[A.] Österreich
[6.2. Anschluss am 12. März 1938: Antisemitische
Ausschreitungen - Palästinaamt und Zentralstelle]
[1938: Anschluss und Antisemitismus unter der deutschen
NS-Administration]
Die österreichisch-deutsche Einheit wurde zementiert
-- durch Kardinal Innitzers Anweisung an alle Katholiken
in diesem katholischen Land, bei der von den Nazis
arrangierten Volksabstimmung für den Anschluss zu stimmen,
um die Inbesitznahme des Landes zu legalisieren
-- durch das Nazi-Versprechen an die Ex-Sozialisten, dass
sie die Positionen der Juden übernehmen könnten
-- und des Weiteren durch das Nazi-Versprechen, die
Arbeitslosigkeit zu beenden.
Von Anbeginn weg war die nazistische antijüdische Politik
sehr viel radikaler als in Deutschland
[wegen der Frustration seit dem Börsenkrach von 1973 und
dem Gefühl, Deutsch zu sein, aber nicht zu Deutschland zu
gehören, und es sollte in wenigen Monaten der Zustand
erreicht werden, der in Deutschland 5 Jahre gebraucht
hatte].
Innerhalb einiger (S.224)
weniger Monate entwickelte sich in Österreich ein Prozess
der Demütigung gegen Juden, Diskriminierung, und
Enteignung, was in Deutschland 5 Jahre Entwicklungszeit
gebraucht hatte
[durch die neue NS-Verwaltung, die aus Deutschland
importiert und den Österreichern aufgezwungen worden war].
[1938: NS-Raub an
jüdischem Eigentum]
Aber die österreichischen Nazis gingen auf vielen Gebieten
weit über das hinaus, was den deutschen Juden in
Deutschland angetan worden war. Sofort nach dem Anschluss
fanden durch die Bevölkerung "spontane" antisemitische
Ausschreitungen statt, die von Nazi-Sturmtruppen
begünstigt wurden, und die Juden wurden aus ihren
Wohnungen getrieben.
Die Enteignungen von 26.236 Besitzern von Häusern und
Wohnungen in Österreich starteten im Mai und Juni 1938.
Bis November war, 20 bis 30 % des jüdischen Kapitals im
Wert von ungefähr 100 Millionen Deutschen Mark in
Nazi-Hände übergegangen.
[Auch die schweizer Banken als "neutrale" Banken machten
bei den Arisierungen mit und schützten die jüdischen
Konten nicht, und auch französische und "amerikanische"
Banken schützten die jüdischen Konten nicht].
[Inkompetente Nazi-Bosse
wirtschaften die Unternehmen zugrunde]
Altgediente Nazis wurden nun die neuen, von den Nazis
nominierten, Manager der jüdischen Läden; die meisten von
ihnen waren ungebildete Leute, und viele von ihnen waren
Mitglieder der österreichischen Unterwelt. Sie hatten
keine Ahnung von Geschäftsmethoden und wirtschafteten die
Unternehmen schnell in den Ruin.
[18. März 1938:
Einrichtung der Gestapo in Wien - IKG aufgelöst]
Am 18. März [1938] eröffnete die Gestapo einen Zweig in
Wien (Staatspolizeistelle). An diesem Tag wurde die
Israelitische Kultusgemeinde IKG offiziell geschlossen und
ihre Führer verhaftet. Über die Juden wurde eine Strafe
von 300.000 Schilling verhängt (40.000 $) - diese Summe
entsprach der Summe, die der Schuschnigg-Regierung
gespendet worden war, um ihn vor dem Anschluss gegen
Deutschland zu unterstützen.
[März 1938: Eichmann und
das Palästinaamt unter Rothenberg in Wien eingerichtet]
Im März betrat auch Adolf Eichmann die Bühne; er
unterstand dem Führer des SD (SS Sicherheitsdienst) des
Donau-Gebietes in Sachen Juden. Er benannte den Chef des
Palästinaamts (der Wiener Zweig des Auswanderungsamts der
Jewish Agency), Dr. Alois Rothenberg, für die Abwicklung
der Auswanderungsfragen nach Palästina. Sein Hauptziel war
die Auswanderung der Juden, unter allen und jeden
Umständen, mit der grösstmöglichen Geschwindigkeit.
