Kaltes Klima in Europa - Hungersnot ohne
Ende ohne Kartoffel
Über die Verbreitung der Kartoffel in Europa sind die
geschichtlichen Daten teils lückenhaft, teils
zweifelhaft, so daß man bei einzelnen Phasen
hinsichtlich Zeitpunkt, Orte und Beteiligte nur von
Vermutungen ausgehen kann.
Einer der Gründe hierfür ist die Bezeichnung »papa«
oder »batate« oder Topinambur für die selbe, aber auch
für gleiche Pflanzen: Mehr als zwölfhundert
unterschiedliche Bezeichnungen für die Kartoffel konnten
zusammengetragen werden. Die Kartoffel war (noch)
unwichtig, also wurde
auch nicht
sorgsam für spätere Geschichtsschreiber dokumentiert.
Wichtiger aufzuschreiben (und zu drucken) war die
Heilsgeschichte und die genealogische Verflechtung des
Adels.
Eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der
Kartoffel in Europa sind die Unterlagen über die
Auseinandersetzungen zwischen Pächtern
und Steuereintreibern (Voltaire und Diderot meinten,
diese seien »Menschenfresser«) oder zwischen den Bauern
und der Kirche über den
Zehnten.
Ein erstes Dokument dieser Art ist die Verordnung von
Kaiser Karl V. (Carlos I. von Spanien, 1500–1558) vom 1.
Oktober 1520, in der festgelegt wird, daß kein Zehnter
erhoben werden soll von den neuen Pflanzen. Dabei hatte
der Kaiser jede Einnahme bitter nötig, mußte er doch den
deutschen Kurfürsten seine Wahl zum deutschen Kaiser
teuer bezahlen. Es war ganz schön fortschrittlich vom
fünften Karl, mit gezielten Subventionen oder
Steuerbefreiungen die aus der Neuen Welt kommenden
Innovationen schnell voranzubringen. Es ist klar, daß
dieses von den örtlichen Steuererhebern anders gesehen
und auch anders gehandhabt wurde. Je stärker der Anbau
von Tabak, Mais und insbesondere Kartoffel zunahm,
desto häufiger wurden auch die Zänkereien über den
Zehnten.
In manchen Fällen stritt man sich mehrere Jahrzehnte
nach dem erstmaligen Anbau der Kartoffel, bis eine
Steuer oder der Zehnte erhoben wurde. Selbst das
Reichskammergericht mußte sich mit den örtlichen
Streitereien um den Kartoffelzehnten befassen.
Eugen von Rodiczky
, Ende des 19. Jahrhunderts
Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie in
Ungarisch-Altenburg, in seiner »Biographie der
Kartoffel«:
«Der Mais unternahm, als überall gern gesehener
Eroberer, einen solennen, einen festlichen Triumphzug
durch Europas Gefilde, der Tabak nahm, trotz
fürstlicher Verbote und päpstlicher Bannstrahlen, mit
eiserner Konsequenz Besitz von unseren
Geschmacksorganen, die Kartoffel hingegen konnte sich
nur mühselig Bahn brechen, nur Schritt für Schritt
vordringen.«
Nun,
der Professor irrte – zum Teil.
Denn wie die Kartoffel wurde der Mais (»Indianergold«)
zuerst in den
Hausgärten angebaut,
nicht nur, weil diese zehntfrei waren, sondern weil man
auf dem Feld nicht von den herkömmlichen Getreidearten
abkehren wollte. Mais wurde als Futterpflanze verwendet
und auf sonst brachliegenden Böden angebaut. Wie die
Kartoffel wird er in den damaligen landwirtschaftlichen
Dokumenten nur selten erwähnt, nicht einmal in eine
Verbindung zu »ehelichen wercken« wurde er gebracht.
Das »welsche Korn« machte seine europäische Karriere wie
die Kartoffel, heimlich, versteckt im Nutzgarten, mit
dem Namen Hirse oder einem anderen üblichen
Getreidenamen oder als Ackerbohne bezeichnet.
In der ganzen Menschheitsgeschichte waren Pflanzen die
fast einzige Quelle für die Gewinnung von Medikamenten;
die Mehrzahl der Botaniker (Philip von Zesen nennt sie
»Krautbeschreiber«) waren von Ausbildung und Profession
Apotheker und Ärzte. Apotheker verkauften die Gewürze an
die Köche der Herrschaft, Ärzte wiesen auf die
medizinische Bedeutung von Gewürzen hin, beide waren
stets an neuen Ingredienzien für die Nahrung
interessiert, Apotheker stellten Elixiere und andere
Heilmittel her, vertrieben als »Bückware« die
Pülverchen, die der Herr für die »ehelichen wercke«
benötigte. Da kam die Kartoffel grad recht. Damals – zur
Erinnerung – waren alle Kartoffeln wesentlich kleiner
als die heutigen Normalgrößen, nußgroß. Wenn man heute
(lange vor der regulären Ernte) mit den Händen nach
Kartoffeln gräbt, so wird man feststellen, daß sie – wie
die Botaniker sagen – »testikular«, hodenförmig ist.
Das Wissen der Ärzte und Apotheker dokumentierten sie
vielfach in mit teilweise farbigen Holzschnitten
illustrierten Kräuterbüchern. Ende des 17. Jahrhunderts
waren mehr als zwanzigtausend Pflanzen katalogisiert.
Das war in der Naturwissenschaft ein Quantensprung,
denn bis dahin wurden nur vorhandenen Bücher immer
wieder und wieder abgeschrieben, teilweise ergänzt um
lokale Pflanzen. Kräuterbücher changierten zwischen
exakten Beobachtungen und dem Glauben an Zauberei.
1560 beginnt Konrad Gesner (1516–1560) aus, das Wissen
der Welt zu
aktualisieren. Da
halfen ihm die Informationen der Flüchtlinge aus
Konstantinopel und der mit arabischer Kultur und
Wissen vertrauten spanisch-jüdischen Flüchtlinge bei
seiner »Historia Animalium«.
Mit d
er Entdeckung Amerikas kam ein
neuer exotischer Einschlag dazu: Die aus der Neuen Welt
stammenden Pflanzen (und Tiere) wie Bohnen, Mais, Tabak,
Kartoffel,
Ananas,
Tomate
und Kautschuk waren Gegenstand gelehrter
Untersuchungen. Eine der frühesten Beschreibungen der
nicht-europäischen Tier- und Pflanzenwelt stammt
von Gonzalo Francisco de Oviedo y Valdés, der nach
langer Verwaltungstätigkeit in den neuen spanischen
Kolonien eine Naturgeschichte»Westindiens« anfertigte
und 1553 in Spanien veröffentlichte, wobei er nicht
vergaß, von den magischen indianischen Zauberkräften zu
berichten (das machte schließlich die eigenen
Anstrengungen gefährlicher!), die Menschen in Tiere
verwandeln konnten.
