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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932

[1.2. Katastrophale Situation in Osteuropa mit Kriegen 1919-1922]

[Beginn der 1920er Jahre: Kriegs-Horror, Seuchen und Hungersnot - das Komitee zum wirtschaftlichen Wiederaufbau ("Economic Reconstruction Committee")]

Die 1920er Jahre waren, generell gesprochen, eine Zeit des Optimismus - und nicht nur in den USA. Abneigung zum Krieg, und in Amerika ein weit verbreitetes Gefühl, dass die USA sich nie mehr in europäische Angelegenheiten einmischen sollte, wurden von einer grossen Hoffnung begleitet, dass Kriegsschrecken, Seuchen und Hungersnöte nun definitiv besiegt sein würden. Deswegen überrascht es nicht, dass das JDC das JDC ein Komitee zum wirtschaftlichen Wiederaufbau ("Economic Reconstruction Committee") unter Herbert H. Lehman einrichten sollte, und dass sich das JDC daran machte, sich selbst von einem Hilfsagentur in eine Aufbauagentur zu verwandeln.

[JDC-Kredite für die jüdischen Massen, v.a. Händler und Handwerker - kooperative Kreditkassen (Banken) - niedrige Zinsen]

Zuerst wurden die Anstrengungen zum Wiederaufbau vor allem bei den Juden in Osteuropa durchgeführt. Die dortigen jüdischen Massen stellten sich hauptsächlich aus Kleinhändlern und Handwerkern zusammen. Es wurden Anstrengungen unternommen, ihnen mit billigen Krediten unter die Arme zu greifen, so dass sie mit den nichtjüdischen Nachbarn konkurrieren konnten. Zu diesem Zweck wurden kooperative Kreditkassen (Banken) eingerichtet, die vom JDC und von anderer Stelle Kredite erhielten, die Kapital zusammenbrachten, die Sparkonten führten, und die zu niedrigem Zinssatz Kredite ausgaben, niedriger als bei den Banken.

Gesunde wirtschaftliche Prinzipien verlangten es, dass kurzzeitige Konten nicht akzeptiert wurden, dass Rückstände bei der Begleichung von Zinszahlungen sehr strikt gehandhabt wurden, und dass Kredit nur an kreditwürdige Leute gegeben wurde. Natürlich garantierten amerikanische Kredite den Lohnkassen ihre Gelder, und die Kassen mussten die Gelder pünktlich und schnell zurückbezahlen.

[JDC-Taktik: Wirtschaftliche Prinzipien zur Selbsthilfe beibringen]

Allgemein gesagt war die Idee diese, mit einigen Ausnahmen, dass Osteuropäern, die die Geschäftsbedingungen nicht wirklich verstanden, diese gelehrt werden konnten; dies würde sie befähigen, ihre Wirtschaft auf einer gesunden Basis wiederaufzubauen.

Es gab gewisse Leitlinien, die das JDC sorgfältig beachtete. (S.23)

Zuallererst war das JDC keine politische Organisation. Dies hiess, dass es keinerlei politische Argumente berücksichtigen durfte, egal ob diese von Juden oder Nichtjuden geäussert wurden. Das JDC versuchte auch, gegenüber allen jüdischen Fraktionen unparteiisch zu sein. Bei der Kompliziertheit des jüdischen, politischen Lebens war dies ein Ideal, das nicht leicht einzuhalten war, und natürlich hatte das JDC seine Sympathien und Antipathien - denn in Tat und Wahrheit bestand das JDC aus Kahn und drei oder vier weiteren Leuten in New York.

[JDC-Taktiken: Unabhängigkeit von jeglicher politischer Einmischung]

Nichtsdestotrotz blieb das JDC trotz dieser Bedingungen bemerkenswert frei von jeglicher politischer Einmischung und in seinen Operationen bemerkenswert unparteiisch. Es gelang dem JDC, als vielleicht die einzige, wirklich unabhängige Organisation im jüdischen Leben anerkannt zu werden. Dies hiess nicht, dass das JDC in europäischem Sinne keine nichtpolitische Organisation war - das heisst, unabhängig von den Regierungen. Regierungseinmischung in die Aktivitäten des JDC gab es nicht. Aber das JDC achtete wohl darauf, das gewisse ausländische Programme mit Washington im Einklang standen. Dies war immer in einer freundlichen und unverbindlichen Form vorausgesetzt.

[JDC-Taktik Nr. 1: Koordinierung mit der "US"-Regierung - Beispiel Aussenminister Frank B. Kellogg]

Also, als das JDC z.B. im Frühjahr 1928 seine Arbeit in Russland drastisch ausweiten wollte, schrieb Louis Marshall an Aussenminister Frank B. Kellogg, dass "bevor wir Schritte in diese Richtung unternehmen, wir unsere Pläne dem Aussenministerium mitteilen müssen und versichert sein müssen, dass es keinen Grund gab, weswegen wir diese Arbeit nicht ausführen sollten."

