[A.
Die
Zerstörung der jüdischen Existenz in Polen 1929-1939]
[5.4. Die Juden in Polen 1921-1938: Zahlen]
[Die jüdische Bevölkerung
in Polen und die Berufe]
Die Anzahl Juden in Polen betrug 1921 2.845.364;
(Endnote 20: 44-29, Memo 1/30/39 [30. Januar 1939])
bis Ende 1938 waren es annähernd 3.310.000. Die jährliche
Wachstumsrate war ungefähr 30.000.
(Endnote 21: R50, "Situation of the Jews in Eastern
Europe" ["Die Lage der Juden in Osteuropa"], Memo des
JDC-Büros in Paris, Juni 1938. Die Zahl 3.310.000
erscheint im "General Survey of Political and Economic
Conditions in Poland in 1938" ["Genereller Überblick der
politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Polen
1938" (12/3/38 [3. Dezember 1938]), in 36-Bericht 1938).
Die polnische Volkszählung von 1931 gab die Anzahl der
erwerbstätigen Juden mit 1.123.025 an.
[Es muss dabei eine inoffizielle Auswanderung
berücksichtigt werden, die pro Jahr ungefähr 100.000 Juden
aus Polen in Überseeländer ausmachte;
In: Hermann Graml: Die Auswanderung der Juden aus
Deutschland zwischen 1933 und 1939; Gutachten des
Instituts für Zeitgeschichte; im Selbstverlag des
Instituts für Zeitgeschichte. München 1958, S.79-84;
Tel.: 0049-(0)89-12688-0].
(Endnote 22: Mahler, op. cit. [Jews in Poland between the
Two World Wars (Hebrew); Tel Aviv 1968], S. 46 ff. Nur 37
% der Juden waren wirtschaftlich aktiv, verglichen zu 42,5
% bei den Nichtjuden (ausgenommen Landwirtschaft). Dies
bedeutete, dass bei gleichem Einkommen es den Juden
schlechter ging, weil sie mehrere Münder zu stopfen
hatten. Anders gesehen war dies eine Form der versteckten
Arbeitslosigkeit).
277.555 wurden als Arbeiter eingestuft, ungefähr 200.000
waren Handwerker,
(Endnote 23: Die totale Anzahl in der Industrie und im
Handwerk waren 506.990. Ohne die Arbeiter waren es
229.435. Dies beinhaltete 22.367 Heimarbeiter. Die
Gesamtzahl der jüdischen Angestellten betrug 75.362. Diese
Zahl beinhaltete die Industriellen. Bei Berücksichtigung
aller Faktoren kann die Anzahl jüdischer Bauern nicht
niedriger als vielleicht 200.000 gewesen sein).
und 428.965 waren Händler. Im Jahr 1931 betrug die Anzahl
der registrierten, arbeitslosen Arbeiter 78.256, oder 28,2
% der Gesamtzahl.
[1935: Kahn berichtet:
1/3 der Juden sind Arbeitslos und im Elend]
Im Jahr 1935 berichtete Kahn, dass nicht weniger als 60 %
der Arbeiter und Angestellten arbeitslos waren; von denen
waren nur Arbeiter zur Arbeitslosenversicherung
zugelassen, die in Unternehmen beschäftigt waren, die über
20 Leute beschäftigten. Die Arbeitenden erhielten einen
Wochenlohn von durchschnittlich 30-40 Zloty (6-8 $). Von
den Bauern war schätzungsweise ein Drittel "in Sorge".
Im Jahr 1931 betrug die Anzahl Händler und deren Familien
1.140.532. Im Jahr 1935 schätzte Kahn, dass es 1.150.000
waren, und dass 400.000 in "tiefer Armut" lebten. Von den
120.000, die er als "Intellektuelle" mit deren Familien
einstufte, hatten 60.000 kein stabiles Einkommen. Kahn
schätzte die Gesamtzahl Juden, die ohne jegliches
Einkommen waren, arbeitslos oder in Sorge auf über 1
Million, ein Drittel des polnischen Judentums.
(Endnote 24: WAC, Schachtel 323 (c), Kahns Bericht über
Polen, 5/22/35 [22. Mai 1935])
Eine Anzahl anderer Autoritäten schenkten dieser
Einschätzung Glauben.
(Endnote 25: Rabbi Schorr von Warschau im
Jewish Chronicle,
1/18/35 [8. Januar 1935], S.20: "Nicht weniger als ein
Drittel der gesamten jüdischen Bevölkerung Polens war
heute in irgendeiner Form von Fürsorge abhängig.")
