[1.2.
Katastrophale Situation in Osteuropa mit Kriegen
1919-1922]
[Beginn der 1920er Jahre:
Kriegs-Horror, Seuchen und Hungersnot - das Komitee zum
wirtschaftlichen Wiederaufbau ("Economic Reconstruction
Committee")]
Die 1920er Jahre waren, generell gesprochen, eine Zeit des
Optimismus - und nicht nur in den USA. Abneigung zum Krieg,
und in Amerika ein weit verbreitetes Gefühl, dass die USA sich
nie mehr in europäische Angelegenheiten einmischen sollte,
wurden von einer grossen Hoffnung begleitet, dass
Kriegsschrecken, Seuchen und Hungersnöte nun definitiv besiegt
sein würden. Deswegen überrascht es nicht, dass das JDC das
JDC ein Komitee zum wirtschaftlichen Wiederaufbau ("Economic
Reconstruction Committee") unter Herbert H. Lehman einrichten
sollte, und dass sich das JDC daran machte, sich selbst von
einem Hilfsagentur in eine Aufbauagentur zu verwandeln.
[JDC-Kredite für die
jüdischen Massen, v.a. Händler und Handwerker - kooperative
Kreditkassen (Banken) - niedrige Zinsen]
Zuerst wurden die Anstrengungen zum Wiederaufbau vor allem bei
den Juden in Osteuropa durchgeführt. Die dortigen jüdischen
Massen stellten sich hauptsächlich aus Kleinhändlern und
Handwerkern zusammen. Es wurden Anstrengungen unternommen,
ihnen mit billigen Krediten unter die Arme zu greifen, so dass
sie mit den nichtjüdischen Nachbarn konkurrieren konnten. Zu
diesem Zweck wurden kooperative Kreditkassen (Banken)
eingerichtet, die vom JDC und von anderer Stelle Kredite
erhielten, die Kapital zusammenbrachten, die Sparkonten
führten, und die zu niedrigem Zinssatz Kredite ausgaben,
niedriger als bei den Banken.
Gesunde wirtschaftliche Prinzipien verlangten es, dass
kurzzeitige Konten nicht akzeptiert wurden, dass Rückstände
bei der Begleichung von Zinszahlungen sehr strikt gehandhabt
wurden, und dass Kredit nur an kreditwürdige Leute gegeben
wurde. Natürlich garantierten amerikanische Kredite den
Lohnkassen ihre Gelder, und die Kassen mussten die Gelder
pünktlich und schnell zurückbezahlen.
[JDC-Taktik: Wirtschaftliche
Prinzipien zur Selbsthilfe beibringen]
Allgemein gesagt war die Idee diese, mit einigen Ausnahmen,
dass Osteuropäern, die die Geschäftsbedingungen nicht wirklich
verstanden, diese gelehrt werden konnten; dies würde sie
befähigen, ihre Wirtschaft auf einer gesunden Basis
wiederaufzubauen.
Es gab gewisse Leitlinien, die das JDC sorgfältig beachtete.
(S.23)
Zuallererst war das JDC keine politische Organisation. Dies
hiess, dass es keinerlei politische Argumente berücksichtigen
durfte, egal ob diese von Juden oder Nichtjuden geäussert
wurden. Das JDC versuchte auch, gegenüber allen jüdischen
Fraktionen unparteiisch zu sein. Bei der Kompliziertheit des
jüdischen, politischen Lebens war dies ein Ideal, das nicht
leicht einzuhalten war, und natürlich hatte das JDC seine
Sympathien und Antipathien - denn in Tat und Wahrheit bestand
das JDC aus Kahn und drei oder vier weiteren Leuten in New
York.
