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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939


[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 5. Der Vorlauf zum Holocaust

[A. Die Zerstörung der jüdischen Existenz in Polen 1929-1939]
[5.2. Diskriminierung und mörderische Pogrome im antisemitischen Polen 1935-1939]

[Die Diskriminierung der Juden in Polen ist schlimmer als im Dritten Reich]
Die wirtschaftlichen Probleme, die in den folgenden Abschnitten erläutert werden, waren durch das wachsende Crescendo physischer Angriffe durch antisemitische Elemente auf die jüdische Bevölkerung begleitet. Zu gewissen Zeiten tendierten diese Angriffe die triste Armut zu überschatten, in die die jüdischen Massen immer mehr hinabsanken. die physischen Angriffe wurden durch offene Diskriminierung begleitet, die den Massnahmen in Nazi-Deutschland zu dieser Zeit gleichwertig waren, und diese oft noch übertrafen.

[März 1935: Lodz: Unterstützung für jüdische Organisationen wird abgeschafft]

In den ersten Tagen des März 1935 schaffte die Endeks [Nationale Demokraten], die in der Gemeinde Lodz regierte (eine Stadt mit einer jüdischen Bevölkerung von 200.000) alle Unterstützungen für jüdische Organisationen ab.

(Endnote 3: Jewish Chronicle, 3/22/35 [22. März 1935], S.22)

[Jahre 1935-1937: Diskriminierung jüdischer Studenten an den Universitäten in Kraft gesetzt]
Im Spätjahr 1935 verlangte die lang regierende Endek, die jüdischen Universitätsstudenten von ihren nichtjüdischen Kollegen zu trennen. Dies wurde in Lwów umgesetzt, gefolgt vom Warschauer Polytechnikum im Oktober 1937, und auch die Universitäten in Vilna, Krakau und Posen setzten diese Massnahme um.

(Endnote 4: ebenda [Jewish Chronicle], 12/20/35 [20.12.1935], 1/17/36 [17.1.1936]. R61-Bericht über Polen, Februar 1939, 46-Bericht 1938; spezielles Bulletin des AJC [American Jewish Committee], 2/1/38 [1. Feb 1938])

[Ab dem Frühjahr 1935: Boykotte und Pogrome gegen Juden mit Steinen, Feuer und vielen Morden]

Die Boykotte, die im Frühjahr 1935 begannen, breiteten sich in Polen in allen ländlichen Regionen aus. Es folgten dann Pogrome: Einwerfen von Fensterscheiben, das Umkippen von jüdischen Marktständen, Schläge, Brandstiftung, und schliesslich auch Morde. Die Einzelheiten dieser schrecklichen Brutalitäten wiederholten sich immer wieder.

Im Jahr 1935 fanden Pogrome statt: im April in Radomsko, im Mai in Radosc (bei Warschau) und in Grochow sowie in Grodno. Im Dezember [1935] begannen diese einzelnen Ereignisse in Kampagnen schlimmer zu werden: Es kam zu Unruhen in Klwow, In Lodz, Katowice, Kielce und  Hrubieszow, und im Januar 1936 folgten Angriffe auf Juden u.a. in Krakau und Warschau.

Am 9. März 1936 fand in Przytyk ein schreckliches Pogrom statt, wo zwei Juden getötet und viele Häuser gebrandschatzt wurden: In denselben Monaten wurden in 13 weiteren Städten Bomben geworfen, miteingeschlossen Minsk Mazowiecki; dort ereignete sich in den ersten Juni-Tagen ein zweites Pogrom, und nachdem vier Juden getötet worden waren, verliessen die meisten Juden die Stadt und gingen nach Warschau.

Während des Jahres 1936 und im Frühjahr 1937 wurden die Pogrome in Polen zum täglichen Ereignis, und alles wies darauf hin, dass sie besser organisiert waren. In Tschenstochau fingen die Ausschreitungen im Juni 1937 an (S.183)

mit einem Kampf zwischen zwei Gepäckträgern; es folgte eine gut organisierte Boykottbewegung gegen die jüdische Bevölkerung, die die Unruhen über Monate hinweg verlängerte.