[1937: Jewish Chronicle
berichtet: Die Juden in Polen in Armut und Elend]
Zwei Jahre später konnte der
Jewish Chronicle die Juden in Polen
beschreiben, "eine hilflose Minderheit, die in eine
verwahrloste Armut und Elend abgesunken war. So etwas gibt
es sicher nirgendwo auf der Erde. Heute wird es allgemein
anerkannt, dass ein Drittel der jüdischen Bevölkerung am
Rande einer Hungersnot steht, einen Drittel gelingt es
(S.187)
eine blosse Existenz zu halten, und der Rest sind
Glückliche und können sich ein Minimum an Komfort
sichern."
(Endnote 26:
Jewish
Chronicle, 1/8/37 [8. Januar 1937])
[Armutsindikator:
Fürsorgetag an Pessah]
Ein guter Indikator für die wirtschaftlichen Bedingungen
der Juden war die Anzahl Leute, die an Pessah um Fürsorge
baten. Im Jahr 1933 baten von 350.000 Juden in Warschau
deren 100.000 um eine solche Hilfe,
(Endnote 27: JDC Bibliothek-American Federation of Polish
Jews, 25. Jahreskonvention, Juni 11-12, 1933)
oder weniger als ein Drittel. Im Jahr 1935 waren es 60 %
der Warschauer Juden, die Hilfe beantragten.
(Endnote 28: Abraham G. Duker: Die Situation der Juden in
Polen;
Newsletter
der Konferenz über Jüdische Beziehungen ("Conference on
Jewish Relations"), April 1936)
Im Frühling 1939 schätzte ein JDC-Memorandum die Anzahl
der Juden, die voll von Fürsorge abhängig waren, auf
600.000, oder fast 20 % des polnischen Judentums, währen
eine andere Schätzung 38 % schätzte (1.250.000).
(Endnote 29: 44-4, Memorandum re Polen ("memorandum re
Poland"), 5/1/39 [1. Mai 1939])
[1934: Neville Laski über
jüdische Armut im antisemitischen Polen]
Im August 1934 berichtete Neville Laski, Präsident des
britischen Gremiums der (jüdischen) Vertreter ("British
Board of (Jewish) Deputies"), aus Polen, dass er "nie eine
solche Armut, Elend und Schmutz gesehen habe. Man konnte
über die Zivilisation in Verzweiflung geraten." Noch
wichtiger aber war, dass er einen Abwärtstrend feststellte
und voraussagte, dass "sogar dieses Jahr rückblickend noch
ein glückliches Jahr sein wird".
(Endnote 30: 44-6)
[1937: Kahn: Die Nazis
sind redlicher zu den Juden als die polnisch-katholische
Bevölkerung]
Diese Voraussage kam vollständig von Alexander Kahn,
Vorsitzender des Polnischen Komitees des JDC, der im Jahr
1937 berichtete, dass "in Polen der Jude sich im Zentrum
von ruhelosen Feinden befindet, und es werden ihm Hände
und Füsse gebunden, und ohne jede Chance". Er beschrieb,
wie die "Banden wilder Jugendlicher, mit wilden Augen und
blutrünstig, jeden menschlichen Instinkt hinter sich
lassend, sich auf den Strassen und in den öffentlichen
Parks von Warschau über alte Männer, Frauen und junge
Kinder hermachten". Die Nazis, so dachte Kahn, waren
"redlicher"; die Juden in Polen wurden mit "Vernichtung
oder Vertreibung" konfrontiert.
[Ergänzung: Es erscheint komisch, dass die polnische
Wirtschaft ab 1933 nicht vom Wirtschaftswachstum in
Deutschland profitieren kann. Wenn die deutsche Wirtschaft
so schlecht wie die polnische Wirtschaft gewesen wäre,
dann wäre die Nazi-Regierung in Berlin nicht besser
gewesen als die polnische Regierung].
Die polnische Konkurrenz war ziemlich wirkungsvoll, und
dies mit Hilfe der Regierung.
