2b. Brazzaville:
Lebensbedingungen, "christlicher" Alkohol und Chinesen
etc.
2.10. Die Rückwärtsentwicklung
2.10.1. Brazzaville
2.10.1.1. Rassistisches "christliches"
Frankreich lässt Brazzaville leiden: keine Kanalisation
- Beleuchtung kommt - keine Medizin oder Ärzte
[Französisch-Kongo und Brazzaville in den 1920er
Jahren: 15 mal 2 km Fläche - System von WC-Eimern ohne
Kanalisation - Beleuchtung kommt - Elektrizität nur für
die Reichen]
Ohne Kanalisation ist das WC ein Eimer aus Holz [35]
- Ohne Strassenbeleuchtung muss man mit Öllampen
spazieren gehen [36]
Es ist wirklich eine grossartige Stadt, die Hauptstadt der
französischen Ostafrika-Kolonie A.E.F., sicherlich nicht
wegen der Bevölkerungszahl, die kaum tausend Einwohner
übersteigt, von denen die Funktionäre mehr als die Hälfte
ausmachen, sondern wegen seiner Ausdehnung:
fünfzehn
Kilometer lang und fast zwei Kilometer breit.
Der Generalgouverneur wollte das so.
-- Sie soll mal 200.000 Seelen stark sein. Und dann wird
man bis an den Horizont über den Busch verstreut Häuser
sehen.
Um vom Bahnhof zum Palast des Generalgouverneurs zu
gelangen, sind es fünf Kilometer Weg. Dazwischen ist
nichts oder fast nichts: eine lange, schlammige Allee mit
dem Postamt, dem Gefängnis und der städtischen
Jauchegrube.
-- Diese Jauchegrube, sagte der Generalpostmeister, ist
eine Erfindung unseres Generalgouverneurs. Wie Sie wissen,
ist Brazzaville nur ein grosses, primitives Dorf. Es fehlt
an Wasser, es gibt keinen Strom und es gibt keine
Kanalisation. Wir haben nicht einmal - ich habe mich immer
gefragt warum - Klärgruben installiert, wie in Frankreich
in kleinen Provinzstädten. Kurz gesagt, wir befinden uns
immer noch im Regime der
WC-Kübel. Jede
Nacht nehmen haben die Insassen des Gefängnisses die
Aufgabe, die durch ihr Verhalten ein bevorzugtes Regime
verdient haben, mit Fässern unterwegs zu sein und drehen
zu zweit ihre Runden durch die Toiletten der Stadt. Wenn
man sagen würde, dass sie die gesamte ihnen anvertraute
Ladung an ihren Bestimmungsort tragen, wäre das
übertrieben, da die meisten Fässer einen mehr oder weniger
löchrigen Boden haben. Jeden Morgen kann die europäische
Bevölkerung auf dem Weg zur Arbeit dies problemlos sehen.
Es mochte elf Uhr abends gewesen sein. In Begleitung eines
Freundes ging ich durch die Stadt, in Richtung des Dorfes
"Potopoto", eine der indigenen Siedlungen der Hauptstadt
der A. E.F.
Wir hatten das Plateau verlassen, waren vor dem Palast des
Generalgouverneurs vorbeigekommen, alle funkelnden
elektrischen Kugeln, und überquerten die hell erleuchtete
Strasse in der Nähe des Hotels dieses hohen Beamten. Bald
darauf war es Nacht, die Nacht wurde noch dichter durch
den Glanz der Lichter, mit denen wir eben geblendet worden
waren.
Unsere Augen gewöhnten sich schliesslich an die
Dunkelheit, und wir konnten etwa fünfhundert Meter von uns
entfernt einen schwachen Lichtpunkt sehen, der in der Luft
schwankte.
-- Was ist das für ein Mondquartier? fragte mein Freund.
Ich sah ihn fassungslos an.
-- Was zum Teufel geht dich das an? antwortete ich. Wir
waren kaum am Beginn des ersten Viertels. Warum?
-- In fünf Tagen
wird die Lampe erloschen sein,
sagte er. [Seite 216]
Und als ich ihn immer verwirrter ansah, ohne ihn zu
verstehen, erklärte er mir folgendes:
-- Diese Orkanlampen, die mit Benzin betrieben werden,
bilden alle fünfhundert Meter die städtische Beleuchtung.
