[4.8. Die
erste Auswanderungswelle - keine Hilfe und die
Gründe - deutsche Juden verarmen in Frankreich - und
kehren z.T. nach Deutschland zurück]
[1934: Französische
Juden wollen die deutsch-jüdischen Flüchtlinge
loswerden wegen der Wirtschaftskrise - und die "USA"
helfen auch nicht]
Die Haltung des französischen Judentums gegenüber den
deutsch-jüdischen Flüchtlingen provozierte in Kahns
Briefen an das Verteilungskomitee JDC in New York einen
einzigen Schwall von konstanter und sich wiederholender,
bitterer Kritik. Das französische Judentum neigte dazu,
das amerikanische Judentum wegen ungenügender Hilfe zu
kritisieren - dies (S.150)
war im Jahr 1934, während des Höhepunktes der
Wirtschaftskrise in den USA. Die Lösung, die von den
französischen Juden vertreten wurde, war, die deutschen
Juden so schnell wie möglich zur Auswanderung zu
bewegen. Sie wiederholten sogar diese Anträge in
offiziellen Gremien, wo sie ihre Vertretungen hatten,
wie im Beirat der McDonalds-Kommission, und Kahn dachte,
er müsste mit einer negativen Reaktion der
amerikanischen Juden drohen, wenn bekannt würde, dass
die französischen Juden die Flüchtlinge loswerden
wollten.
(Endnote 39: Dr. Kahns Akten, Ordner Hilfsverein,
1932-1935, Kahn an Hyman, 5/11/34 [11. Mai 1934])
[1933-1934: Frankreich:
Das Nationale Jüdische Komitee löst sich 1934 auf -
die Auflösungskommission übernimmt die Unterstützung
für die verarmten jüdischen Flüchtlinge in Frankreich]
Das Nationale Komitee, das 1933 gegründet worden war,
löste sich im Juni 1934 auf. Eine Auflösungskommission,
die die Aufgabe übernehmen sollte, notleidende
Flüchtlinge zu versorgen, verweigerte einigen Gruppen
von Einwanderern die Hilfe. Darunter waren auch
Personen, die im Voraus keinen Antrag auf Hilfe gestellt
hatten, sondern die nun ihre Vorräte aufgebraucht hatten
und ohne Hilfe nicht mehr weiterleben konnten. Sie
hatten alle ihre Sachen verkauft, auch ihre Kleider. Die
Leute mussten ja Geld haben, um ihre Hotelrechnungen zu
bezahlen. Viele waren nun mit der "Alternative Stehlen
oder Betteln" konfrontiert. "Diebstähle, und was noch
häufiger ist, Fälle von Mundraub"
(Endnote 40: Gen. & Emerg. Germany, Flüchtlinge
1934/5, Bericht der Deutschen Kommission (übersetzt),
unterschrieben von Prof. Georg Bernhard, Dr. Sammy
Gronemann, und Dr. Oscar Cohn, unter anderem).
wurden gemeldet. Wohlhabenden deutsch-jüdische
Flüchtlingen gelang es, im Frühjahr 200.000 Francs zu
sammeln, aber dies war nicht genug. Ein ähnliches
Unternehmen in Britannien musste gestoppt werden, als
der CBF [Central British Fund for German Jewry]
verlangte, dass alles Geld nur über seine Organisation
abgewickelt würde. Die Einrichtungen in Paris waren
schlecht: Das einzige Obdach in Paris war überfüllt und
mit Ungeziefer verwanzt.
[1934-1935: Frankreich:
Wenig Landwirtschaftsausbildung für jüdische
Flüchtlinge durch Agriculture et Artisanat]
Gruppen, die Flüchtlinge für eine Auswanderung
ausbildete wie Agriculture et Artisanat, konnten nur
mittelmässige Erfolge vorweisen: Bis 1935 hatte die
Gruppe 350 Leute ausgebildet, von denen 200 Frankreich
verlassen hatten. Das HICEM half im Jahr 1934 2343
Leuten bei der Auswanderung.