Der Engländer Redcliffe N. Salaman, der die Geschichte
der Kartoffel eingehend erforscht hat und 1949 »The
History and Social Influence of the Potato« (mit
Schwerpunkt auf den britischen Inseln) veröffentlichte,
kann andererseits nachweisen, daß in den englischen
Pflanzenbüchern vonNicolas Monardes (zwischen 1569 und
1571) und beiWilliam Turner (1551 und 1562) weder die
Kartoffel noch die Batate erwähnt wird.
Soweit
aus den Berichten über die
Reisen desColumbusund seinem Bordbuch erkennbar ist,
brachte er von seiner ersten Reise weder die Kartoffel
(weil aus Chile!) noch die
Syphilis
mit, aber etwa zehn Bewohner der Inseln.
Von der ersten Amerika-Fahrt nach Europa zurück kamen –
mehr als Kuriosum, als »Warenmuster« – auch die
Süßkartoffeln nach Spanien. In Anbetracht der immer
wiederkehrenden Hungersnöte aufgrund
witterungsbedingter Mißernten von Weizen und
Gerste, die wichtigsten und vielfach einzigen
Feldfrüchte, nahmen schon die Matrosen auf den Schiffen
des Columbus’ Kartoffeln, Batates, mit: Alles was
irgendeinen Wert hatte oder haben konnte, wurde nach
Europa verschleppt, Edelmetalle waren der
Mannschaftnicht zugestanden, also nahmen sie – auch
weil das Volk praktischer veranlagt war – von den
neuentdeckten Inseln die Dinge mit, welche die
»behüteten« Herrschaften nicht haben wollten. Zur Wende
vom 15. zum 16. Jahrhundert (und noch bis weit ins 19.
Jahrhundert) drehte sich alles ums Essen. »Die
raffinierten Tafelfreuden feingebildeter Menschen sind
nur selten ihrer Gesundheit abträglich.«
In den Volksmärchen der bäuerlichen Welt erhält der
siegreiche Held nicht unbedingt die Hand der
holden Prinzessin oder einen Batzen
Gold als Belohnung für die Drachentötung, sondern ein
reichliches und gutes
Essen.
Schon Mitte des 16. Jahrhunderts wird die Batate als
Schiffsproviant (neben jungen Fohlen, die man lange
braten mußte, bis sie schmecken) auf spanischen Schiffen
mitgeführt. Auch englische und französische Schiffe
nehmen zunehmend Bataten und Kartoffeln an Bord. 1623
kapert ein französischer Segler vor Neufundland ein
englisches Schiff und findet an Bord ein Faß
mit»Bataten«, die wie dicke Rüben aussehen, aber
unvergleichlich besser geschmeckt haben.
Die neue Knollenpflanze – wir sprechen noch von der
Batate – wurde im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht
großflächig angebaut; in Italien, wohin diese
»Kartoffel« durch die spanischen Verbindungen rasch
gelangte, erkannte man schnell (gezwungen durch die
größere Bevölke
rungsdichte und der
damit einhergehenden Unterernährung) den Nutzen der
neuen Pflanze und baute sie in
Gärten
und auf kleinen Äckern dementsprechend an. Angeblich
habe Columbus veranlaßt, daß an der spanischen
Südwestküste, bei Huelva, Palos und Bayona, Bataten
angepflanzt worden seien; 1505 soll sich bereits ein
Handel mit Bataten nach England entwickelt haben.
Schiffe nach Amerika nahmen entweder in Spanien oder
erst auf den Kanaren die »batate hispaniorum« an Bord.
Dieses Buch behandelt die Geschichte der Kartoffel.
Deshalb ist es sicherlich hilfreich, am Anfang
diese Nahrungspflanze zu beschreiben,
zuzuordnen und ihre pflanzlichen Verwandten zu
nennen.
Die Kartoffel (
Solanum tuberosum esc.) ist eine
Staude mit meist unterbrochenen Blättern; die
Fiederblättchen sind abwechselnd groß und klein bis sehr
klein mit einer eiförmig zugespitzten bis herzförmigen
Form. Beim Betrachten der Kartoffel sieht man an einem
Ende etwas vertieft einen kleinen Ansatz; es ist das
Nabelende, entgegengesetzt liegt das Kronenende, um
welche die Augen enger gedrängt angeordnet sind.
Der
Blütenstand besteht
normalerweise aus zwei Wickeln; die Blüten tragen eine
radförmig ausgebreitete fünfzählige Blumenkrone, die
weiß, rosa, violett oder
blau ist.
Die eigenartig verwachsenen Blüten duften süßlich. Die
Staubbeutel der fünf Staubblätter stehen kegelförmig um
den Griffel herum; die Öffnung der Staubbeutel erfolgt
durch Poren an der Spitze. Aus dem Kegel ragt oben der
Griffel mit der kopfigen Narbe heraus. Der Fruchtknoten
setzt sich aus zwei verwachsenen Fruchtblättern
zusammen, die schräg in der Blüte stehen. Er entwickelt
sich zu einer Beere, die auch im reifen Zustand grün
bleibt.
Die der vegetativen Vermehrung dienenden Knollen
entstehen an unterirdischen Sprossen, den Stolonen,
nicht an den Wurzeln. Das, was wir üblicherweise als
Kartoffel
bezeichnen und auf den Tisch bringen, sind auslaufende
Verdickungen unterirdisch wachsender Stengel
(Stolone); diese Stolone entspringen in den »Achseln«
der Niederblätter, so daß die Kartoffel eine
»Sproßknolle« ist. An den Abbruchstellen oder Narben
dieser Niederblätter bilden sich die sogenannten Augen
(Achselknospen). Bei früheren Sorten in Deutschland und
bei den ursprünglichen südamerikanischen Sorten waren
diese Augen deutlich erkennbare Vertiefungen, die einem
menschlichem Auge ähnelten.
