[A. Die
Zerstörung der jüdischen Existenz in Polen 1929-1939]
5.1. Polen [Militärregime und antisemitische
Parteien ab 1926]
Nachdem in den 1930er Jahren die Nazis in Deutschland die
Macht übernommen hatten, existierte die Tendenz bei den
wohlgesinnten Juden und Nichtjuden, sich auf die Not
der halben Million deutscher Juden zu konzentrieren. Polen
und die osteuropäischen Länder schienen im Vergleich dazu
sichere Häfen im Wohlstand zu sein.
Aber nichts von all dem war entfernter von der Wahrheit
als das.
Politisch waren die Juden in Polen zwischen der polnischen
Regierung und der Opposition eingeklemmt, und sie wurden
eine total hilflose Minderheit.
[1926: Militärischer
Umsturz und Pilsudski -Regime - keine entsprechende
jüdische Vertretung im Parlament]
Im Jahr 1926 brachte ein militärischer Umsturz die
parlamentarische Regierung zu Fall. In der Folge wurde
eine Militärdiktatur unter Marschall Józef Pilsudski
eingerichtet. Ursprünglich behielt der linke Flügel aus
der Vereinigten Bauernpartei und den Sozialisten (die
polnische Abkürzung war PPS) gegenüber dem neuen Regime
eine wohlwollende Neutralität. Aber bald wandten sie sich
gegen das Regime.
Die Nationalen Demokraten vom rechten Flügel (oder auch
Endeks genannt) vertraten die polnische Mittelklasse. Sie
waren schon vor 1926 an der Macht gewesen; jetzt waren sie
in einer bitteren Oppositionsrolle.
In der frisierten Wahl im Jahr 1930 gewannen dann die von
der Regierung gesponserten Abgeordneten die Mehrheit.
Mit der Zerstörung des demokratischen Parlamentarismus
konnten die Minderheiten - darunter die Juden - nicht mehr
länger auf eine angemessene Vertretung im Sejm (das
polnische Parlament) hoffen. (S.180)
Die Regierung versuchte dabei, sich mit rechten Tendenzen
in Anlehnung an die Opposition beliebt zu machen.
[Die Nationalen
Demokraten (Endek-Partei) - die Abspaltung der extremen
ONR]
In der Endek-Partei selbst gewann eine junge
halbfaschistische und aktiv antisemitische Clique die
Oberhand. Aber auch das war noch nicht genug, denn von der
Endeks spaltete sich eine extreme, pro-faschistische und
antisemitische Gruppe ab und gründete die Partei namens
ONR.
[April 1935:
Diktatorisches Recht - Übernahme von rechtsextremen
Vorschlägen - antisemitische Massnahmen]
Die Regierung wollte die Macht nicht abtreten, und so
wurde die Diktatur durch eine neue Verfassung
institutionalisiert, die der Sejm im April 1935
verabschiedete, einige Wochen vor Pilsudskis Tod. Um die
Macht aber zu behalten, übernahm die Regierung viele
Elemente, die von den rechten Kritikern vertreten wurden,
miteingeschlossen antisemitische Massnahmen.
[Ab Mai 1935: Marschall
Smigly-Rydz]
Nach dem Mai 1935 war die Führung der Regierung in den
Händen einer Clique von Armeeoffizieren, und politische
Aristokraten konzentrierten sich um den schwachen und
eitlen Marschall Edward Smigly-Rydz. Pilsudski selbst war
angegriffen worden, den Antisemitismus zu aktivieren, und
die Juden schätzten Pilsudski so ein, dass er sie vor den
Tendenzen des rechten Flügels beschützt hatte. Nach seinem
Tod konnten sich diese Tendenzen viel mehr durchsetzen.
[Frühjahr 1937: Gründung
der halbfaschistischen OZN]
Im Frühjahr 1937 gründeten Regierungsvertreter selbst eine
neue Partei, bekannt als OZN, die die Ansichten der
halbfaschistischen Elemente in der Armee, die Bürokratie
und die Mittelklasse repräsentierte. Die OZN hatte die
Absicht, die Wählerstimmen der Opponenten am rechten
Flügel zu gewinnen, und sie engagierte sich in
antisemitischer Propaganda.
Die Juden konnten die rechtsgerichtete Opposition nicht
unterstützen; und die Regierung, die ursprünglich als
Beschützer betrachtet worden war, wurde nun zu einem
Feind.
[Ab Frühjahr 1937: Die
linke Opposition mit Bauern und PPS]
Es blieb noch die Opposition des linken Flügels. Die
Bauern unter ihrem radikalen Führer Stanislaw Mikolajczyk
tendierten im Frühjahr nach links. Zusammen mit der PPS
repräsentierten sie vielleicht gut über die Hälfte der
Bevölkerung. Die Bauern durchschauten trotz
antisemitischer Tendenzen die Regierungspolitik und
lehnten die Ablenkung von ihrer Hauptforderung einer neuen
Aufteilung des Bodens durch Judenhetze ab.