(Endnote 41: R22, 1934 Berichtsentwurf)
[Kahn schlussfolgert:
Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit macht jüdische
Flüchtlinge zum Feind]
Es schien nur kleine Möglichkeiten zu geben, das Problem
mit den Mitteln zu lösen, die den jüdischen
Organisationen zur Verfügung standen. Kahn fasste es so
zusammen, indem er sagte, dass die Wirtschaftskrise und
die vielen Arbeitslosen in den Grossstädten, wo die
Flüchtlinge zu siedeln versuchten, "die Humanität in
jene primitiven Tage der menschlichen Geschichte
zurückgeworfen haben, als jeder Fremde, der ein fremdes
Land betrat, als Feind betrachtet wurde, den es zu
zerstören galt."
(Endnote 42: R16, Kahn Bericht, 1/3/35 [3. Januar 1935])
[1934: Frankreich:
Direkte Hilfe für Flüchtlinge durch den Joint -
französische Juden blockieren das Siedeln deutscher
Juden]
Es gab wirklich keine Nachfolgeorganisation für das
Nationale Komitee, und das Verteilungskomitee JDC hatte
einfach nicht die Mittel, die Flüchtlinge zu ernähren
und einzukleiden. (S.151)
Es gab im Jahr 1934 ungefähr 10-12.000 jüdische
Flüchtlinge in Frankreich, von denen vielleicht nicht
mehr als 3500 absolut von Hilfe abhängig waren. Dazu
musste das JDC sofort 170.000 $ für Flüchtlinge in
Frankreich ausgeben, weil keine Unterstützung an Ort
vorhanden war. Das JDC versuchte, durch direkte
Interventionen beim französischen Premier Flandin,
Arbeitserlaubnisse zu beschaffen. "Die französischen
Juden machten alles nur Erdenkliche, um die Bemühungen
für eine konstruktive Arbeit hier zu durchkreuzen. ...
Es wäre uns möglich gewesen, mehrere hundert Familien
auf dem Land in Frankreich anzusiedeln, und es wäre den
Juden hier gut bekommen. Wir können dies immer noch tun,
aber wir sind hier bereits auf eine unüberwindbare
Opposition gestossen. Der Grund ist, dass die
französischen Juden Angst vor Antisemitismus haben."
(Endnote 43: Executive Committee, 1/7/35 [7. Januar
1935]; vgl. auch 1/4/34 [4. Januar 1934])
[1934: Politische Morde
in Frankreich verbreiten die Angst vor Antisemitismus
- jüdische Flüchtlinge werden nicht aufgenommen]
Die Wahrheit in der ganzen Geschichte war, dass das
französische Judentum sich vor dem Anwachsen der
französischen, faschistischen Bewegungen fürchtete, die
im Februar 1934 in Paris schwere Unruhen verursachten.
Nach der Ermordung des Königs von Jugoslawien, König
Alexander, und des französischen Aussenminister, Louis
Barthou, am 9. Oktober 1934, erklärte das Oberhaupt des
französisch-jüdischen Presbyteriums, die höchste
religiöse Einrichtung des französischen Judentums, dass
nichts getan werden sollte, um die Flüchtlinge für immer
in Paris leben zu lassen.
(Endnote 44: Siehe Endnote 39 oben; Brief von Kahn,
10/26/34 [26. Oktober 1934])
[Deutsch-jüdische
Flüchtlinge kehren ins Dritte Reich zurück und landen
in Konzentrationslagern]
Das Verteilungskomitee JDC konnte ausser Hilfe zu
leisten kaum etwas anderes tun. Die wenigen Mittel
wurden so effektiv wie möglich eingesetzt. Es wurde so
vielen Flüchtlingen wie möglich zur Auswanderung aus
Frankreich verholfen. Während des Jahres 1934 hatten
viele Flüchtlinge keine andere Wahl, als nach
Deutschland zurückzukehren. 1200 bis 1500 machten dies
von Holland aus, und die doppelte Anzahl machte dies von
Frankreich aus.
Im Jahr 1935 hörten die Flüchtlingskomitees mit dieser
Praxis auf, weil sie vernahmen, dass die Deutschen die
jüdischen Rückkehrer ab Ende Januar [1935] in
Konzentrationslager verschickten.