Forscher an der Universität von Wisconsin entdeckten
1999 bei den Kartoffeln Signalmoleküle, die den Pflanzen
bei der Orientierung an der Schwerkraft helfen. Der
Keimling wächst aus dem Samenkorn immer mit der Wurzel
nach unten und dem Sproß nach oben, wobei beide Teile
der Pflanze die Richtung der Erdanziehung feststellen
können. In der Wurzelspitze bewegen sich die
Stärkekörner zum Erdmittelpunkt, wo sich (so Francisco
Ribera) die Hölle befindet, »eine deutsche Meile im
Durchmesser, ganz aus Feuer und Schwefel, die bis zu 800
Milliarden Leiber von Verdammten fassen könnte (je sechs
Quadratfuß)«. Die Signalmoleküle scheinen durch
Eiweißmoleküle übermittelt zu werden.
Die Vegetationsdauer der Kartoffel ist stark
sortenbezogen und beträgt zwischen neunzig und mehr
als einhundertundfünfzig Tagen.
Die Kartoffel gehört zu den Nachtschattengewächse (
Solanaceae),
die wiederum gehören zur Familie der Röhrenblütler und
umfassen rund 2300 Arten in 85 Gattungen, vorwiegend in
den Tropen und Subtropen und in Amerika (mit fast 40
Gattungen). Für medizinische Zwecke werden aus der
Nachtschatten-Familie Alraunwurzel, Bilsenkraut,
Stechapfel, Tollkirsche und Tollkraut, für Nahrungs- und
Genußzwecke Tabak, Kartoffel, Tomate und Auberginen
genutzt. Darüber hinaus werden etliche Arten für
Zierzwecke gepflanzt.
Zur Kartoffel gehören acht Kulturarten und
einhundertsechzig Wildpflanzen. Zu jeder
Kultur-Pflanzenart gehören eine oder mehrere nah
verwandte, korrespondierende Wildformen, die
innerhalb oder außerhalb der Kulturpflanzenbestände
vorkommen. »Unkraut«-formen gibt es auch von der
Kartoffel. Zwischen den jeweiligen Wildkrautformen und
den Kulturpflanzen besteht freie Kreuzbarkeit, da sie
von gemeinsamen Vorfahren ausgehen.
Die in Europa üblicherweise angebaute Kultur-Kartoffel
gehört zur Art
Solanum tuberosum subspecie tuberosum
(aus Süd-Chile bzw. der Insel Chiloë) oder zur
subspecie andigena (aus den peruanischen Anden)
so die formelle Einordnung. Der schon erwähnte Heinz
Brücher weist nach, daß die ursprüngliche Kartoffel
mitnichten von der Insel Chiloë, ja nicht einmal aus
Chile, stammt. Diese These sei, so Brücher, in den
1920er Jahren von sowjetischen Wissenschaftlern unter
Vavilov in Umlauf gebracht worden, um den Nationalstolz
der Chilenen zu nähren.
Charles Darwin schreibt Ende Juni 1834 anläßlich eines
Besuches der Hauptstadt von Chiloé, Castro in sein
Notizbuch:
»Jetzt ein einsamer und verödeter Ort ... die Straßen
und die Plaza waren aber mit schönem grünen Rasen
überzogen, auf welchem Schafe weideten ... kein
einziges Individuum besaß weder eine Uhr noch eine
Wanduhr; und ein alter Mann, von dem man meinte, er
habe eine ordentliche Idee von Zeit, war dazu
angestellt, nach Erraten die Kirchenglocke zu
schlagen.«
Die Einwohner seien zu drei Viertel indianischer
Abstammung und hätten gut zu essen, aber an Tabak
mangele es ihnen.
Richtig sei vielmehr, daß die Kartoffel aus den
peruanischen Anden stammt, Chile und die Insel Chiloé
seien eine Zwischenstation für die andinische
Kartoffel gewesen (die Insel Chiloé war der letzte Hafen
auf der Rückreise der Spanier nach Europa). Chile sei
sogar mit nur einer Spezies (
Solanum maglia MOL.)von
insgesamt 230 Wildkartoffelsorten von Nebraska bis
Patagonien besonders arm an knollenbildenden Arten.
Neben fehlender gen-technischer Übereinstimmung der
chilenischen Kartoffel mit der heute verbreiteten
Art weist Brücher außerdem daraufhin, daß bereits
Charles Darwin mit seinem Forschungsschiff »Beagle«
(1832/1837) in der angeblichen Kartoffelheimat keine
ackerbauenden Einwohner vorfand. Auch die von den
Huiliche abstammenden Chiloten der Pazifikküste
weisen nur geringe Leistungen im Ackerbau auf und
widmen sich vorwiegend dem Mollusken- und Seetang
sammeln.
Die »solanum tuberosum andigenum« aus dem
nördlichen Andengebiet ist meist rotschalig, mit
hellem Fleisch; die Blüte ist dunkelblau oder
rotviolett. Die »solanum tuberosum tuberosum« hat
gelbes Fleisch; die Blüten sind hellviolett oder weiß.
Diese Kartoffelsorte ist für den Anbau in Mitteleuropa
besser geeignet, da ihre chilenische Heimat mehr den
klimatischen Verhältnissen in Europa entspricht.
Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Pollan
schreibt in »Die Botanik der Begierde«, daß jede
Kartoffel »in ihrer DNS eine Abhandlung über unsere
industrielle Nahrungskette zu stehen [hätte] – sowie
über unseren Appetit auf lange, makellos goldgelbe
Pommes frites«. Nun, Pollan meint, daß Pflanzen den
Menschen manipulieren würden, so wie sie die Bienen mit
Formen, Blüten und Duft beeinflussen würden. Es sei
daher auch nicht verwunderlich, daß bestimmte
Kartoffelsorten den Menschen dazu bringen würden, sie
auf seinen Acker zu pflanzen. Unbeantwortet bleibt
leider in dem Buch, ob die Kartoffeln schon von Monsanto
und ähnlichen Gen-Technikfirmen gehört hätten.
Die Kartoffel breitete sich nur langsam in Europa aus;
asiatische und islamische Länder lehnten sie sogar
weitgehend bis in unser Jahrhundert hineinreichend ab.
Die US-amerikanischen »Black Muslim«, heute als »Nation
of Islam« bekannt, haben in ihren Speisengeboten und
-verboten mehr als ein Dutzend Gemüsesorten aufgeführt –
darunter die Kartoffel –, die als ehemalige
Sklavennahrung von ihren Anhängern nicht gegessen werden
darf. Friedrich von Gagern beschreibt in »Das nackte
Leben« ein Mädchen der Rif-Kabylen:
»Adel ist alles, ... und dieser junge, innerlich reine
Leib« hatte nie eine Kartoffel berührt.«
Wie sollte sie auch, wenn die Kartoffel in Nordafrika
unbekannt war. Auch für den Islam gilt, daß das Alte
Testament die Kartoffel nicht erwähnt und sie deshalb
ein»gottloses« Gemüse ist. Aber: Die islamische
Geschichte ist ein gutes Beispiel, zu studieren, wie ein
Kulturvolk herabsinkt, wenn die Kartoffel verweigert
wird. In Westeuropa sinkt zum Ende des 20. Jahrhunderts
der Kartoffelverbrauch dramatisch; ist eine
Schlußfolgerung zulässig?