[JDC-Taktiken: Unabhängigkeit
von jeglicher politischer Einmischung]
Nichtsdestotrotz blieb das JDC trotz dieser Bedingungen
bemerkenswert frei von jeglicher politischer Einmischung und
in seinen Operationen bemerkenswert unparteiisch. Es gelang
dem JDC, als vielleicht die einzige, wirklich unabhängige
Organisation im jüdischen Leben anerkannt zu werden. Dies
hiess nicht, dass das JDC in europäischem Sinne keine
nichtpolitische Organisation war - das heisst, unabhängig von
den Regierungen. Regierungseinmischung in die Aktivitäten des
JDC gab es nicht. Aber das JDC achtete wohl darauf, das
gewisse ausländische Programme mit Washington im Einklang
standen. Dies war immer in einer freundlichen und
unverbindlichen Form vorausgesetzt.
[JDC-Taktik Nr. 1:
Koordinierung mit der "US"-Regierung - Beispiel
Aussenminister Frank B. Kellogg]
Also, als das JDC z.B. im Frühjahr 1928 seine Arbeit in
Russland drastisch ausweiten wollte, schrieb Louis Marshall an
Aussenminister Frank B. Kellogg, dass "bevor wir Schritte in
diese Richtung unternehmen, wir unsere Pläne dem
Aussenministerium mitteilen müssen und versichert sein müssen,
dass es keinen Grund gab, weswegen wir diese Arbeit nicht
ausführen sollten."
Kellogg antwortete am 9. Mai. "Ich kann euch also sagen, dass
das Departement vom Standpunkt der nationalen Politik keine
Gründe dafür findet, Einwände gegen eure Beteiligung an der
Arbeit der jüdischen Siedlungen in Russland zu haben, was die
in eurem Brief dargestellten Leitlinien angeht."
Er fügte aber gleichzeitig auch noch hinzu, dass alles, was
das JDC in Russland machte, auf eigenes Risiko geschah.
(Endnote 1: AJ (Akten des Agro-Joint) 36, 4/30/28 [30. April
1928])
[JDC-Taktik Nr. 2:
Unterrichtsprinzipien zur Selbsthilfe]
Ein weiteres JDC-Prinzip war seine Bestimmung, den Juden Hilfe
zur Selbsthilfe zu geben, neben der Existenz als
Hilfsorganisation. Das Ziel war aber weder die Hilfe noch die
Rettung der Leute, sondern die Hilfe für die Juden zum
Wiederaufbau ihres Lebens als selbstgeachtete, aufrechte und
unabhängige Menschen, die weder von entwürdigenden milden
Gaben noch von Bettelei abhängen sollten.
Es gab ein definitives Gefühl für eine grundlegende Ehre der
menschlichen Existenz, und (S.24)
dies ist vielleicht einer der wertvollsten Werte, die vom JDC
und seinen Operationen hochgehalten wurden. Nun schrieb Hyman,
dass "die Politik von Dr. Kahn aus dem Aufbau, der
Rehabilitation und der Hilfe zur Selbsthilfe in der jüdischen
Bevölkerung bestand, für jene Juden, die körperlich und
geistig fähig waren, sich auf eine dauerhafte, selbsttragende
Basis zu stellen. So konnten diese Leute eventuell bei ihren
örtlichen, sozialen Probleme behilflich sein und Kranken,
Invaliden und den Alten Hilfe leisten etc."
(orig.:
"Dr. Kahn's policy has been to reconstruct, rehabilitate and
make self-supporting those elements in the Jewish population
which are physically and mentally capable of establishing
themselves on a permanent self-supporting basis, in order that
these people may eventually help their local social problem
and bring assistance to the sick, deformed, defective, aged,
etc."
(Endnote 2: Ordner 1, 7/25/29 [25 Juli 1929])
Gleichzeitig wurde dies in einer charakteristischen Weise
interpretiert: Es mussten auch strenge Geschäftsprinzipien
eingehalten werden, und man betonte, dass auf der Rückzahlung
der Kredite beharrt werden sollte, in einer Situation mit
Umständen, wo zumindest ein Argument für mildere
Operationsmethoden hätte hervorgebracht können.