Kellogg antwortete am 9. Mai. "Ich kann euch also sagen, dass das Departement vom Standpunkt der nationalen Politik keine Gründe dafür findet, Einwände gegen eure Beteiligung an der Arbeit der jüdischen Siedlungen in Russland zu haben, was die in eurem Brief dargestellten Leitlinien angeht."

Er fügte aber gleichzeitig auch noch hinzu, dass alles, was das JDC in Russland machte, auf eigenes Risiko geschah.

(Endnote 1: AJ (Akten des Agro-Joint) 36, 4/30/28 [30. April 1928])

[JDC-Taktik Nr. 2: Unterrichtsprinzipien zur Selbsthilfe]

Ein weiteres JDC-Prinzip war seine Bestimmung, den Juden Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, neben der Existenz als Hilfsorganisation. Das Ziel war aber weder die Hilfe noch die Rettung der Leute, sondern die Hilfe für die Juden zum Wiederaufbau ihres Lebens als selbstgeachtete, aufrechte und unabhängige Menschen, die weder von entwürdigenden milden Gaben noch von Bettelei abhängen sollten.

Es gab ein definitives Gefühl für eine grundlegende Ehre der menschlichen Existenz, und (S.24)

dies ist vielleicht einer der wertvollsten Werte, die vom JDC und seinen Operationen hochgehalten wurden. Nun schrieb Hyman, dass "die Politik von Dr. Kahn aus dem Aufbau, der Rehabilitation und der Hilfe zur Selbsthilfe in der jüdischen Bevölkerung bestand, für jene Juden, die körperlich und geistig fähig waren, sich auf eine dauerhafte, selbsttragende Basis zu stellen. So konnten diese Leute eventuell bei ihren örtlichen, sozialen Probleme behilflich sein und Kranken, Invaliden und den Alten Hilfe leisten etc."

(orig.:
"Dr. Kahn's policy has been to reconstruct, rehabilitate and make self-supporting those elements in the Jewish population which are physically and mentally capable of establishing themselves on a permanent self-supporting basis, in order that these people may eventually help their local social problem and bring assistance to the sick, deformed, defective, aged, etc."

(Endnote 2: Ordner 1, 7/25/29 [25 Juli 1929])

Gleichzeitig wurde dies in einer charakteristischen Weise interpretiert: Es mussten auch strenge Geschäftsprinzipien eingehalten werden, und man betonte, dass auf der Rückzahlung der Kredite beharrt werden sollte, in einer Situation mit Umständen, wo zumindest ein Argument für mildere Operationsmethoden hätte hervorgebracht können.

[JDC-Taktik Nr. 3: Das Recht für alle Juden, in ihrer Heimat zu leben - keine Auswanderung]

Ein drittes Prinzip, das das Verteilungskomitee JDC immer eingehalten hat, war, "dass Juden ein Recht haben, in ihrem Land ihrer Geburt zu leben, oder in einem Land ihrer Wahl."

(original:
"that Jews have a right to live in countries of their birth, or in a country of their adoption.")

(Endnote 3: Nathan Reich, JDC Primer [Lehrbuch] (1945), JDC-Bibliothek)

Dies widerspiegelte den amerikanischen Gesichtspunkt, der allen eine Chance geben wollte. Unzweifelhaft war dieser Standpunkt vom amerikanischen ideologischen Konzept beeinflusst, wobei dies in Tat und Wahrheit eine alte Idee des Reformjudentums war, die die deutschen Juden 1848 übernommen hatten.

Dieses Ideal wurde vielleicht bei internationalen Konferenzen und Gesprächen unter Staatsmännern akzeptiert, aber wenn man die Realität der jüdischen Existenz anschaute, dann war das Ideal weit davon entfernt, realisiert zu werden. Allerdings schien es für eine kurze Zeit in den 1920er Jahren, dass dieses Konzept sofort realisiert werden könnte, aber die späteren Ereignisse machten eine solche Aussicht auf Umsetzung völlig unrealistisch. In Tat und Wahrheit trug das Ideal [der Heimat am Geburtsort] dazu bei, dass das JDC jeglicher Auswanderungsbewegung eher zögerlich gegenüberstand, die eine Auswanderung als Lösung der Judenfrage propagierte. Kahn "betonte, dass dem Juden dort geholfen werden muss, wo er sich befindet; die russische Judenfrage muss in Russland, die Palästinafrage in Palästina, das deutsch-jüdische Problem in Deutschland gelöst werden, etc."

(orig.:
"emphasized that the Jew must be helped where he is; the Russian Jewish question must be solved in Russia, the Palestine question in Palestine, the German-Jewish problem in Germany, etc.")

(Endnote 4: Ordner 39, 11/18/31 [18. November 1931])

[Ab den 1930er Jahren: JDC-Taktik Nr. 3 ändert sich: Auswanderung wird unterstützt]

In der Praxis war die Haltung unhaltbar, und mit den Entwicklungen in den 1930er Jahren und den neuen Gesetzen und dem Rückschritt der Menschlichkeit in Europa war das JDC gezwungen, die Auswanderung der Juden zu unterstützen, wie es die Gelegenheit erforderte. Die Hoffnung einer dauerhaften Regelung der Judenfrage in den verschiedenen Wohnsitzländern, der grundlegende Traum eines immerwährenden Diaspora-Lebens, an das das Reformjudentums (S.25)

mit Inbrunst glaubte, musste geändert werden, wenn nicht im Prinzip, so doch in der Praxis. Das JDC zeigte eine bemerkenswerte Fähigkeit, seine Leitlinien in elastischer Weise zu interpretieren, sogar dann, wenn man die Leitlinien verneinen musste - ein Weg, Widersprüche zwischen Theorie und Praxis zu lösen, der in der jüdischen Tradition nicht unbekannt war.