[10. Feb 1938:
SS-Propaganda für die Auswanderung von österreichischen
Juden]
Die Politik der erzwungenen Auswanderung war von der SS
vor dem Anschluss offen befürwortet worden; dies scheint
dem Denken von Hitler entsprochen zu haben.
Am 10. Februar 1938 publizierte die SS-Zeitung
Das Schwarze Korps
einen Artikel "Wohin mit den Juden?". Die gegenwärtige
Auswanderungsrate, so argumentierte die Nazi-Zeitung, war
nicht hoch genug.
[Juden in Deutschland
protestieren nicht gegen die Vertreibung der Juden in
Österreich - Perspektive Madagaskar]
Die Juden, die in Deutschland blieben, waren nicht
ängstlich, dass ihre Brüder, (S.225)
"die Parasiten",
(Endnote 5: Über die Wichtigkeit des von den Nazis gegen
die Juden angewandten Begriffs "Parasit", siehe: Alexander
Bein: The Jewish Parasite; In: Leo Baeck Yearbook; London
1964, 9:3-40)
ihre Heimat verlassen mussten. Nur eine zwangsweise
Ansiedlung der Juden in einem Land, wo man sie hinleitete,
konnte die Frage lösen - eine Andeutung an den
Madagaskar-Plan war von der polnischen Regierung
publiziert worden.
(Endnote 6: Julius Streicher, der notorische Antisemit,
publizierte in der Januar-Ausgabe (Nr.1) des
Stürmer einen
Hauptartikel mit dem Titel "Madagaskar", in Kombination
mit einer Karikatur mit einem Juden, der von der Welt
getrieben wird, mit der Bildunterschrift "DAS ENDE".
[26. April 1938:
Völkischer Beobachter behauptet, dass bis 1942 alle
Juden Deutschland verlassen müssen]
Nach dem Anschluss schrieb die führende Nazi-Tageszeitung
in Deutschland, Der
Völkische
Beobachter am 26. April 1938, dass bis 1942 alle
Juden aus Deutschland eliminiert sein müssten.
[Österreich ist jetzt auch Deutschland, und Österreicher
sind Deutsche. Es war geplant, dass nach einem
erfolgreichen Russlandfeldzug der ganze Rest der
mitteleuropäischen Juden in Osteuropa angesiedelt werden
sollte. Aber es gab nie einen Sieg gegen Russland.
In: Chiari: Alltag hinter der Front, Droste 1998].
[1937: Innerdeutsche
Deportationen von 100en von Juden nach Allenstein und
Schneidemühl und Folter]
Gemäss einer Quelle wurde im Jahr 1937 ein kleines
Experiment in Sachen erzwungene Auswanderung in Ost- und
Westpreussen unternommen, in den Gebieten Allenstein)
(Olsztyn) und Schneidemühl (Pil). Die Opfer, alles in
allem ein paar 100 Leute, wurden konstant schikaniert und
überwacht, man raubte ihren Besitz, und man trieb sie in
die Verzweiflung. Das Resultat war ein panischer Exodus.
(Endnote 7: 38-Germany, Berichte, 1937-1944, Bericht für
den Oktober 1937)
[3. Mai 1938:
Wiedereröffnung der IKG - 20.000 Anträge für
Auswanderungszertifikate]
Nach der Zeit der zum Teil organisierten Bestialität
erlaubte Eichmann am 3. Mai 1938 die Wiedereröffnung der
IKG. In einer sehr kurzen Zeit beantragten 20.000
Familienoberhäupter eine Auswanderungserlaubnis. Damit
handelte es sich mindestens um 40-50.000 Menschen.
[Die Gestapo steckt 1600
Juden in Konzentrationslager]
Um das Bedürfnis nach Auswanderung zu steigern,
inhaftierte die Gestapo ungefähr 1600 Juden und sandte sie
während der ersten drei Monate der NS-Herrschaft in die
Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Vieler dieser
Verhafteten waren wohlhabende Juden.