Da es keine kleinen Ersparnisse gibt, werden sie an
Mondtagen gelöscht. Deshalb habe ich Sie gefragt, in
welchem Viertel wir uns befinden.
-- Aber immerhin Elektrizität ...
-- Die
Elektrizität, mein Lieber, ist wie
Trinkwasser, das ins Haus getragen wird. Es ist für hohe
Beamte reserviert, bei der Post, bei der Eisenbahn, bis
zehn Uhr abends. Benzin ist teuer...
[Französisch-Kongo und Brazzaville in den 1920er
Jahren: keine medizinische Versorgung für Schwarze -
endlose Krankheiten: Lepra, Syphilis, Frambösie - auch
im Urwald - Schwarze bleiben ohne alles]
Lepra: Finger fehlen [37] - Syphilis: Nase fehlt
[38] - Frambösie: knollenartiger Hautausschlag [39]
Wir waren im Dorf. Lampen - diese waren nicht kommunal -
beleuchteten hell den Boden. Mädchen scharten sich um uns,
unbescheiden, mit kühnen Gesten die Intimität unserer
Kleidung verletzend.
Wir befreiten uns mit grossen Schlägen unserer Fäuste. Ein
wenig ausser Atem murmelte mein Freund:
-- Nun, das ist wahr! Das ist das schwarze Dorf
Brazzaville!
[Die jungen Frauen müssen u.a. Geld verdienen, damit ihre
Väter die Steuern bezahlen können - deswegen die
hoffnungslose Aggressivität].
Das Licht spielt mit der Nacht, die erstickende Dunkelheit
in den Ecken bleibt. Bitten, Appelle zur Nächstenliebe,
sowohl bewegend als auch schockierend, treffen uns ins
Gesicht. Wir unterscheiden manchmal Männer, Frauen und
Kinder, die ihre von
Lepra verstümmelten
Gliedmassen ausstrecken, und ihre Gesichter, die von
Syphilis
und eiternden Pusteln der
Frambösie
[Eruptionen wie Himbeeren] zerfressen sind.
DAS ist die französische Kolonie Ostafrika A.E.F., die in
ganz Afrika [S.217] das
Schauspiel der grausamsten
Krankheiten bietet. Ich habe in der
Vergangenheit in Marokko sehr schöne Krankheiten mit
Fäulnis gesehen - die die französische Regierung schnell
beseitigt hat -, aber sie haben nie den Schrecken
erreicht, den sie im Kongo hatten. Und in Brazzaville, der
Hauptstadt der Kolonie, sieht man kaum weniger als im
Urwald.
[siehe auch die Arbeit des Chirurgen Albert Schweitzer mit
seinen Operatioinen in Gabun -
Link]
Oft betteln die Armen, bedeckt mit Lumpen (denn in den
Städten sind sogar Bettler gekleidet), bei den Weissen,
die vorbeikommen.
Die fiebrigen Hände, die mit blutigen Geschwüren übersät
sind, die Augen ohne Blick unter den roten Augenlidern,
das grosse Loch in der Mitte des Gesichts, das die
Krankheit ihnen gegraben hat, erzwingen die
Aufmerksamkeit, wenn sie aus ihrer Ecke kommen und in
einen Lichtstrahl eintreten.
Hier und da übersäen formlose Haufen den Bach:
Trunkenbolde! Zuweilen erheben diese eingeborenen Hunde
mit hervorstehenden schlanken Rippen ihre Pfoten. Sie
haben ein aussätziges Fell, und die Hände sind mit Schmutz
bedeckt.
Der Schläfer bewegt sich nicht. Der Hund, der über das
Grinsen seiner gekräuselten Lippen lacht, tut es wieder.
Der Mann dreht sich einfach um.
***
2.10.1.2. Brazzaville ist mit
"christlichem" Alkohol verloren
[Französisch-Kongo und Brazzaville in den 1920er
Jahren: Französische Polizei, Alkohol, betrunkene,
Kinder, Bettler, holprige Strasse, Schlägerei, Säufer,
Orchestermusik gegen Tam-Tam - die Ruhebänke]
Bier im Kongo "Ngok" [40] - Whiskyfass [41]: Die
kriminell-"christlichen" Kolonialstaaten
verbreiteten ihren Alkohol auf der ganzen Welt, um
die Ureinwohner kaputtzumachen - Link
Im Dorf [Brazzaville]
schaut die Polizei zu!