Kahn stellte "eine sorgfältige Planung der Aktivitäten der antisemitischen Elemente fest, bei denen hohe Regierungsvertreter teilhatten." Im Verlauf des Pogroms in Tschenstochau, gab die Endek-Zeitung Ganiec Czestochowski eine Liste von Strassen heraus, wo Juden noch nicht beraubt worden waren.

(Endnote 5: Grosse Mengen über diese Pogrome sind in den JDC-Archiven erhältlich. Es sind die Ordner R13, R52, R60, 8-21, 14-5, 46-Berichte 1936, 1937, 1938; siehe auch: WAC, Schachteln 345 und 366. Das Zitat ist aus Kahns Bericht entnommen, 6/7/37, in R52; siehe auch: Jewish Chronicle 4/19, 5/3, 5/10, 6/14, 9/6, 11/2, 12/6, 12/13/35; 3/13, 3/27/36; et seq. [und die folgenden])

75 Jews wurden bei diesem speziellen Ausbruch verwundet.

Im Mai 1937 ereignete sich in Brest Litowsk ein anderer Ausbruch, wo eine Anzahl Juden getötet und ungefähr 200 verwundet wurden.

(Endnote 6: R13-Hymans Bericht an das Budget- und Bereichsleitungskomitee ("Budget and Scope Committee"), 6/27/37; siehe auch WAC, Schachtel 366 (a)

Zwischen Mai 1935 und Januar 1937 wurden 118 Juden getötet und 1350 verwundet; 137 jüdische Läden wurden zerstört. Während dieser Zeit wurden total 348 einzelne gewaltsame Massenangriffe auf Juden gezählt, und die Aufstellung war als "inoffiziell" und "unvollständig" deklariert. Eine andere Aufstellung zeigte, dass zwischen Ende 1935 und März 1939 350 Juden getötet und 500 verwundet worden waren.

(Endnote 7:
-- New York Times, 2/7/37 [7. Feb 1937];
-- R10-American Jewish Committee, Übersicht über die europäische Situation, 3/30/39 [30. März 1939] (von Moses Moskowitz)

Die Pogromwelle flaute in den Jahren 1937 und 1938 nicht ab. Im August 1937 ereigneten sich in Zentral-Polen sieben schwere Ausbrüche, und in sieben Städten gab es antijüdische Demonstrationen, miteingeschlossen die Hauptstadt.

(Endnote 8: WAC, Schachtel 366 (f)

Ein Resultat dieser Ereignisse war ein verstärkter Drang von Juden von kleinen Plätzen, wo sie sich exponiert fühlten, in grössere Städte, wo sie sich sicherer fühlten.

Aber im Frühjahr 1938 griffen die Ausschreitungen auch auf Warschau über, und von da an wurden Angriffe auf Juden in den grösseren Städten ein normales Ereignis.

[Juden im Streik und in Selbstverteidigungseinheiten gegen die Ausschreitungen - die Polizei unterstützt die Pogrome]

Mehrmals reagierten die Juden mit Demonstrationen und Generalstreiks (März 1936, Mai und Juni 1937). In Warschau und Lodz versuchte der Bund, jüdische Selbstverteidigungseinheiten aufzubauen. Diese wurden durch die PPS auch unterstützt, aber die Intervention der Polizei zugunsten der Pogromisten

(Endnote 9: "Juden haben in Massen viele Dörfer verlassen und gehen in die Städte. Ihr Besitz ist abgebrannt und ihre Leben sind in Gefahr" - JDC Executive Committee (ECO), 9/23/37 [23. September 1937])

neutralisierte die jüdische Opposition.

(Endnote 10: 44-3, Telegramm 3/20/38 [20. März 1938]; ebenda, 8-21

[1938-1939: Polen: Bokottbewegungen im antisemitischen Polen ruiniert die jüdischen Gemeinden]

In den Jahren 1938 und 1939 wurde die antijüdische Boykottbewegung immer effektiver. Nochmals wurden vor allem die kleinen jüdischen Gemeinden getroffen, und in diesem Verhalten kann klar eine Parallele zu den Erfahrungen in Deutschland gezogen werden. Diese Boykottaktionen waren normalerweise von der Endeks organisiert, aber bis 1939 wurden sie auch von der Regierungsgruppe OZN unterstützt.