Aber auch die PPS war nicht frei von Antisemitismus; ihr
jüdischer Verbündeter, der Bund, war nie fähig, ein
offenes, politisches Bündnis mit der PPS abzuschliessen.
Nichtsdestotrotz kam es auf lokaler Ebene und in einer
Anzahl Sachfragen zur Zusammenarbeit zwischen diesen
beiden sozialistischen Parteien. (S.181)
[Nov 1938: Terror-Wahlen
bringen der OZN-Gruppe die absolute Mehrheit]
Die aktuelle Stärke der politischen Parteien in Polen kann
an den Ereignissen im Spätjahr 1938 abgelesen werden. Im
November dieses Jahres bekam die Regierungsgruppe OZN bei
den allgemeinen Wahlen, die unter faktischem Terror
durchgeführt wurden, eine absolute Mehrheit
[Dez 1938: Kommunalwahlen
mit grossen linken Anteilen]
Aber in den Kommunalwahlen vom Dezember 1938 bekamen die
PPS und der Bund, die zusammenarbeiteten, in Warschau 43 %
der Wählerstimmen, in Krakau 35 % und in Lodz 55 %.
Unzweifelhaft erleichterte dieser Sieg der Linken die
Arbeit der jüdischen Position etwas in den späten 1930er
Jahren.
[Jüdische Politik im
antisemitischen Polen]
Die internationale politische Struktur der jüdischen
Gemeinde war durch die grosse Anzahl von politischen
Organisationen charakterisiert. Ihre relative Stärke
konnte nie zur Zufriedenheit etabliert werden, denn alle
Wahlen in den 1930er Jahren waren frisiert und waren
keinesfalls ein Spiegel der wahren Zustände in diesem
Staat. Im Jahr 1930 waren zehn jüdische Vertreter im
Parlament, von denen drei aufgrund des Regierungsdrucks
gewählt wurden. Von den anderen waren sechs Zionisten; der
Bund hatte an den Wahlen nicht teilgenommen. Im Jahr 1935
schwand die jüdische Vertretung auf vier Leute, von denen
drei Zionisten waren und einer ein Unterstützer der
Regierung, ein Agutist.
Im Jahre 1938 waren es drei Zionisten und zwei Agutisten.
Im Spätjahr 1938 und im Frühjahr 1939 war es andererseits
klar, dass bei den Kommunalwahlen eine grosse Mehrheit der
jüdischen Wähler in den Städten den Bund gewählt hatten.
Dies bedeutete, dass die jüdische Bevölkerung radikaler
geworden war und den Bund bevorzugte. Aber dies hiess
nicht, dass das jüdische Interesse an Zionismus und
Palästina nachgelassen hätte.
(Endnote 1: A Tartakower: Yiddishe Politik und Yiddshe
Kultur in Polen; In: Allgemeine Encyclopedie, Artikel:
Yiden; siehe auch: Jewish Chronicle 9/28/36 [28. September
1936], S.24, wo Zahlen für die Kommunalwahlen von 1936
zeigen, dass der Bund 15 von 46 Sitzen bekam, verschiedene
zionistische Parteien bekamen 18, und die Agudah 10).
Bei den Kommunalwahlen konnte man für den Bund stimmen und
gleichzeitig den Zionismus unterstützen. Die Wählerstimme
für den Bund war wirklich ein Ausdruck von
Hoffnungslosigkeit. Das damalige vorherrschende Bild war
ein politischer Niedergang einer Regierung, die sich durch
antisemitische Vorurteile Befriedigung verschaffte, und
gleichzeitig kam es zur fortschreitenden Radikalisierung
unter der jüdischen Bevölkerung.
[1927-1938: Dauernde
Wirtschaftskrise in Polen und hohe Arbeitslosigkeit]
Der Hintergrund dieser Situation lag natürlich in der
Wirtschaftskrise, die in Polen bis ins Spätjahr 1938
andauerte. Die offizielle Arbeitslosigkeitsstatistik in
Polen war traditionellerweise verdächtig, aber schon diese
Zahlen zeigten, dass im Jahr 1927 165.300 Leute arbeitslos
waren, und bis 1935 stieg die Arbeitslosenzahl auf
402.000. Ein Historiker schätzte die reale Zahl der
Arbeitslosen in Polen während der zweiten Hälfte des
Jahrzehnts (S.182)
auf 1,5 Millionen.
(Endnote 2: R14, Kahns Aktenmaterial, November 1936; und
Hans Roos: Geschichte der Polnischen Nation 1916-1960;
Stuttgart 1961, S. 144. Polens Wirtschaftspolitik hatte
sich seit dem Ende der 1920er Jahre nicht geändert; sie
war immer noch eng mit der Idee eines Staatskapitalismus
verbunden, und es existierten weiterhin Staatsmonopole, um
die Juden aus ihren Berufen gewaltsam zu vertreiben).
Die Staatsbürokratie war omnipräsent, gross und
kostspielig.