[JDC-Taktik Nr. 3: Das Recht
für alle Juden, in ihrer Heimat zu leben - keine
Auswanderung]
Ein drittes Prinzip, das das Verteilungskomitee JDC immer
eingehalten hat, war, "dass Juden ein Recht haben, in ihrem
Land ihrer Geburt zu leben, oder in einem Land ihrer Wahl."
(original:
"that Jews have a right to live in countries of their birth,
or in a country of their adoption.")
(Endnote 3: Nathan Reich, JDC
Primer [Lehrbuch] (1945), JDC-Bibliothek)
Dies widerspiegelte den amerikanischen Gesichtspunkt, der
allen eine Chance geben wollte. Unzweifelhaft war dieser
Standpunkt vom amerikanischen ideologischen Konzept
beeinflusst, wobei dies in Tat und Wahrheit eine alte Idee des
Reformjudentums war, die die deutschen Juden 1848 übernommen
hatten.
Dieses Ideal wurde vielleicht bei internationalen Konferenzen
und Gesprächen unter Staatsmännern akzeptiert, aber wenn man
die Realität der jüdischen Existenz anschaute, dann war das
Ideal weit davon entfernt, realisiert zu werden. Allerdings
schien es für eine kurze Zeit in den 1920er Jahren, dass
dieses Konzept sofort realisiert werden könnte, aber die
späteren Ereignisse machten eine solche Aussicht auf Umsetzung
völlig unrealistisch. In Tat und Wahrheit trug das Ideal [der
Heimat am Geburtsort] dazu bei, dass das JDC jeglicher
Auswanderungsbewegung eher zögerlich gegenüberstand, die eine
Auswanderung als Lösung der Judenfrage propagierte. Kahn
"betonte, dass dem Juden dort geholfen werden muss, wo er sich
befindet; die russische Judenfrage muss in Russland, die
Palästinafrage in Palästina, das deutsch-jüdische Problem in
Deutschland gelöst werden, etc."
(orig.:
"emphasized that the Jew must be helped where he is; the
Russian Jewish question must be solved in Russia, the
Palestine question in Palestine, the German-Jewish problem in
Germany, etc.")
(Endnote 4: Ordner 39, 11/18/31 [18. November 1931])
[Ab den 1930er Jahren:
JDC-Taktik Nr. 3 ändert sich: Auswanderung wird unterstützt]
In der Praxis war die Haltung unhaltbar, und mit den
Entwicklungen in den 1930er Jahren und den neuen Gesetzen und
dem Rückschritt der Menschlichkeit in Europa war das JDC
gezwungen, die Auswanderung der Juden zu unterstützen, wie es
die Gelegenheit erforderte. Die Hoffnung einer dauerhaften
Regelung der Judenfrage in den verschiedenen Wohnsitzländern,
der grundlegende Traum eines immerwährenden Diaspora-Lebens,
an das das Reformjudentums (S.25)
mit Inbrunst glaubte, musste geändert werden, wenn nicht im
Prinzip, so doch in der Praxis. Das JDC zeigte eine
bemerkenswerte Fähigkeit, seine Leitlinien in elastischer
Weise zu interpretieren, sogar dann, wenn man die Leitlinien
verneinen musste - ein Weg, Widersprüche zwischen Theorie und
Praxis zu lösen, der in der jüdischen Tradition nicht
unbekannt war.
[JDC-Taktik Nr. 4:
Überwachung der Verwaltung der Hilfe]
Schlussendlich gab es da eine Vermutung - die nirgendwo klar
ausgedrückt wurde, aber die immer unausgesprochen vorhanden
war - dass die vom Verteilungskomitee JDC gegebene Hilfe dazu
berechtigte, die Verwaltung einer solchen Hilfe genau zu
überwachen.
[JDC-Taktik Nr. 5:
Unterstützung anderer Hilfsorganisationen]
Gleichzeitig arbeitete das JDC über örtliche Büros oder
unterstützte quasi-unabhängige Organisationen, um spezielle
Arbeiten auszuführen.