Ein Bulletin des JDC zitierte ein deutsches
Regierungsrundschreiben, das besagte, dass "diese
Repatriierten in Konzentrationslager gebracht werden
sollten, um dort die nationalsozialistischen Grundsätze
zu erlernen, die sie während ihres Aufenthaltes im
Ausland nicht hatten erlernen können."
(Endnote 45: R16, JDC monatliches Bulletin, Nrn. 1 &
2, 3/6/35 [6. März 1935]; ebenda., Nrn. 3 & 4,
6/3/35 [3. Juni 1935])
[1935: Frankreich:
Keine Hilfe für deutsch-jüdische Flüchtlinge -
Deportationsbefehle - einige Juden deportiert -
versteckte Juden]
Im Jahr 1935 verschlimmerte sich die Situation. Die
Hilfe für deutsch-jüdische Flüchtlinge kam faktisch zum
Erliegen. Die Anstrengungen des Verteilungskomitees JDC,
das französische Judentum dazu zu bringen, eine neue
Kampagne für Hilfsgelder zu starten, hatte keinen
Erfolg. Die französische Regierung gab tausende
Deportationsbefehle heraus, (S.152)
aber nur wenige wurden auch gegen die Juden
durchgeführt. Im Frühjahr des Jahres [1935] hielten sich
nicht mehr als 9000 Flüchtlinge in Frankreich auf, von
denen sich schätzungsweise ungefähr 2000 vor der
Deportation versteckt hielten.
(Endnote 46: R14, Kahns Bericht für das Jahr 1935, Jan.
1936)
[1936: Frankreich: Alle
örtlichen französisch-jüdischen Komitees lösen sich
auf - der Joint bleibt allein mit der Hilfe für die
jüdischen Flüchtlinge in Frankreich]
Bis Ende 1935 und Frühjahr 1936 begannen die
Flüchtlingshilfekomitees, die 1933/1934 wie Pilze aus
dem Boden geschossen waren, wieder zu verschwinden.
Agriculture et Artisanat löste sich 1936 auf;
(Endnote 47: In Paris hatte es ein Komitee gegeben, dass
als Assistance Médicale aux Enfants bekannt war, under
einer Ärztin, die aus Deutschland geflüchtet war, mit
der Hilfe ihres Liebhabers, ein anderer deutscher
Flüchtling. Sie gebrauchte den Namen der Baronin von
Rothschild, um ohne Schwierigkeiten Spendengelder
auftreiben zu können, ohne die Baronin zu informieren.
Sie betreute dabei ungefähr 1200 Kinder und Kleinkinder
(R16, Mai 1935, Bericht). Sie erhielt auch einige Gelder
des JDC. Eines Tages tauchte die Frau des Liebhabers auf
und fand das Paar bei der Assistance Médicale. Das
Liebespaar flüchtete durch das Fenster, die Frau beging
Selbstmord, die Baronin entdeckte, dass zwei Jahre lang
das Oberhaupt einer recht gut laufenden Institution
gewesen war, und die Assistance Médicale löste sich auf.
Was mit den Kindern geschehen ist, die ihre Hilfe
erhalten hatten, ist nicht aufgezeichnet (R15, Kahn an
Morrison, 3/1/36 [1. März 1936]. Ähnlich erging es einer
Organisation, die sich Renouveau nannte, die vorgab,
junge Leute unter Einfluss des religiösen Zionismus
beruflich auszubilden. Auch dies kam zu einem
unehrenhaften Ende (28-9).
andere folgten sogleich. Mit dem Beginn der
Volksfront-Regierung des linken Flügels im Jahr 1936
neigten die Rothschilds und ihre Unterstützer, sich von
der öffentlichen Bühne zu verabschieden. Kahn, der
normalerweise in seinen Meinungen konservativ war,
fühlte sich zur Äusserung veranlasst, dass neben dem JDC
"niemand sich um die deutschen Flüchtlinge in Frankreich
kümmerte, weder die ICA [Jewish Colonization
Association], noch die jüdische Gemeinde, noch die
Briten (Juden), noch irgendeine andere Organisation."
(Endnote 48: Dr. Kahns Akten, Ordner Hilfsverein,
1936-1939, Kahn an Baerwald, 6/18/36 [18. Juni 1936])