Die Einführung der Kartoffel ging auch in Asien nur
langsam vor sich, obwohl die größere Bevölkerungsdichte
und die – relativ – geringere Ackerbaufläche die
Anpflanzung neuer Nahrungspflanzen förderte. Auch der
Mais wurde in Asien zunächst abgelehnt. Der Mais (der
dick macht, ohne zu kräftigen) gelangte zwar bereits in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach China. Der
Anbau beschränkte sich jedoch bis zur Mitte des 17.
Jahrhunderts auf wenige Gebiete.
Wegen des plötzlichen Bevölkerungsanstiegs in der
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde es auch in China
erforderlich, die Hügel- und Berglandschaften zu
kultivieren und Kartoffeln anzubauen, die Mitte des
17. Jahrhunderts von portugiesischen Jesuiten nach
China verbra
cht worden waren. Bei den
allem Neuen gegenüber aufgeschlossenen Chinesen hieß es
nicht: »Die beste Kartoffel ist ein Tand aus eines
Jesuiten
Hand«. Der Jesuit Adam
Schall von Bell (in China Dr. T’ang Jowang) und seine
langnasigen Mitbrüder mochten Mitte des 17. Jahrhunderts
nicht auf Kartoffeln verzichten, als sie für die Kaiser
Shun-chih und K’ang-shi Mond- und Sonnenfinsternisse
voraussagten und den chinesischen Kalender erneuern;
wie in Europa ist die Kartoffel der Anlaß, die
Zeitrechnung zu überarbeiten – dazu später mehr.
Die Wurzel der Europäer ist sicherlich hochwillkommen
geheißen worden, denn die Ernährung ist für China das,
was Sex in Europa ist. Der chinesische Philosoph Menzius
behauptete im dritten Jahrhundert v. Chr., daß
Sexualität und Ernährung für den Menschen das
Natürlichste seien. Beides könne man als bloßes
Bedürfnis oder als Sinnengenuß ansehen, und beides
biete unerschöpflichen Gesprächsstoff. Im übrigen
zeichnet sich die chinesische Küche dadurch aus, daß sie
alles verwendet und schonend zubereitet – etwas, was die
Knolle mag.
Die auf engem Raum lebende Bevölkerung entwickelte die
»Chinesische Kartoffelkiste«, mit der auf kleinstem
Raum Knollen angebaut werden können: Vier Kanthölzer
mit einem Meter Länge, 16 Bretter (2,5 cm mal 25 cm mal
1 Meter). Immer wenn die Saatkartoffel ihre Blätter aus
der Erde wachsen läßt, wird eine neue Schicht Erde
angefüllt. Bis zu fünfzig Kilogramm Kartoffeln auf
einem Quadratmeter sei keine Seltenheit dieser
Anbaumethode. Das Grundprinzip funktioniert auch mit
einer Regentonne auf dem heimischen Balkon einer
Mietwohnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Art
von Anbau auf fast allen Berliner Balkons üblich –
Dünger kam von den ebenfalls auf den Balkons gehaltenen
Ziegen.
Als der Abenteurer und Journalist Peter Fleming mit
seiner Kollegin Ella Maillart 1935 von Peking über
Tschinghai und Sinkiang nach Kaschmir reisen, können sie
in einem kleinen Ort namens Tangar in Kansu neben Tsamba
auch kaufen und ihrem leichten Gepäck beifügen; die dort
von ihnen gefundenen Kartoffeln sind von den
zaristischen Flüchtlingen aus den weißrussischen Armeen
von Annenkow und Koltschak und von – vielfach
schwedischen – Missionaren (Stichwort: Sven Hedin) in
diese Gebiete verbracht worden, aber auch von den
Agenten der Sowjetunion in den 1920er Jahren, die sich
gewaltsam in die internen Auseinandersetzungen von
Dunganen und Chinesen einmischten. Die anderen
amerikanischen Nahrungsmittel Mais, Erdnuß und
Süßkartoffel gelangten über die traditionellen
Handelswege von Südchina nach Korea und Japan.
Der Japaner Toshio Teshigawara in einem
klassischen Haiku:
»Der Bauer, pflanzend
Knollen in den Grund, spürt
nicht der Hunger Not.«
In Japan wird heute eine mathematische Wendung im
Zusammenhang mit Kartoffeln (
jagaimo) verwendet:
»hachi ri han«, was »achteinhalb Meilen« bedeutet: Ein
Kaufmann, der mit gerösteten Knollen handelt, hängt
manchmal eine Fahne oder ein Schild auf, worauf »hachi
ri han« geschrieben ist. Die Eßkastanie heißt in Japan
»kuri«; dieses Wort ist homonym mit »neun Meilen« (ku
ri). Die Reklame des Kartoffelhändlers behauptet nun:
Röstkastanien sind teuer, die Kartoffeln dagegen billig
und schmecken trotzdem fast so gut wie die Kastanien,
eben nur eine halbe Meile weniger.
Die Kartoffel kam zu einem Zeitpunkt nach Japan, als
noch das vegetarisch eingestellte Tokugawa-Regime
seinen Einfluß ausübte. Von 1600 bis 1868 wurde in Japan
kaum Fleisch gegessen, denn – so der Arzt Hitomi
Hitsudai 1692 – das Essen von Fleisch rufe Krankheiten
hervor. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wechselte die
der Knolle so förderliche Einstellung zur Nahrung; der
Philosoph Fukuzawa Yukichi meinte nicht ganz zu Unrecht,
daß zwar Frühlingsgemüse gesund sei, »aber der Urin, mit
dem sie jemand vorgestern noch begossen hat, ist tief
in die Blätter eingedrungen.« Das führt zu einer
wahrlich schwierigen Entscheidung: Natürliches Urin oder
chemische Keule?
