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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939


[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 5. Der Vorlauf zum Holocaust
[A. Die Zerstörung der jüdischen Existenz in Polen 1929-1939]

5.1. Polen [Militärregime und antisemitische Parteien ab 1926]

Nachdem in den 1930er Jahren die Nazis in Deutschland die Macht übernommen hatten, existierte die Tendenz bei den wohlgesinnten  Juden und Nichtjuden, sich auf die Not der halben Million deutscher Juden zu konzentrieren. Polen und die osteuropäischen Länder schienen im Vergleich dazu sichere Häfen im Wohlstand zu sein.

Aber nichts von all dem war entfernter von der Wahrheit als das.

Politisch waren die Juden in Polen zwischen der polnischen Regierung und der Opposition eingeklemmt, und sie wurden eine total hilflose Minderheit.

[1926: Militärischer Umsturz und Pilsudski -Regime - keine entsprechende jüdische Vertretung im Parlament]

Im Jahr 1926 brachte ein militärischer Umsturz die parlamentarische Regierung zu Fall. In der Folge wurde eine Militärdiktatur unter Marschall Józef Pilsudski eingerichtet. Ursprünglich behielt der linke Flügel aus der Vereinigten Bauernpartei und den Sozialisten (die polnische Abkürzung war PPS) gegenüber dem neuen Regime eine wohlwollende Neutralität. Aber bald wandten sie sich gegen das Regime.

Die Nationalen Demokraten vom rechten Flügel (oder auch Endeks genannt) vertraten die polnische Mittelklasse. Sie waren schon vor 1926 an der Macht gewesen; jetzt waren sie in einer bitteren Oppositionsrolle.

In der frisierten Wahl im Jahr 1930 gewannen dann die von der Regierung gesponserten Abgeordneten die Mehrheit.

Mit der Zerstörung des demokratischen Parlamentarismus konnten die Minderheiten - darunter die Juden - nicht mehr länger auf eine angemessene Vertretung im Sejm (das polnische Parlament) hoffen. (S.180)

Die Regierung versuchte dabei, sich mit rechten Tendenzen in Anlehnung an die Opposition beliebt zu machen.

[Die Nationalen Demokraten (Endek-Partei) - die Abspaltung der extremen ONR]
In der Endek-Partei selbst gewann eine junge halbfaschistische und aktiv antisemitische Clique die Oberhand. Aber auch das war noch nicht genug, denn von der Endeks spaltete sich eine extreme, pro-faschistische und antisemitische Gruppe ab und gründete die Partei namens ONR.

[April 1935: Diktatorisches Recht - Übernahme von rechtsextremen Vorschlägen - antisemitische Massnahmen]
Die Regierung wollte die Macht nicht abtreten, und so wurde die Diktatur durch eine neue Verfassung institutionalisiert, die der Sejm im April 1935 verabschiedete, einige Wochen vor Pilsudskis Tod. Um die Macht aber zu behalten, übernahm die Regierung viele Elemente, die von den rechten Kritikern vertreten wurden, miteingeschlossen antisemitische Massnahmen.

[Ab Mai 1935: Marschall Smigly-Rydz]
Nach dem Mai 1935 war die Führung der Regierung in den Händen einer Clique von Armeeoffizieren, und politische Aristokraten konzentrierten sich um den schwachen und eitlen Marschall Edward Smigly-Rydz. Pilsudski selbst war angegriffen worden, den Antisemitismus zu aktivieren, und die Juden schätzten Pilsudski so ein, dass er sie vor den Tendenzen des rechten Flügels beschützt hatte. Nach seinem Tod konnten sich diese Tendenzen viel mehr durchsetzen.

[Frühjahr 1937: Gründung der halbfaschistischen OZN]
Im Frühjahr 1937 gründeten Regierungsvertreter selbst eine neue Partei, bekannt als OZN, die die Ansichten der halbfaschistischen Elemente in der Armee, die Bürokratie und die Mittelklasse repräsentierte. Die OZN hatte die Absicht, die Wählerstimmen der Opponenten am rechten Flügel zu gewinnen, und sie engagierte sich in antisemitischer Propaganda.

Die Juden konnten die rechtsgerichtete Opposition nicht unterstützen; und die Regierung, die ursprünglich als Beschützer betrachtet worden war, wurde nun zu einem Feind.

[Ab Frühjahr 1937: Die linke Opposition mit Bauern und PPS]
Es blieb noch die Opposition des linken Flügels. Die Bauern unter ihrem radikalen Führer Stanislaw Mikolajczyk tendierten im Frühjahr nach links. Zusammen mit der PPS repräsentierten sie vielleicht gut über die Hälfte der Bevölkerung. Die Bauern durchschauten trotz antisemitischer Tendenzen die Regierungspolitik und lehnten die Ablenkung von ihrer Hauptforderung einer neuen Aufteilung des Bodens durch Judenhetze ab.