Zu zweit, in der roten Chechia (traditionelles
muslimisches rotes Kleid [web01]), Bajonette an den
Seiten, die Beine in Wadenriemen gewickelt, aber barfuss,
gehen sie auf der Strasse und schnüffeln herum. Ruhig
bleiben, sie sehen nichts, hören nichts. [S.218]
Um sie herum aber kämpfen
betrunkene Mädchen
untereinander,
Kinder zwitschern,
Bettler
singen ihr ewiges Flehen.
Von Zeit zu Zeit durchbricht ein Auto die Nacht mit seinen
blendenden Scheinwerfern, springt über
Bodenwellen,
fällt in Löcher und springt mit fünfzig Meilen pro Stunde.
In der Hand geschwungen, nähern sich Fackeln, die mehr
Rauch als Feuer geben. Wir bilden einen Kreis. Männer
kämpfen mit Dolchen, schweigend, mit
zusammengebissenen Zähnen, geballten Fäusten. Die grossen
Küchenmesser glänzen.
Die Polizei setzt ihren Weg fort. Beim ersten Umweg
verschwinden sie.
Die Stunden vergehen, die
Säufergruppe
("bacchanale") wächst. In meiner Nähe versucht ein
Orchester,
eine synkopische Marseillaise zu schlagen; weiter wirbeln
die Trommeln, taub; Signalhörner ertönten. Aber das Summen
des
Tam-Tam übertönt alles, ebenso wie
verzweifelte Schreie.
Tam-Tam [24]
Eine niedrige Tür saugt uns ein. Um einen Raum von sechs
Metern auf jeder Seite, mit getrockneten Lehmwänden,
erstrecken sich zähflüssige und braune Bänke. In der Mitte
zeigt eine grosse Matte ihr Seil und erlaubt durch grosse
Löcher einen Blick auf die schwarze und feine Erde. Hier
leben die "Chiques" [?]. So sehen wir ständig, wie die
Schwarzen mit dem Messer in der Hand unter ihren
Zehennägeln nach diesen unerwünschten Tieren suchen. [?]
2.10.1.3. Brazzaville mit chinesischen
Arbeitern und Prostitution
[Französisch-Kongo und Brazzaville in den 1920er
Jahren: Die Chinesen - Arbeiter Chinas sind Opfer von
schwarzen Prostituierten - schwarzer Tanz -
Musik+Alkohol=Prostitution]
Chinesen in China feiern Neujahr [42]
Zusammengesunken oder gestikulierend, hier befinden sich
Männer verschiedener Pigmentierungen: blasse
Chinesen
mit langen, schrägen Augen, es sind lebhafte und funkelnde
Augen, schwarz von schönster Hautfarbe, helle Mulatten,
dunkel, fast weiss, bedecken die Bänke. [S.219]
Sie rufen etwas. Sie sind inmitten der kompakten
Atmosphäre, die durch den Rauch von Zigaretten entsteht,
zusammen mit dem dichteren Rauch von Lampen, deren Dochte
knistern, kaum zu sehen.
In einer dunklen Ecke sind zwei schwarze Prostituierte,
schweigend, beschäftigt, die einen gelben Mann mit
kräftiger Statur flankieren.
1932 protestierte die gesamte lokale Presse gegen die
Praktiken der Übergriffe, denen die aus
China
unter grossen Kosten herbeigeschafften Arbeiter ständig
zum Opfer fallen.
Die Chinesen kommen eines schönen Tages im
Schwarzen Land an. Sie haben keine Frauen bei sich, sie
kennen die Sprache des Landes nicht. Sie sind ausserdem
sehr gut bezahlt, was alles Grund dafür ist, dass sie dank
der Komplizenschaft der örtlichen einheimischen Polizei
ständig ausgeraubt werden.
Jedes Wochenende, wenn sie ihren Lohn erhalten haben und
sich entscheiden, in die schwarzen Dörfer rund um
Brazzaville zu gehen, gibt es nur einen Ruf, der im
Lauffeuer durch die Strassen läuft: "Die Kinois".
Alle machen sich bereit: die heimlichen Dealer, deren
gepanschter Schnaps betäubt, die Frauen mit erfahrenen
Händen, die nach einem Liebesschein die Taschen
durchsuchen, die Kinder, die eine Mütze, eine Hose, einen
Lendenschurz zerkratzen. Es ist organisiert, fast
reguliert, die grösste Rekrutierung, die wir je erlebt
haben.
