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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939


[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 3. Deutschland: 1933-1938

[3.6. Die Diskussion im Joint über die Strategie für die Juden in NS-Deutschland: Bleiben und kämpfen oder auswandern]

[Das JDC unterstützt die Auswanderung - viele deutsche Juden wollen nicht auswandern]

Das Problem für die jüdischen Organisationen ausserhalb von Deutschland war nun dauernd, ob man die Auswanderung aus Deutschland unterstützen sollte, und in welchem Mass. Das Verteilungskomitee JDC, wie auch die anderen Organisationen, mussten das Auswanderungsproblem in den Griff bekommen. Die offizielle Position des JDC war, eine organisierte und geordnete Auswanderung zu unterstützen und war gegen einen panikartigen und ungeordneten Flüchtlingsstrom.

Aber die Auswanderungsarbeit war auch nicht bei allen Führern in Amerika als Ganzes akzeptiert. Diese Stimmen gaben den deutschen Widersachern einen Gegenpart. Zum Beispiel verkündete die Reformgruppe am 1. Mai 1933 in Berlin: "Wir haben absolut nicht die Absicht, uns von der deutsch-nationalen Gemeinde zu trennen und unsere nationalen Verbindungen und in eine jüdische-nationale oder in eine jüdische Volksgemeinschaft zu wechseln."

(original:
"We have absolutely no intention of cutting ourselves off from our German national community and our national ties and of changing over to a Jewish national or folk community.")

(Endnote 20: Mitteilungen an die jüdische Reformgemeinde zu Berlin, 5/1/33 [1. May 1933], 26-Gen & Emerg. Germany, "J")

[9. Mai 1935: CV-Zeitung berichtet, dass über 50 % der deutschen Juden Deutschland als ihre Heimat betrachten]
Das liberale Blatt CV-Zeitung in Deutschland spiegelte dieses Gefühl am 9. Mai 1935 wider, als das Blatt fragte, wieso die Juden der deutschen Regierung helfen sollten, das jüdische Problem zu lösen, indem sie ihren eigenen Exodus organisieren würden. Denn mehr als die Hälfte der deutschen Juden betrachtete immer noch Deutschland als ihre Heimat und würden hier bleiben.

(Endnote 21:
-- CV-Zeitung, 5/9/35 [9. Mai 1935], and
-- Jewish Chronicle, 5/24/35 [24. Mai 1935])

Viele Juden in Grossbritannien und Amerika hatten dieselbe Ansicht.

[11. Okt 1935: Jewish Chronicle berichtet, Juden in ihrem Kampf zu unterstützen]

Am 11. Oktober 1935  fragte der Jewish Chronicle, ob (S.115)

wir uns selbst schuldig bekennen müssen, so wie es mit der Toleranz geschieht, geschlagen, und die deutschen Juden evakuieren müssen, fast eine halbe Million von ihnen in Gott weiss welche Länder. ... Abscheulich? Ja, tatsächlich, das ist der Ruin! ... Juden werden weiterkämpfen. Es gibt keinen anderen Anlass. Besser hilf ihnen, als sie in eine Lage  zu locken, wo sie sich ergeben müssen. Dies würde sie sie in den Augen der Geschichte in Ungnade fallen lassen, und alle Anhänger des Fortschritts würden auf sie zeigen - sogar, vielleicht, von einem zukünftigen, umgestalteten Deutschland - als ein Betrug an der Humanität."

(Endnote 22: Jewish Chronicle, 10/11/35 [11. Oktober 1935], S.11)

[JDC: Marshall und Rosenberg sind gegen Auswanderung - es wäre eine Konzession an Hitler - und die Wirtschaft in anderen Ländern kann schlimmer als in Deutschland sein - und andere Gruppe leiden mehr als die Juden]

Die hauptsächlichen Verfechter einer solchen Meinung an den Versammlungen des JDC waren James Marshall und James N. Rosenberg. Marshall dachte, dass eine Auswanderung "eine Konzession an die Hitlersche Theorie sei, dass die Juden herausmüssten." Auswanderung "half nur einigen wenigen Leuten, wogegen der Hauptteil des Problems in Deutschland selbst zu lösen ist."

(Endnote 23: Memorandum, Hyman an Paul Baerwald, 4/23/35 [23. April 1935], 14-46)

Im Licht der ökonomischen Schwierigkeiten, die sich in anderen Ländern ergaben, so verschlimmerte das Verteilungskomitee JDC dort nur noch die Lage, wenn man Juden auch noch ermuntern würde, dort hin auszuwandern, ohne die Situation in Deutschland substantiell abgemildert zu haben.