(Endnote 8:
-- ebenda [38-Germany, Berichte, 1937-1944, Bericht für
den Oktober 1937)]
-- Nathan Katz Bericht vom 8/25/38 [25.8.1938], wo er
sagt, dass es 1700-1800 solche Opfer waren. Rosenkranz
(op. cit., [The Anschluss; In: Josef Frankel (Hrsg.): The
Jews of Austria], S.488) gibt an, dass die erwähnten Opfer
prominente Juden waren, die auf einer Schwarzen Liste
standen, und sie wurden innerhalb von Tagen verhaftet; sie
wurden am 30. Mai nach Dachau geschickt. Es scheint, dass
Katz sich auf dieselbe Gruppe bezog. Was die Zahl von
20.000 beantragten Auswanderungszertifikaten angeht, so
setzt ein Bericht von Löwenherz vom 8/31/45 [31. August
1945] (Saly Mayer Ordner 16), die Zahl bis 5/20/38 [20.
Mai 1938] auf 40.000 fest;
-- Rosenkranz [Rosenkranz, Herbert: The Anschluss and the
Tragedy of Austrian Jewry, 1938-1945; In: Josef Frankel:
The Jews of Austria; London 1967], S.491)
[26. August 1938:
Einrichtung einer Zentralstelle für jüdische
Auswanderung]
Schlussendlich schlug Löwenherz selbst im August Eichmann
vor, dass eine zentrale Institution eingerichtet werden
sollte, wo die Juden alle nötigen Papier für das Verlassen
des Landes erhalten konnten. Dies war die Geburtsstunde
von Eichmanns berühmter Zentralstelle für jüdische
Auswanderung, das zu einem Muster der deutschen Effizienz
in jüdischen Frage wurde.
Die Zentralstelle wurde am 26. August eröffnet und war
fortan mit den Auswanderungsangelegnheiten beschäftigt.
Die Arbeitsmethode war einfach: Während der Jude die
Prozedur absolvierte, blieb er ohne Besitz und hatte nur
sein Ticket für die Ausreise in den Händen. All sein
Besitz war von der deutschen Gründlichkeit "in Obhut
genommen" worden (ein Teil davon ging anfangs noch an die
IKG, so dass die vielen armen Leute, die keinen Besitz
hatten, auch Österreich verlassen konnten). Die IKG
wiederum wurde für ihre vielen Aktivitäten, hauptsächlich
Fürsorge und Berufsausbildung von dem Geld der Auswanderer
bezahlt). (S.226)
[In Osteuropa gibt es für die jiddischen Juden KEINE
solche Zentralstelle. Die deutschen Juden sollten nach
Palästina emigrieren, die jiddischen aber nicht. Da muss
eine grosse Manipulation all dieser Vorgänge vorhanden
sein].
[Gelähmtes
"amerikanisches" Judentum in New York - das JDC-Geld für
jüdische Suppenküchen in Österreich]
Die unmittelbare Reaktion des Zentralbüros des
Verteilungskomitees JDC in New York auf die
österreichische Katastrophe war Konsternation und Lähmung.
Baerwald schrieb an Jonah B. Wise eine Tage nach dem
Anschluss, dass an einer Sitzung mit den Führern des
American Jewish Committee "jeder widerwillig zugeben
musste, dass man bezüglich der Situation in Österreich
nichts unternehmen konnte."
(Endnote 9: 8-21, Baerwald an Wise, 3/16/38 [16. März
1938])
Kahn andererseits zögerte nicht, Aktionen ins Auge zu
fassen. Rosen ging freiwillig nach Wien, und als er am 23.
März nach Paris zurückkam, berichtete er, er habe über
einige freundliche Vertreter der amerikanischen Botschaft
einige 1000 Dollars für Suppenküchen ausgegeben. Natürlich
wurde viel mehr benötigt. Da zuerst keine offiziell aktive
Israelitische Kultusgemeinde (IKG) vorhanden war, bat er
die amerikanische Regierung um eine Intervention. Baerwald
war nicht sicher; er dachte, dass es "der beste Weg für
uns wäre, sich zu beruhigen und auf die neuen
Entwicklungen zu warten, die von Washington kommen
werden."
