eine herausragende Figur dieses Kreises.

[JDC-Kontakte zu anderen Organisationen]

Ungeachtet der verschiedenen Meinungen über den Zionismus existierten zwischen den Laienführern der verschiedenen amerikanisch-jüdisch philanthropischen und sozialen Organisationen enge persönliche Bindungen.

[Warburgs Position in der mittleren Gruppe um Marshall - ohne Zionismus, ohne Nationalismus]

Warburg und seine Freunde gehörten der mittleren Gruppe um Marshall an, die dem Zionismus gegenübertrat. Warburg hatte den Antizionismus von Julius Rosenwald nie unterzeichnet, obwohl Rosenwald der wichtigste finazielle Unterstützer der JDC war. (S.22)

Zusammen mit Marshall handelte Warburg zusammen mit Weizmann das Abkommen aus, um in Palästina 1929 die Jüdische Agentur ("Jewish Agency") einzurichten. Warburg blieb diesem Bündnis grundsätzlich treu, trotz seinen Nichtzionismus und seinen schwerwiegenden Gegensätzen mit dem grossen Zionistenführer. Palästina war für ihn keine "Nur"-Angelegenheit, sondern eine "Auch"-Angelegenheit, so weit sie die Zusammenarbeit mit Weizmann betraf. Warburg und sein Kreis übernahmen die zionistische Haltung der "Anwälte" nicht - Brandeis, Mack, Frankfurter - und deren Kreis. Warburg akzeptierte nie die Idee eines jüdischen Nationalismus, und er betrachtete dessen Vertreter mit grossem Misstrauen.


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