Darüberhinaus gab es andere Gruppen in Deutschland, die wirklich leiden mussten. Herr Marshall meinte, dass im Versuch der Auswanderung die deutschen Juden sich selbst von den anderen Gruppen ausschlossen, die ihnen auf längere Zeit gesehen Hilfe geben konnten.

Dies waren Angelegenheiten von fundamentaler Wichtigkeit, und es war den Preis nicht wert, diese Sachen zu übergehen und einfach ein paar 1000 Juden aus Deutschland herauszubekommen;

[JDC-Stimmen gegen die separatistische Philosophie des Zionismus - JDC-Stimmen für die Auswanderung]

und es war auch nicht hilfreich, solch grosse Zahlen von Juden in dieser Zeit nach Palästina zu bringen.

Rosenberg fügte hinzu, dass "er nicht gewillt sei, die nationalistische, separatistische Philosophie des Zionismus zu akzeptieren, denn er schätzte sein amerikanisches Bürgerrecht viel mehr als das."

Zu Stimmen wie diese hatte Warburg die einfache Antwort: "Die deutschen Juden wollen das Land verlassen und müssen mit ihren Problemen an das JDC gelangen. Die Geldgeber des JDC werden helfen, die deutschen Juden umzuschulen und sie herauszubringen."

(Endnote 24: Executive Committee, 5/4/36 [4. Mai 1936])

Die generelle Linie des JDC zur Angelegenheit der Auswanderung war, dass so viel Auswanderung organisiert werden sollte, wie es für Einwanderer Plätze gab.

(Endnote 25:
-- J.C. Hyman in seinem Jahresbericht von 1934; und
-- Executive Committee, 10/9/35 [9. Oktober 1935], Rede von Hyman)

[Der  Joint sieht: Der NS-Antisemitismus ist ein System, nicht eine vorübergehende Erscheinung]

Warburg, Baerwald, Hyman und die Mehrheit der Laienführer akzeptierten die Ansicht Kahns, dass der deutsche Antisemitismus keine "vorübergehende gewaltsame Aktion (S.116)

innerhalb einer revolutionären Bewegung war, oder eine vorübergehende gesetzmässige Diskriminierung, die vielleicht wieder abgeschafft werden würde, oder die sich vielleicht wieder legen würde."

(Endnote 26: Executive Committee, 1/4/34 [4. Januar 1934], Rede von Dr. Kahn)

Der Antisemitismus war die fundamentale Basis des neuen deutschen Staates. Es gab für deutsche Juden keinen Platz mehr. Die deutsche Politik wollte die Juden loswerden. Wann dies erreicht sein würde, war schwierig vorherzusagen. Es konnte eine Generation oder länger dauern, wenn das jetzige Regime nicht lange an der Macht sein würde, oder es konnte auch früher so weit sein. 

[1934: Der Joint ohne Strategie zwischen der Hilfe für Auswanderung und der Hilfe in Deutschland]

Es gab keinen Widerspruch zwischen dem und der Ansicht des JDC, dass "bis zu Hunderttausende hier bleiben müssen, und wir ihnen unsere freundliche Hilfe geben müssen", wie es Rosen sagte. Er fügte hinzu, ein deutsch-jüdischer Flüchtling in Paris zu sein, sei eine sehr tragische Sache, an einem Platz, er genau so unerwünscht war wie in seiner deutschen Heimat, und wo es nicht erlaubt war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen war es manchmal sogar besser, in Deutschland zu bleiben und dort etwas für sein Seelenheil zu tun.

(Endnote 27: J.A. Rosen beim Direktorium, 6/13/34 [13. Juni 1934])

[Rosen sieht dass Problem bei der Anzahl Visas]

Rosens Meinung basierte auf einigen schlimmen Tatsachen: Denn es war schwierig, Einreisevisas für die verschiedenen Länder zu beschaffen, und nicht mehr als 15-20.000 Juden konnten jährlich auf die Ausreise aus Deutschland hoffen, und über die Hälfte der Juden würde dort bleiben müssen, mindestens für noch 10 Jahre, egal, unter welchen Umständen.