Wenn einer der
Chinesen, der weniger
betrunken ist als die anderen, es sich in den Kopf setzt,
zu protestieren, wenn er nach einem Gespräch von wenigen
Minuten in einem entfernten Winkel mit einer Hetaira
[Prostituierten] die Hände seines Gefährten fühlt, die
vorsichtig seine Hosen erforschen, wird er von einem
Schwarm Spitzmäuse [energische Frauen] getroffen, die von
Unbekannt weiss woher dahergerannt kamen. Ausserdem
tauchen schwarze Polizisten auf, als wären sie auf
mysteriöse Weise gewarnt worden.
Stotternd, ohne etwas zu verstehen, geht der arme "Gelbe"
unter Peitschenschlägen zur nächsten Polizeistation. Er
wird darüber nachdenken, aber ein wenig spät, über die
Gefahr, die zu schnelle Verbindungen darstellen können,
und am nächsten Tag wird er nur zu gerne jeden Gedanken an
Protest aufgeben, um sicher zu sein, dass eine Freiheit,
die ihm gewährt wird, als eine privilegierte Gunst
angesehen wird.
Uns wird Platz gemacht! Stühle werden vorgeschoben. Auf
einem Tisch in einer Ecke werden uns verschiedene
Alkoholika gebracht, die in schmutzigen, klebrigen Gläsern
getrunken werden.
Wir weigern uns, eine Geste zu machen. Wir sind gekommen,
um zuzuschauen.
In unserer Nähe, unter den flinken Fingern des Performers,
rumpelt wild ein winziges Tamtam. In der Mitte
tanzt
eine Schwarze, ihre langen, schlaffen Brüste
zucken bei jeder Bewegung.
Brazzaville: Tanz mit 2 Tam-Tams [43]
Sie ist eine alte Frau! Dies ist die Tradition, die von
allen Tänzern verlangt, tausend Schritte einer akribisch
geregelten Choreografie zu kennen.
Sie wackelt unaufhörlich, wiegt die Hüften, die Ellbogen
nach hinten geworfen, die Haare hoch, das Kinn erhoben.
Es sieht so aus, als würde sie auf der Stelle laufen.
Plötzlich, zum eher trägen Rhythmus des Tam-Tam,
unterbricht sie ihren frenetischen Lauf. Ihre Augen
[S.221] nehmen einen liebkosenden Glanz an. Ihr Bauch
schwillt an, rollt und schwillt ununterbrochen an, der
markante Nabel scheint inmitten dieses hysterischen
Wirbels regungslos zu sein. Die Bewegung beschleunigt sich
immer mehr, bis die Frau mit Schaum auf den Lippen vor
einem Zuschauer zu Fall kommt. Wir heben sie hoch und
drängen sie in eine Ecke. Zu einem anderen.
Entschieden, noch verstärkt durch den Schweiss der Tänzer,
durch den Schmutz der Zuschauer, die heiss sind und ihren
"sui generis" [einzigartigen] Geruch kraftvoll ausatmen,
wird der Gestank unerträglich. Die Luft ist fast fest. Wir
verlassen den Schauplatz.
Draussen ist alles bewundernswert klar. Am Himmel leuchten
die Sterne mit dem von den Dichtern so gepriesenen Kreuz
des Südens [Sternbild]; und über unseren Köpfen wogt die
breite Schlange der Milchstrasse, die aus ihren Myriaden
unbekannter Sterne besteht.
Die Geräusche haben aufgehört. Es ist spät. Es ist kalt.
Mit den Händen in den Taschen atmen wir die Luft ein, die
uns im Vergleich zu den Bordellen so leicht erscheint.
Von Zeit zu Zeit treffen wir in der dichten Dunkelheit,
die der Morgendämmerung vorausgeht, einen Besoffenen an,
der sich umdreht und knurrt.
-- Der Verkauf von Alkohol wird streng unterdrückt, sagte
mein Freund ironisch und stiess mit dem Fuss einen
eingeborenen Polizisten, der, mitten in einem Bach
zusammengesunken, eine leere Flasche Whiskey in der
geballten Hand hält.
-- Ja, antwortete ich mit einem Lächeln. Die Rundmeldungen
sind gut geschrieben, und das macht in Frankreich einen
guten Endruck! In der Zwischenzeit vervollständigt Alkohol
zusammen mit der Sklaverei das, was die
Prostitution
begonnen hat. [S.223]