Tabelle
11: Jüdische gegen nichtjüdische
Unternehmungen in Kalisz
|
Typ der
Unternehmung
|
1934
|
1936
|
Wachstum oder Rückgang
|
Jüdische
Geschäfte
|
1292
|
1163
|
xxxxxxxxxxx-129xxxxxxxxxxxxxxxx
|
Nichtjüdische
Geschäfte
|
789 |
907 |
+118xxxxxxxxxxxxxxxx |
Jüdische
Handwerker
|
328 |
311 |
-17xxxxxxxxxxxxxxxx |
Nichtjüdische
Handwerker
|
497 |
536 |
+39xxxxxxxxxxxxxxxx |
(Endnote 31: R14, November 1936, Bericht
von Schweitzer)
|
(S.188)
Einige detaillierte Forschungen bestätigten dies. Die
Tabelle 11 veranschaulicht die Lage in der Stadt Kalisz.
[Frühjahr 1939: Memo des
JDC: Ungefähr 30.000 jüdische Läden wurden nichtjüdisch]
Im Frühjahr 1939 schätzte ein JDC-Memorandum, dass
zwischen 1933 und 1938 ungefähr 30.000 nichtjüdische Läden
eröffnet hatten und ungefähr dieselbe Zahl jüdische Läden
geschlossen worden waren.
(Endnote 32: siehe Endnote 29 [44-4, Memorandum re Polen
("memorandum re Poland", 5/1/39 [1. Mai 1939])
[Okt 1936: Sholem Asch
beklagt jüdische, wandelnde Skelette im antisemitischen
Polen]
Der Niedergang des jüdischen Wirtschaftslebens führte zu
ernsten sozialen und medizinischen Konsequenzen. Sholem
Asch, der berühmte jüdische Schriftsteller, beklagte, dass
"die Leute den Eindruck machten, als würden sie lebendig
begraben. Jede zweite Person war unterernährt, ein Skelett
nur noch mit Haut und Knochen, verkrüppelt, Kandidaten für
das Grab."
(Endnote 33: "The Mourner at the Marriage Fete" ["Klagende
an der Hochzeitsfeier"], Oktober 1936; In: WAC, Schachtel
366 (c)
Es muss daran erinnert werden, dass dies drei Jahre vor
dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde.
[Okt 1937: Schlimme Armut
unter den jüdischen Kindern im antisemitischen Polen]
Die schlimmsten Auswirkungen dieser generellen Situation
waren unter den jüdischen Kindern offensichtlich. Eine
detaillierte Untersuchung in der Stadt Ostrog zeigte, dass
von ausgesuchten 386 Kindern in vier von 15 "jüdischen"
Strassen 262 im Schulalter waren, aber nur 109 eine Schule
besuchten. Von den 153 anderen waren 12 krank, 3 waren
behindert, 6 hatten keine Dokumente für eine
Registrierung, 9 hatten sich nicht rechtzeitig
eingeschrieben, 6 wurden nicht gezählt, und 117 konnten
nicht in die Schule gehen, weil sie keine Kleider oder
Schuhe hatten. Von den insgesamt 386 Kindern waren nur 67
gesund; 196 waren schwach oder anämisch, 61 waren
verkommen. 71 % der Kinder waren in verschiedenen Stadien
der Unterernährung bis und miteingeschlossen Hungersnot.
(Endnote 34: 45-CENTOS, Bericht, Oktober 1937)
Dies war die Situation drei Jahre
vor der Etablierung
der Ghettos in Polen. Ähnliche Beschreibungen könnte man
auch über andere Gebiete zitieren. Das Verteilungskomitee
schätzte, dass ungefähr ein Drittel der jüdischen
Schulkinder mit Hunger zur Schule gingen.
[Antisemitisches Polen:
Steuereintreibung bei Juden durch Raub der
Grundausrüstung]
Ganz jenseits der offiziellen Politik wurde die
Handlungsweise der Regierung immer skrupelloser. Die
polnischen Steuereintreiber interpretierten das Gesetz in
der brutalsten Art und Weise. Dem JDC wurden Berichte von
Bäckern gemeldet, denen der letzte Rest Getreide genommen
wurde, weil sie Steuern nicht bezahlen konnten; Hausierern
wurden die Pferde weggenommen, und so wurden sie ins
totale Elend getrieben; den Schneidern wurden die
Nähmaschinen weggenommen, und sogar bei den Kunden wurde
Stoff beschlagnahmt, der zu Kleidern genäht werden sollte.
(S.189)
(Endnote 35: R16, 11/23/1935 [23. November 1935], "Notes
and Source Material for Committee on Poland and Eastern
Europe" ["Betrachtungen und Quellenmaterial für das
Komitee über Polen und Osteuropa"])