(Endnote 10: Ibid. [8-21], Baerwald Briefe, 4/6/38 [6.
April 1938] und 4/19/38 [19. April 1938])
Aber da kam nicht viel Materielles aus diesem Quartier.
In der Zwischenzeit waren die Juden am Hungern und
verzweifelt.
[Die Juden im Burgenland
werden aus ihren Häusern getrieben]
Was die öffentliche Meinung aufbrachte, die nichtjüdische
wie die jüdische, war die Not der Juden von sechs kleinen
Städten in der österreichischen Provinz Burgenland, die
aus ihren Häusern gewaltsam vertrieben wurden; einige von
ihnen fanden vorübergehend auf einem Schiff auf der Donau
Unterschlupf [eventuell mit Auswanderung nach Istanbul und
Palästina]. Keines der Nachbarländer wollte diese
Unglücklichen aufnehmen; es wurden Massnahmen gegen sie
ergriffen "wie gegen die Pest".
(Endnote 11:
-- Executive Committee, Ordner, Büdget- und
Bereichsleiterkomitee ("Budget and Scope Committee"),
8/18/38 [18. August 1938];
-- Morse, op. cit. [Morse, Arthur D.: While Six Million
Died; New York 1968], S.205)
[Besuche von
JDC-Vertretern in Wien]
Währenddessen hoffte das JDC-Büro in New York, dass ein
nichtreligiöses Komitee gegründet werden könnte, um die
Situation in den Griff zu kriegen.
(Endnote 12: 8-21, Baerwald an Wise, 3/16/38 [16.
März 1938])
Als aber nichts geschah, wurde die Entscheidung getroffen,
mit so viel Geld wie nur möglich in das Land zu gehen.
Neben dieser prinzipiellen Entscheidung versuchte das JDC
sehr hartnäckig, einen amerikanischen Juden mit
Aussagekraft zu finden, der das JDC in Wien repräsentieren
konnte. Weiter hatte es keine Absicht, Dollars nach
Österreich zu schicken, wenn dies nicht unbedingt nötig
war.
Während der ersten Monate nach dem Anschluss wurde eine
Anzahl prominenter Persönlichkeiten nach Wien entsandt:
Joseph A. Rosen, Alexander A. Landesco, Alfred Jaretzki,
Jr., David J. Schweitzer vom Pariser (S.227)
Büro und weitere. Durch sie konnte das JDC direkten
Kontakt zur Situation behalten, und war auch fähig,
Nazi-Agenten zu kontaktieren und Einfluss auf ihre
Aktionen zu nehmen. Das bisschen Hilfe, das diese
amerikanischen Juden mitbringen und verteilen konnten, im
Grossen und Ganzen durch die Freundlichkeit von Leland
Morris, den US-Generalkonsul, war ziemlich unangemessen.
(Endnote 13: R11, C.M. Levy, Bericht über eine Reise nach
Wien, 12/1/38-12/8/38 [1. Dezember 1938-8. Dezember 1938])
[11. Juni 1938: Der Rat
für das deutsche Judentum fordert ordentliche
Auswanderungsprozeduren in Österreich]
Am 11. Juni intervenierte der Rat für das deutsche
Judentum in London (der theoretisch auch den JDC
repräsentierte) bei der deutschen Botschaft in Britannien
und forderte die Einführung ordentlicher
Auswanderungsprozeduren.
(Endnote 14:
[Juni 1938: JDC-Geld für
österreichische Juden]
Die Israelitische Kultusgemeinde IKG eröffnete wieder am
3. Mai. Sie war händeringend damit beschäftigt, mit der
katastrophalen Situation fertigzuwerden. Zu dieser Zeit
war dem JDC klar, welche Verpflichtung sie hatte, um Kahns
Politik der maximalen Hilfe zu unterstützen. Im Juni
bewilligte das JDC für Österreich eine Summe von 250.000
$. Bis Ende Jahr wurde eine Summe von 431.438 $
ausgegeben, und dies waren 10 % der totalen JDC-Ausgaben
dieses Jahres.
(Endnote 15: Die totalen Ausgaben des JDC für 1938 kamen
auf 4.112.979 $).