Die neuen Pflanzen, das viele Gold, brachten Unruhe
mit. Man hörte von neuen Pflanzen aus»Indien«, die an
die Stelle von Weizen (mehr Eiweiß mehr Vitamin B1, mehr
Kalzium als Roggen), Roggen (mehr Vitamin B2, mehr Eisen
als Weizen, sättigt stärker wegen höherem Fett- und
Proteingehalt), Gerste und Hafer treten würden. Damit
war der so einträgliche Getreidehandel bedroht. Es
waren die über das Land ziehenden kleinen Händler, die
Vieh und Getreide kauften – auf Termin wie an der
Chicagoer Warenbörse –, an die großen Handelshäuser
weiterverkauften oder direkt die Städte versorgten und
für sich einen
kleinen Profit erwirtschafteten.
Dazu paßt, daßUlrich von Hutten mit »Nieder mit dem
Pfeffer, dem Safran, die Seide« gegen die neuen Produkte
aus Spanien und Italien und zugleich gegen die
spanisch-italienische Kirche, Stellung bezieht.
Aus dem Thesenanschlag des»kleinen Mönchleins«
(Luther) entwickelt sich der Hundertjährige Krieg
(tatsächlich 114 Jahre), der 1618 in den
Dreißigjährigen Krieg mündet, ein Krieg, in dem es um
Absatzmärkte von Gewürzen, Getreide und Kartoffeln und
damit um Macht ging, nur nicht um die »Ehrfurcht vor der
Göttlichkeit«, der
religio, und den die
Knollenbauer um den Preis der Abspaltung großer Teile
Europas von der katholischen Kirche schließlich
bestanden. Der Dreißigjährige Krieg, von den
Zeitgenossen der »Teutsche Krieg« genannt, v
ernichtete auch die Reste des
Weinbaus im nördlichen
Deutschland,
brachte aber andererseits das »Tabakrauchen« (»eine
Pfeife Rauch trinken«); das
deutschsprachige Land blieb, unterm Strich, lasterhaft.
Die zur ersten Jahrtausendwende vorherrschende
Warm-Temperatur in der nördlichen Hemisphäre ermöglichte
Weinbau in Schottland und Viehzucht auf Grönland. Wein
wurde zum ersten Mal von den Römern über die Alpen und
bis nach England gebracht, und die neuen Bürger des
römischen Imperiums taten das ihnen Mögliche, um ihn zu
behalten. Im Hochm
ittelalter, als
der Handel über weite Entfernungen schwierig und
unsicher war, legten die Engländer großflächige
Weinfelder an. Doch ihr Wein
schmeckte scheußlich – wie heutzutage die Ergebnisse
ihrer »Kochkunst«.Peter von Blois
,
Schreiber am Hofe des englischen Heinrich II
.(1133–1189):
«Ich habe gesehen, wie sogar dem hohen Adel derart
trüber Wein vorgesetzt wurde, daß man die Augen schließen und die Zähne
zusammenbeißen mußte, wenn man mit verzogenem Mund
und tiefem Ekel dieses Dreckszeug, statt es zu
trinken, in sich hineintröpfeln ließ.«
So nur werden die Kämpfe um die Bretagne verständlich,
sie gingen um den Zugang zu den Weinfeldern Frankreichs,
um den»Kir Royal«. Vor diesem Hintergrund ist die
Johanna von Orléans zu begreifen, die den guten Roten
der Franzosen vor den Engländern bewahren wollte. Bei
besonders wüsten Gelagen am britischen Hof brachen die
Beteiligten einfach die Stiele am Trinkglas ab, damit
die Gläser auch in gebührender Eile geleert wurden.
Die ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts
einsetzende»Abkühlung« (bis zum Anfang des 20.
Jahrhunderts) um etwa zehn Grad Celsius
(durchschnittlich) führte zu einer
abermaligen»Völkerwanderung«, ausgelöst von der
westwärts ziehenden »Goldenen Horde«, dem»Khanat
Kiptschak«, unter Temüdschin, der sich Dschingis Khan
(der »rechte Herrscher« oder der »ozeangleiche
Herrscher«) nannte, Batu Khan und später der Turk-
Mongolenherrscher Timur-Leng
(Tamerlan, Teimur-Lenk der Lahme), der sich in
Samarkand ein blau gekacheltes
Grabmal
errichten ließ. Nur weil der Khan starb, die Armee zur
Wahl des Nachfolgers zurück in die heimatlichen Jurten
mußte und deshalb in der Mitte des 15. Jahrhunderts
alles wieder aufgab, was erobert worden war, kam Europa
damals um den Einfluß durch die chinesischen Kultur.
Diese auch heute noch nicht erklärbare deutliche
Klimaveränderung in Europa und Asien war ein weiterer
und entscheidender Faktor für den Siegeszug der
Kartoffel nach der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Bis
weit nach 1700 herrschte das
kälteste Regime seit dem Ende der letzten großen Eiszeit
vor zehntausend
Jahren.
Die Abkühlung warf Europa in ein dunkles Zeitalter,
nicht nur kulturell: Die Winter waren extrem
kalt, die Sommer waren verregnet.
Das Getreide reifte nicht mehr, und am Roggen bildeten
sich Mutterkornpilze (ein hauptsächlich am Roggen
schmarotzender Schlauchpilz), die zu Erkrankungen der
Gliedmaßen
führten, die Wölfe
drangen in die Dörfer ein und fielen die Bewohner an.
England, damals schon unter einer ewigen Wolkendecke,
verlegte sich auf Schafzucht. Die Wollproduktion
wiederum führte zur Entstehung der
Textilindustrie,
die ihre Produkte exportieren mußte und den
»Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus«
begründete.
Jede Mißernte führt zu Hungersnöten; aber auch ohne
ausgesprochene Mißernten waren die Menschen immer wieder
vom Hunger bedroht,
– weil die Bevölkerung schneller als die
Anbaufläche für Getreide wuchs
– weil die mittleren Ernteschwankungen je nach
Getreideart bei 20 bis 40 Prozent der
Durchschnittserträge lagen und somit in manchen Jahren
nur etwa die Hälfte der normalen Ernte eingefahren
werden konnte
– weil die Lagerung von Vorräten über längere
Zeit äußerst schwierig war.
Die durchschnittliche Lebenserwartung – die ohnehin mit
etwa dreißig Jahren nicht hoch war, sank
um etwa zehn Jahre.Karl V. von Frankreich galt bei
seinem Ableben im Alter von
zweiundvierzig
Jahren als»weiser alter Mann«.
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die
Lebenserwartung nicht wesentlich gestiegen: In Rußla
nd betrug sie 21,3 Jahre, Preußen
29,6, Frankreich 32,2, Schweiz 34,5, Belgien 36,5 und in
England 38,5
Jahre.