(Endnote 28:
-- Zusammenfassung der Aktivitäten des JDC seit 1933 ("Summary of Activities of JDC since 1933") (11/25/35 [25. November 1935]), Flugblatt. Auch:
--  Jonah B. Wise: Bericht über die Situation der Juden in Deutschland ("Report on the Situation of Jews in Germany"); Februar 1934, Flugblatt, wo er sagt: "Die halbe Million, die noch in Deutschland ist, realisiert, dass für die grossen Masse von ihnen ihr Schicksal und ihre Zukunft in Deutschland liegt."

(original:
"The half million Jews still in Germany realize that for the great mass of them, their fate and future lie within Germany.")

[Frühjahr 1934: These von Wise: Keine Zukunft in Deutschland - nicht alle können auswandern]

Die Konsequenzen bei diesem Standpunkt des JDC waren manchmal eher ein Durcheinander. Jonah B. Wise postulierte im Frühjahr 1934

(Endnote 29: Executive Committee, 1/4/34 [4. Januar 1934])

dass

(a) es keine ordentliche Zukunft für Juden in Deutschland gab
(b) einige werden bleiben müssen und sich hier anpassen müssen; und
(c) Deutschland ein Zentrum der jüdischen und der Weltkultur gewesen war und auch weiterhin sein werde. Palästina und generelle Auswanderung seien nicht die einzigen Antworten.

[1934-1935: Die neuen Gesetze gegen Juden machen klar: Die Strategie muss die Auswanderung sein]

Aber langsam und unerbittlich wurde es klar, dass alle anderen Aspekte der deutschen Arbeit, während sie für sich selbst doch nötig und wichtig waren, immer mehr zweitrangig wurden gegenüber der Notwendigkeit, so viele Juden wie möglich aus Hitlers Zugriff zu entziehen. Dies war 1934 noch nicht allen klar, als viele eine gewisse Stabilisierung der Haltung des Nazi-Regimes gegenüber den Juden sahen; aber mit dem Jahr 1935 und speziell nach der Verkündigung der Nürnberger Gesetze in diesem Jahr wurde die Situation deutlich.

[Mai 1935: Kreutzberger verkündet den Exodus der jungen jüdischen Generation aus Deutschland]

Im Mai 1935 erklärte Max Kreutzberger, der Sekretär des ZA (S.117)

vor den Mitgliedern des JDC Exekutivkomitees, dass die Zeit der verschiedenen Ansichten über das Hitler-Regime nun vorüber sei, denn nun würden die Bedingungen in allen Bereichen des deutschen Judentums als hoffnungslos angesehen. Die junge Generation müsse auf einen Exodus vorbereitet werden, und der einzige Kurs für jene, die bleiben würden, sei, hier ihren Lebensabend in Frieden zu vollbringen.

(Endnote 30: Executive Committee, 5/22/35 [22. Mai 1935])

[Bis 1935: Das JDC will den Kampf der Juden für die Gleichberechtigung, so wie die Juden in den "USA" gleiche Rechte haben]

Die Führer des JDC hatten immer einen klaren Standpunkt gegen ein Programm wie dieses. Sie hatten eine Massenauswanderung aus Ländern mit grassierendem Antisemitismus immer bekämpft. Ihr Argument war, dass jede solche Auswanderung eine Unterwerfung unter einen Antiliberalismus darstellte, und dass Juden kämpfen sollten und danach trachten sollten, gleiche Rechte zu bekommen und gleiche Bürger ihrer Aufnahmeländer zu werden, so wie sie dieselben Rechte in Amerika hatten.

[Aber Juden dieser Zeit sind in den "USA" auch in vielen Aspekten des Privatrechts nicht gleichberechtigt, die Aufnahme in Clubs ist verboten etc.
In: Encyclopaedia Judaica: United States]

[1937: Hyman vom JDC behauptet, der Antisemitismus sei nur vorübergehend]

Diese theoretische Position wurde tapfer bis ins Jahr 1937 durch Joseph C. Hyman verteidigt, als er in einem Brief an Prof. Oscar I. Janowsky sagte, dass Antisemitismus nur ein vorübergehender Rückschlag zur Demokratie und zum Liberalismus sei. "Wir glauben noch, dass ein Weg gefunden werden kann, die Juden in ihre Umgebung zu integrieren, und dies unter einem liberalen und toleranten Gesellschaftssystem. ... Ich bin nicht so sicher, dass es unmöglich ist, in diesem Tal der Tränen auf den starken guten Willen zwischen den Juden und ihren Nachbarn zu zählen."

(Endnote 31: J.C. Hyman an Oscar Janowsky, 11/24/37 [24. November 1937], R13)





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