Im Februar 1939 fand ein OZN- (p.184)

inspirierter Boykott in der Gegend von Lublin statt, der der das jüdische Wirtschaftsleben "praktisch ruinierte".

(Endnote 11: R61, Februar 1939)

Die Anzahl der jüdischen Läden nahm von Stadt zu Stadt ab, währen die Anzahl polnischer Läden zunahm, trotz der immerwährenden Wirtschaftskrise.

(Endnote 12:
-- JDC, 45-publicity, Warszawski Dziennik Narodowy, 4/14/38;
-- R28-Fortnightly Digest, Nr. 14 (5/1/38 [1. Mai 1938], et seq. [und folgende])

[Frühjahr 1939: Polen: Deportationen von Juden von den Grenzstädten weg]

Im Frühjahr 1939 wurden die Juden gezwungen, gewisse Grenzstädte zu verlassen, weil sie als unzuverlässige Elemente betrachtet wurden - denn Juden waren weniger interessiert, gegen die Deutschen Widerstand zu leisten als die Polen. IN diesem Zusammenhang wurde "fast ein Viertel der jüdischen Bevölkerung von Gdynia deportiert". In Kattowitz ging die "Angst um, dass die Hälfte der ansässigen jüdischen Bevölkerung zur Auswanderung in andere Orte gezwungen werden könnte."

(Endnote 13: Siehe Endnote 11 [R61, Februar 1939])

[1939: Antisemitismus auch in West- und Nordwest-Polen]
Ausschreitungen, Pogrome und Boykotte breiteten sich nun auch in Gegenden in West- und Nordwest-Polen aus, wo die Anzahl Juden sehr klein war; Bis zu diesem Zeitpunkt waren diese Gegenden von Exzessen verschont geblieben.

(Endnote 14: 45-publicity, Bulletin, 3/10/30 [10. März 1930]; nun fand in Dobrzyn ein blutiges Pogrom statt, wo "viele Juden verwundet wurden", etc.; zur gleichen Zeit flauten die Pogrome an anderen Orten nicht ab).

[April 1936: Polen: Gesetz gegen das rituelle Schlachten]
Juden, speziell die praktizierenden Juden, die im polnischen Judentum die Mehrheit stellten, wurden durch polnische Gesetze gegen das rituelle Schlachten (shehita), die im April 1936 in Kraft gesetzt wurden, schwer getroffen. Die endgültigen und drastischen Verbote traten dann im März 1939 in Kraft. Die religiöse Freiheit wurde stark eingeschränkt. Zudem wurde eine grosse Anzahl jüdischer Metzger und Überwacher der rituellen Schlachtung mit dem wirtschaftlichen Ruin bedroht.

[März 1939: Nach der deutschen Besetzung von Tschechien ist Polen bedroht - Gesetze gegen Juden im antisemitischen Polen]

Die allgemeine und extreme antijüdische Bewegung, die in beiden Bereichen, in Politik und ökonomisch aktiv war, ging bis in den Frühling 1939 weiter. Erst mit der Hitlerschen Besetzung der Tschechoslowakei im März mit dem Ansteigen der deutsch-polnischen Spannungen zeigte der polnische Antisemitismus Zeichen des Abschwächens, denn die Aufmerksamkeit der polnischen Nationalisten wurde nun nach aussen gelenkt.

Und doch war die lange antijüdische Kampagne auch dann keineswegs vorbei; im Gegenteil gab es die klare Absicht der Mittelklasse-Parteien, einen offenen Antisemitismus rechtlich abzusichern. Es wurden Gesetze analog der Nazi-Gesetzgebung vorbereitet, miteingeschlossen "die Neubewertung der Staatsbürgerschaft und die Beseitigung der Juden aus dem polnischen Wirtschaftsleben und kulturellen Leben."

(Endnote 15: 44-4, Memo, 5/1/39 [1. Mai 1939])







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