[JDC-Kritiker Louis Berg: JDC
verteilt Geld ohne Abstimmung]
Ein Kritiker des JDC war Louis Berg. Er schrieb im Juni 1929
im der Zeitschrift Menorah, dass "die Führer des JDC nie ihren
Glauben versteckt haben, dass die grosse Arbeit, dem Judentum
in Osteuropa wieder auf die Beine zu helfen, durch die Massen
selbst gar nicht zu bewerkstelligen ist, sondern am besten nur
durch ein paar wenige, verantwortliche und gutinformierte
Führer möglich ist, und durch eine disziplinierte
Organisation, wo es keine widersprechende Stimmen gibt. Genau,
wie es Herr Louis Marshall an dieser Konferenz [vom Mai 1929]
gesagt hat: 'Die Arbeit musste geführt werden, so dass wir
über Millionen Dollars verfügen konnten, ohne dass eine
Abstimmung stattgefunden hatte.' "
(original:
<the leaders of JDC have never hidden their belief that the
gigantic work of rehabilitating East European Jewry cannot be
undertaken by the masses, but can best be performed by a few
reliable and well-informed leaders, and a disciplined
organization, within which there are no dissenting voices.
Precisely as Mr. Louis Marshall said at this conference [in
May 1929]: 'The work was so conducted that we would dispose of
millions of dollars without a vote being taken.'>
(Endnote 5: Akte 42)
Während das JDC keine demokratische Massenorganisation war, so
führte es seine Aktionen doch innerhalb der erforderlichen
statuarischen Erfordernisse durch. Aber wie das das bei vielen
Organisationen der Fall ist, so wurde die formelle Struktur
durch informelle Bindungen gehalten, z.B. durch
Freundschaften, persönliche Kontakte, und so weiter, und am
Schluss waren es dann oft formelle Entscheide, die die zuvor
arrangierten Vorhaben absegneten. Berg sah in diesem Vorgehen
eine negative Prozedur;
[JDC-Struktur: Aristokratisch
mit "Elastizität"]
aber hinsichtlich des quasi aristokratischen Charakters des
JDC war eine Elastizität und eine Effizienz in den Operationen
vorhanden, die insgesamt bewundernswert war.
[JDC-Taktik Nr. 4:
Überwachung der Verwaltung der Hilfe - abhängig von der
Mentalität]
Es bestand das Bedürfnis, die Verwaltung der Hilfe und die
Effizienz zu überwachen, auch wenn diese Methoden gegenüber
Spendengeldern und Hilfsleistungen erniedrigend erschienen und
der Unterstützungspolitik und Entwicklung der örtlichen Büros
zu widersprechen schienen. In Tat und Wahrheit gab es aber
keine harte Linie. Bei einer starken und unabhängigen Gemeinde
- wie es z.B. das deutsche Judentum war - war die Überwachung
minimal. An anderen Orten verwalteten die JDC-Vertreter, um
alle Arten von Schwierigkeiten zu vermeiden, nicht nur die
Gelder, sondern sie wurden von den Institutionen sogar noch
unterstützt, indirekt, und manchmal sogar direkt. Dies
provozierte (S.26)
natürlich wiederum bei Gelegenheit schlechte Gefühle, und die
Fälle mussten jeder für sich beurteilt werden. Aber das
Verteilungskomitee JDC hat nie einen bürokratischen Apparat
betrieben, der sich mit praktisch jedem Aspekt des jüdischen
Lebens auseinandergesetzt hätte, so wie das andere jüdische
Organisationen (wie die Jüdische Kolonisierungsgesellschaft
(Jewish Colonization Association (ICA) in Argentinien)
manchmal tun mussten. Im Grossen und Ganzen war das Prinzip,
die Idee, den Juden Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, um den
Juden eine selbsttragende gemeindemässige Unabhängigkeit zu
ermöglichen, am Ende immer aufrechterhalten. Dies machte das
JDC, obwohl es auch beträchtliche Kritik ernten musste, zu
einer populären Organisation, mit Juden, die sich in einem
sich auflösenden jüdischen Europa befanden.