[JDC-Taktik Nr. 4: Überwachung der Verwaltung der Hilfe]

Schlussendlich gab es da eine Vermutung - die nirgendwo klar ausgedrückt wurde, aber die immer unausgesprochen vorhanden war - dass die vom Verteilungskomitee JDC gegebene Hilfe dazu berechtigte, die Verwaltung einer solchen Hilfe genau zu überwachen.

[JDC-Taktik Nr. 5: Unterstützung anderer Hilfsorganisationen]

Gleichzeitig arbeitete das JDC über örtliche Büros oder unterstützte quasi-unabhängige Organisationen, um spezielle Arbeiten auszuführen.

[JDC-Kritiker Louis Berg: JDC verteilt Geld ohne Abstimmung]

Ein Kritiker des JDC war Louis Berg. Er schrieb im Juni 1929 im der Zeitschrift Menorah, dass "die Führer des JDC nie ihren Glauben versteckt haben, dass die grosse Arbeit, dem Judentum in Osteuropa wieder auf die Beine zu helfen, durch die Massen selbst gar nicht zu bewerkstelligen ist, sondern am besten nur durch ein paar wenige, verantwortliche und gutinformierte Führer möglich ist, und durch eine disziplinierte Organisation, wo es keine widersprechende Stimmen gibt. Genau, wie es Herr Louis Marshall an dieser Konferenz [vom Mai 1929] gesagt hat: 'Die Arbeit musste geführt werden, so dass wir über Millionen Dollars verfügen konnten, ohne dass eine Abstimmung stattgefunden hatte.' "

(original:
<the leaders of JDC have never hidden their belief that the gigantic work of rehabilitating East European Jewry cannot be undertaken by the masses, but can best be performed by a few reliable and well-informed leaders, and a disciplined organization, within which there are no dissenting voices. Precisely as Mr. Louis Marshall said at this conference [in May 1929]: 'The work was so conducted that we would dispose of millions of dollars without a vote being taken.'>

(Endnote 5: Akte 42)

Während das JDC keine demokratische Massenorganisation war, so führte es seine Aktionen doch innerhalb der erforderlichen statuarischen Erfordernisse durch. Aber wie das das bei vielen Organisationen der Fall ist, so wurde die formelle Struktur durch informelle Bindungen gehalten, z.B. durch Freundschaften, persönliche Kontakte, und so weiter, und am Schluss waren es dann oft formelle Entscheide, die die zuvor arrangierten Vorhaben absegneten. Berg sah in diesem Vorgehen eine negative Prozedur;

[JDC-Struktur: Aristokratisch mit "Elastizität"]

aber hinsichtlich des quasi aristokratischen Charakters des JDC war eine Elastizität und eine Effizienz in den Operationen vorhanden, die insgesamt bewundernswert war.

[JDC-Taktik Nr. 4: Überwachung der Verwaltung der Hilfe - abhängig von der Mentalität]

Es bestand das Bedürfnis, die Verwaltung der Hilfe und die Effizienz zu überwachen, auch wenn diese Methoden gegenüber Spendengeldern und Hilfsleistungen erniedrigend erschienen und der Unterstützungspolitik und Entwicklung der örtlichen Büros zu widersprechen schienen. In Tat und Wahrheit gab es aber keine harte Linie. Bei einer starken und unabhängigen Gemeinde - wie es z.B. das deutsche Judentum war - war die Überwachung minimal. An anderen Orten verwalteten die JDC-Vertreter, um alle Arten von Schwierigkeiten zu vermeiden, nicht nur die Gelder, sondern sie wurden von den Institutionen sogar noch unterstützt, indirekt, und manchmal sogar direkt. Dies provozierte (S.26)

natürlich wiederum bei Gelegenheit schlechte Gefühle, und die Fälle mussten jeder für sich beurteilt werden. Aber das Verteilungskomitee JDC hat nie einen bürokratischen Apparat betrieben, der sich mit praktisch jedem Aspekt des jüdischen Lebens auseinandergesetzt hätte, so wie das andere jüdische Organisationen (wie die Jüdische Kolonisierungsgesellschaft (Jewish Colonization Association (ICA) in Argentinien) manchmal tun mussten. Im Grossen und Ganzen war das Prinzip, die Idee, den Juden Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, um den Juden eine selbsttragende gemeindemässige Unabhängigkeit zu ermöglichen, am Ende immer aufrechterhalten. Dies machte das JDC, obwohl es auch beträchtliche Kritik ernten musste, zu einer populären Organisation, mit Juden, die sich in einem sich auflösenden jüdischen Europa befanden.







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