Der Höhepunkt dieser»Kleinen Eiszeit« lag in der Mitte
des 17. Jahrhunderts, wobei die Jahre von 1580 bis 1730
überdurchschnittlich kalt waren. Die Unbilden der
Witterung wirkten sich durch Mißernten und Hungersnöten
vor allem dort aus, wo die Ertragslage durch
minderwertige Böden ohnehin schon ungünstig war, wo
Subsistenzwirtschaft herrschte oder die Krisen durch
Getreidespekulationen noch verschärft wurden. Die
Kartoffel war die Antwort auf das am Halm faulendes
Getreide; sie war an kältere Temperaturen und einem
feuchterem Klima besser angepaßt als Getreide, das sich
fast zehntausend Jahre lang dem früheren milderen Klima
der nördlichen Hemisphäre angepaßt hatte.
Im 17. Jahrhundert verneunfachten sich die Kornpreise
als Folge der wiederholten Mißernten wegen der
Klimaverschlechterung. Die Mißernten führten dazu, daß
die Menschen das unreife Korn aßen oder gar grünes Gras
»wie das Vieh«. Aus Hessen wird 1635 berichtet:
«Man verschlingt die ungenießbaren Dinge wie Laub,
Gras oder Leder, um den Hunger zu stillen. Eine
Rattenmaus bezahlt man mit vier Gulden, soviel hatte
1618 noch eine fette Sau gekostet.«
Christian Morgenstern in den »Galgenliedern«:
»Der Schneck horcht auf in seinem Haus / Desgleichen
die Kartoffelmaus«
Gefürchtet waren überall die »grünen Jahre«, Jahre, in
denen das Getreide nicht ausreifte, weil der Sommer
wieder einmal nicht auf die erforderliche Temperatur kam
oder die Regenmenge zu viel oder zu wenig war.
Gefürchtet waren auch jene Jahre, in denen nur das
»zweite« oder gar nur »dritte« Korn geerntet wurde,
denn dies bedeutete auch noch Hunger im Folgejahr.
Wolfram von Eschenbachs »Parzival« (nach Dieter Kühn),
einige hundert Jahre früher, aber immer noch zutreffend:
»Aus Mangel wurde Hungersnot,
es gab nicht Käse, Fleisch und Brot
man gab das Zähnestochern auf,
sie machten keinen Wein mehr fettig
mit den Lippen –falls sie tranken ...
Die Wampen waren eingesunken,
die Hüften ragten knochig hoch
und schrumplig wie Ungar-Leder
lag die Haut auf ihren Rippen;
vor Hunger fielen sie vom Fleisch,
so hat die Not sie zugerichtet,
in Kohlen troff so gut wie nichts.«
Sämtliche Länder Europas befinden sich, nicht unbedingt
immer zeitgleich, in einer ähnlichen Situation. Eine
Folge dieser Hungerperioden war die Zusammenballung
dieser Menschen zu riesigen Gruppen, die in die Städte
zogen und besser gestellte Bürger in Angst und Schrecken
versetzten. Aus Augsburg wird über die Hungersnot
1570/1571 berichtet, daß man sich mit Rüben, Nesseln,
Kraut und Gras (wovon selbst den Schweinen schlecht
wurde) behalf; auch hätte man Kälber, die vor der Zeit
geboren, essen müssen.»Ausgejagte« Knechte und Mägde
zogen durchs Land und bestürmten die Städte.
Festzustellen ist in diesen Jahren, daß in Listen über
gelieferte Waren oder Preisen von Nahrungsmitteln immer
wieder Roggen, Erbsen, Milch und Butter, Eier, Schmalz
und Rindfleisch erwähnt werden – aber keine Erdäpfel.
Dies läßt den Schluß zu, daß die Kartoffel oder der
Topinambur oder die Süßkartoffel in jenen Jahren nicht
als Nahrungsmittel angebaut, zumindest aber nicht
gehandelt wurde.
Für die Versorgung einer Stadt mit etwa dreitausend
Einwohnern war – zusätzlich zu der innerhalb der
Stadtmauern betriebenen Landwirtschaft – eine Fläche von
8,5 ha erforderlich. Die»Stadtbewohner« waren zugleich
Bauern, die nicht nur zur Erntezeit
stante pene
aufs Feld zogen, sondern auch in normalen Zeiten ihre
Rüben vor dem Ort buddelten.
Der Hunger führte zu Unterernährung, und diese
begünstigt – neben den allgemein schlechten
hygienischen
Verhältnissen – die
Ausbreitung von Pest, Seuchen, Typhus, Pocken,
Keuchhusten usw. usw. Alles, was die apokalyptischen
Reiter enthüllten.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommen die
schon seit langem schwelenden sozialen Unruhen zum
offenen Ausbruch. Das Rittertum verliert mit den
aufkommenden Söldnerheeren und deren Musketen endgültig
seine Macht und Bedeutung. Die Einnahmen des kleinen
Landadels gehen zurück und sind ein Anlaß, von den
Bauern höhere Abgaben zu fordern; solange die
Landwirtschaft nur auf die Versorgung um den Kirchturm
herum ausgerichtet war und nicht mehr grundsätzlich
angebaut wurde, als das was unmittelbar verbraucht
wurde, hält sich zwischen Grundherren und »Hörigen« ein
Gleichgewicht der Kräfte und ein»maßvoller« Frondienst.
Dies ändert sich insbesondere nach der Entdeckung der
»Neuen Welt«, weil nun der spanische Adel Vorbild wird.
Die mitteleuropäischen Adligen werden neidisch, und Neid
ist bekanntlich ein Faktor, der die Welt verändern kann.
Der Wunsch des kleinen deutschen Landadels, einen
ähnlichen Wohlstand zu genießen, äußert sich in der
Erhöhung der Abgaben für ihre Bauern und einer
Ausdehnung der Fronpflichten.
Die einheitliche Nutzung der Gewanne in Deutschland
bringt es mit sich, daß Bebauung und Ernte nach einem
gemeinsamen genossenschaftlich ausgerichteten Plan
erfolgen. Im Mittelalter ist der Boden nur »geliehen«
oder in sonstiger Abrede den Bauern zur Verfügung
gestellt, was dennoch zu permanenten
Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Grundherrn
führt. Der Grundherr verfügte als Lehnsträger über
Land und Leute nicht im Sinne eines
privatwirtschaftlichen Eigentumsbegriffes (das war so
nur bei den Leibeigenen in Rußland bis zur Revolution
1917), sondern muß seinerseits Nutzungsrechte seiner
Untertanen anerkennen.