Aber auch die PPS war nicht frei von Antisemitismus; ihr jüdischer Verbündeter, der Bund, war nie fähig, ein offenes, politisches Bündnis mit der PPS abzuschliessen. Nichtsdestotrotz kam es auf lokaler Ebene und in einer Anzahl Sachfragen zur Zusammenarbeit zwischen diesen beiden sozialistischen Parteien. (S.181)

[Nov 1938: Terror-Wahlen bringen der OZN-Gruppe die absolute Mehrheit]
Die aktuelle Stärke der politischen Parteien in Polen kann an den Ereignissen im Spätjahr 1938 abgelesen werden. Im November dieses Jahres bekam die Regierungsgruppe OZN bei den allgemeinen Wahlen, die unter faktischem Terror durchgeführt wurden, eine absolute Mehrheit

[Dez 1938: Kommunalwahlen mit grossen linken Anteilen]
Aber in den Kommunalwahlen vom Dezember 1938 bekamen die PPS und der Bund, die zusammenarbeiteten, in Warschau 43 % der Wählerstimmen, in Krakau 35 % und in Lodz 55 %. Unzweifelhaft erleichterte dieser Sieg der Linken die Arbeit der jüdischen Position etwas in den späten 1930er Jahren.

[Jüdische Politik im antisemitischen Polen]

Die internationale politische Struktur der jüdischen Gemeinde war durch die grosse Anzahl von politischen Organisationen charakterisiert. Ihre relative Stärke konnte nie zur Zufriedenheit etabliert werden, denn alle Wahlen in den 1930er Jahren waren frisiert und waren keinesfalls ein Spiegel der wahren Zustände in diesem Staat. Im Jahr 1930 waren zehn jüdische Vertreter im Parlament, von denen drei aufgrund des Regierungsdrucks gewählt wurden. Von den anderen waren sechs Zionisten; der Bund hatte an den Wahlen nicht teilgenommen. Im Jahr 1935 schwand die jüdische Vertretung auf vier Leute, von denen drei Zionisten waren und einer ein Unterstützer der Regierung, ein Agutist.

Im Jahre 1938 waren es drei Zionisten und zwei Agutisten.

Im Spätjahr 1938 und im Frühjahr 1939 war es andererseits klar, dass bei den Kommunalwahlen eine grosse Mehrheit der jüdischen Wähler in den Städten den Bund gewählt hatten. Dies bedeutete, dass die jüdische Bevölkerung radikaler geworden war und den Bund bevorzugte. Aber dies hiess nicht, dass das jüdische Interesse an Zionismus und Palästina nachgelassen hätte.

(Endnote 1: A Tartakower: Yiddishe Politik und Yiddshe Kultur in Polen; In: Allgemeine Encyclopedie, Artikel: Yiden; siehe auch: Jewish Chronicle 9/28/36 [28. September 1936], S.24, wo Zahlen für die Kommunalwahlen von 1936 zeigen, dass der Bund 15 von 46 Sitzen bekam, verschiedene zionistische Parteien bekamen 18, und die Agudah 10).

Bei den Kommunalwahlen konnte man für den Bund stimmen und gleichzeitig den Zionismus unterstützen. Die Wählerstimme für den Bund war wirklich ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit. Das damalige vorherrschende Bild war ein politischer Niedergang einer Regierung, die sich durch antisemitische Vorurteile Befriedigung verschaffte, und gleichzeitig kam es zur fortschreitenden Radikalisierung unter der jüdischen Bevölkerung.

[1927-1938: Dauernde Wirtschaftskrise in Polen und hohe Arbeitslosigkeit]

Der Hintergrund dieser Situation lag natürlich in der Wirtschaftskrise, die in Polen bis ins Spätjahr 1938 andauerte. Die offizielle Arbeitslosigkeitsstatistik in Polen war traditionellerweise verdächtig, aber schon diese Zahlen zeigten, dass im Jahr 1927 165.300 Leute arbeitslos waren, und bis 1935 stieg die Arbeitslosenzahl auf 402.000. Ein Historiker schätzte die reale Zahl der Arbeitslosen in Polen während der zweiten Hälfte des Jahrzehnts (S.182)

auf 1,5 Millionen.

(Endnote 2: R14, Kahns Aktenmaterial, November 1936; und Hans Roos: Geschichte der Polnischen Nation 1916-1960; Stuttgart 1961, S. 144. Polens Wirtschaftspolitik hatte sich seit dem Ende der 1920er Jahre nicht geändert; sie war immer noch eng mit der Idee eines Staatskapitalismus verbunden, und es existierten weiterhin Staatsmonopole, um die Juden aus ihren Berufen gewaltsam zu vertreiben).

Die Staatsbürokratie war omnipräsent, gross und kostspielig.







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