Die um ein Dorf üblicherweise liegenden Wald- und
Wiesengürtel, die»Allmende«, wurden gemeinschaftlich
genutzt. Eigenes und genossenschaftliches
Wirtschaften ergänzen sich, treten nicht als
Gegensätze auf.
Nach
Gemeinem Recht hatten die deutschen Bauern
die Rechtsstellung der
coloni des römischen
Rechts; dieses Wort hatte im klassischen römischen Recht
freie Bauern bezeichnet, die als Pächter auf ihrem Land
saßen. Später änderte sich die Rechtsstellung des
colonus:
Ihm wurde eine gewisse Bindung an das Land auferlegt,
das die spätere Leibeigenschaft vorwegnahm. Dem Adel und
den von ihnen bezahlten Juristen (beider Rechte) gelang
es, die ursprüngliche Freiheit immer stärker
einzugrenzen, bis schließlich die wechselseitigen
Dienstbarkeiten (zwischen ursprünglich
erbberechtigtem – Vasall und Lehnsherr) einseitig auf
den Schultern der Bauern lagen.
Die sich in diesem Jahrhundert durchsetzende
Wirtschaftgesinnung auf Erwerb und Gewinn durch den
Verkauf von Landwirtschaftsprodukten durchbricht die
traditionelle Wechselbeziehung von Adel und Bauern.
Die Blütezeit der Handelshäuser (Fugger, Welser,
Hochstetter) geht zu Ende, zumal es dem deutschen Adel
gelingt, in die Handelsmonopole der Seestädte im
Ostseeraum einzudringen und die Privilegien zu
brechen. Die Grundherren fangen an, Getreide anbauen
zu lassen und dessen Export nach West- und Südeuropa in
eigene Hände zu nehmen, zumindest zu kontrollieren.
In England lösen ab dem 15. Jahrhundert die Feudalherren
ihre Gefolgschaft auf, da sie nicht mehr ernährbar ist
(in Asien wird aus gleichen Gründen die Sklavenhaltung
in dieser Phase deutlich eingeschränkt). Das englische
Gemeindeland wird eingezäunt, kleinere
landwirtschaftliche Betriebe vernichtet. Werden die
Bauern auf dem Kontinent unterdrückt, so werden sie in
England»freigesetzt« und vertrieben – ein Prozeß, der
sich über drei Jahrhunderte erst
reckt.
Der Dreißigjährige Krieg, vorgeblich ein Krieg um die
richtige Interpretation des
Papsttums,
war Folge der Mißernten, wobei der Krieg den Hunger in
Deutschland verschärfte. Krieg war allgegenwärtig;
überall in Europa darben und starben, stürzten die
Menschen. Pest, Blattern und andere Epidemien kehrten
regelmäßig durch die Lande. Hunger war üblich. Nach dem
Dreißigjährigen Krieg sind in Deutschland allein in der
Zeit bis 1807 nachweislich sechzehn Hungerperioden zu
zählen, die Jahre 1739 bis 1741 (auf dem Barnim in
Brandenburg lag bis in den Mai hinein Schnee und im Juni
war noch kein Gras auf der Weide) und 1770 bis 1772
waren sogar Hungerkatastrophen. Das führt dazu, daß
Bettler und Vagabunden,
Vagierende, des Landes
verwiesen wurden, da sie vom Landmann
»Fleisch, Brod und Früchten zu erpressen, mithin
denselben in die größte Forcht, Schrecken und Angst zu
versetzen, sich erfrechen«
heißt es bereits 1769 in einem Edikt in Westfalen.
Aus Wesel am Niederrhein wird berichtet, daß in den
Monaten Februar bis Juli 1770 Dauerregen, dann K
älteeinbrüche, plötzliche Trockenheit
und dann wieder Überschwemmungen
herrschten.
Jedes vierte Jahr ist ein Hungerjahr in Deutschland.
Christian Graf Krockow über Preußens Geschichte:
»Für die Mehrheit der Menschen, für die Männer wie für
Frauen wurde der Alltag von Kargheit und Mühsal
bestimmt. Daß man sich satt essen konnte, bedeutete
schon viel. Doch niemals durfte man sich in Sicherheit
wiegen, immer mußte man mit Mißernten rechnen, und da
man von der Hand in den Mund lebte,
konnte man rasch in Bedrängnis, ins Unheil geraten.«
Ähnliche Zahlen über Hungersnöte und Hungerjahre sind in
ganz Europa
registriert. Für
England sind es die Jahre 1418 bis 1759. Für Florenz
werden im 14. Jahrhundert durchschnittlich alle fünf
Jahre Hungerjahre dokumentiert, die nur dadurch
gemildert wurden, daß die »Signoria« Getreide aus
anderen italienischen Gegenden aufkaufen konnte.
Zwischen 1371 und 1791 erlebt das reiche Florenz – so
Fernand Braudel – insgesamt einhundertundelf Hungerjahre
bei nur sechzehn ausnehmend guten Ernten.
Auf russischem Gebiet – so hat William A. Dando
errechnet – gab es von 971 bis 1925 belegbare 114
Hungerjahre.
In Frankreich hungerten die Menschen dreizehnmal im
16. Jahrhundert, elfmal im 17. und sechzehnmal im 18.
Jahrhundert. – und damit sind die nur lokalen
Hungersnöte noch nicht mitgezählt. Jedes Hungerjahr –
gleich wo – führte zu mehr oder weniger stark
ausgeprägten Kämpfen zwischen den kleinen Leuten und den
Mächtigen. In Andalusien waren die Jahre 1400–1402,
1412–1414, 1421, 1423–1426, 1434–1438, 1442–1443,
1447–1449, 1454, 1458–1459, 1461–1462 und 1465–1467
Hungerjahre, insgesamt fünfunddreißig Jahre in einem
dreiviertel Jahrhundert.
Von 1400 bis 1473 gab es allein in Kastilien
fünfunddreißig Hungerjahre. Eine schlechte Ernte
bedeutete Hunger, zwei waren eine Katastrophe, der
Hunderttausende zum Opfer fielen. Die niedrigen
Getreidepreise und die gröbliche Vernachlässigung des
Ackerbaus auf der iberischen Halbinsel schädigen in den
1550er Jahren den herkömmlichen – sowieso schon
verringerten – Getreideanbau, und Wein-, Öl- und
Seidenkulturen und Schafzucht mit wandernden Herden
dehnen sich noch stärker aus. Der Raubbau an den Wäldern
war so schlimm, daß bereits Anfang des 16. Jahrhunderts
Holz aus Nordeuropa importiert werden mußte. Die
spanischen Mißernten sind durch die »Kleine Eiszeit«
wie durch diese rücksichtslose Ausbeutung der
natürlichen Ressourcen begründet. Die Erosion durch
Rodung, die Auslaugung der oberen Bodenschichten und
die Weidewirtschaft vernichtete wertvollen Ackerboden,
so daß Brache und Düngung keinen Ausgleich für diesen
Umgang mit der Natur schufen. Der allgemeine Raubbau an
der Natur wirkte sich auf die Kartoffel aus, die auch
aus diesem Grund als Alternative zum Getreideanbau
betrachtet und deshalb angepflanzt wurde. Auf
russischem Gebiet, so hat William A. Dando errechnet,
gab es von 971 bis 1925 belegbare 114 Hungerjahre.
nach oben
Bei den witterungsbedingten Mißernten handelte es sich
zumeist um Großwetterlagen, die sich fast über ganz
Europa erstreckten, so daß ein überregionaler Ausgleich
an Nahrungsmitteln – auch wegen der Transportprobleme –
nicht möglich war und auch nicht in den Überlegungen
der Betroffenen bestand.
Wilhelm Abel:
»Es zeigt sich, daß auch die Geschichte des
Abendlandes auf weite Strecken hin eine Geschichte der
Not, des Elends und des Hungers war.«
Anmerkungen
1 Von Karl dem Großen sind 135.000 adlige und
anerkannte Nachkommen bekannt. Von Dschingis Khan, so
ein Befund aus dem Y-Chromosom der Bevölkerung zwischen
der Mongolei und der chinesischen Pazifikküste, stammen
etwa 16 Millionen Männer ab, was etwa einem halben
Prozent der gesamten männlichen Weltbevölkerung
entspricht. Nach einer persischen Chronik aus dem des
Mittelalter hatte der Mongolenherrscher allein 160
Nachkommen.
Karl der Große war der festen Überzeugung, daß eine
Hungersnot eine Strafe Gottes für die Sünden der
Menschen sei. In Notzeiten ordnete er daher allgemeines
Fasten und das Lesen von Messen an. Er hat versucht,
durch Festlegung von Höchstpreisen einer Teuerung
entgegenzuwirken. Einmal verbot er auch den Export von
Lebensmitteln. Nur: In einem Land, in dem auch der
jeweilige Herrschaftssitz sich nur in sehr kleinen
Städten befand und die überörtliche Kommunikation nur
bedingt funktionierte, konnten seine Maßnahmen keine
nennenswerte Erleichterung bedeuten.
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2 Der Zehnte ist im 6. Jahrhundert in Südosteuropa
erstmals eingeführt worden und – »gute Ideen« setzen
sich durch – verbreitete sich danach in ganz Europa.
Neben dem Zehnten mußten im Mittelalter außerdem Abgaben
für Rechtsschutz und Gerichtspflege und für alle
möglichen anderen Dinge – wie die übliche
Frondienstleistungen – aufgebracht werden. Vom
Zehntensollte je ein Viertel dem Bischof, dem Pfarrer,
dem Kirchenbau und den Armen zustehen. Tatsächlich
nahmen aber Bischof und Pfarrer so viel, daß für den
Kirchenbau wenig und für die Armen gar nichts
übrigblieb. Die Proteste gegen den Zehnten richtete sich
hauptsächlich gegen diese tatsächliche Verteilung des
Zehnten, aber parallel mit Zehntverweigerungen gingen
vielfach auch Fronstreiks.
Der»kleine Zehnte« war eine Naturalabgabe an die Pfarrer
und Lehrer aus den Hausgärten. Die Abgabevorschriften
für Feldfrüchte, der sog. große Zehnt, kannten nur
Getreide, während Rüben, Hanf, Kraut, Flachs und
Kartoffeln zumeist ungeregelt waren oder nur nach
langwierigen Auseinandersetzungen gegen die Bauern
durchgesetzt werden konnte. Mutter Ecclesia aß mit am
Tisch der Armen.
Im übrigen galt:
Clericus Clericum non decimat – von
einem anderen Geistlichen wird der Zehnte nicht
abverlangt. Bemerkenswert ist, daß der Zehnte auf die
Kartoffel erst dann erhoben wurde, wenn die Ausbeute
groß genug war, wenn die Knolle auf den Feldern wuchs.
In den Orten um Solm wurde daher – zum Beispiel – erst
ab 1756 der Zehnte auf die Knolle erhoben. Der »blutige
Zehnte« oder »Blutzehnt«, den es auch gab, hatte seine
Bezeichnung von der Abgabe auf Kleinvieh wie Lämmer,
Hühner, Gänse, Ferkel und dem jeweils zehnten Füllen,
Kalb, Lamm und Immenstock.
Der Zehnter (in Hamburg: Teeger) ist einer von den
vielen ausgestorbenen ehrenwerten Berufen, treibt doch
jetzt das staatliche Finanzamt die Kirchensteuer, etwa
ein Zwölftel, ein. Und in Schleswig-Holstein sogar von
den Ungläubigen in Form eines Kirchgeldes. Aber das ist
alles nichts gegen die Bräuche zu Zeiten Christis
Geburt, wie der Römer Lactantius in seiner Schrift »De
mortibus Persecutorum« schildert: »Überall hörte man die
Schreie derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört
wurden; man spielte Söhne gegen Väter aus, die Frauen
gegen die Ehemänner ... und wenn der Schmerz gesiegt
hatte, schrieb man steuerpflichtigen Besitz auf, der gar
nicht existierte.« Da hat der Halbteilungssatz des
früheren Bundesverfassungsrichters Kirchhoff nicht mehr
zu suchen.
Vielfach wurde die Einziehung des Zehnten verkauft, da
sich die Herrschaft damit die Kosten der »Ziehung«
ersparte und im übrigen ließ sich der Volkszorn so auf
den Käufer des Zehntrechts abwälzen Die »Vermalterung«
des Zehnten (so hieß der Verkauf des Erhebungsrechts)
durfte nur an Untertanen, Bürger und Bauern geschehen,
welche ihn wegen des »Geströhes und zur Besserung der
Begailung« ihrer Felder nötig hatten. Der Autor gesteht:
Begailung, Geströh und Vermalterung sind Begriffe, die
ihm bisher unbekannt waren, aber von Dr. phil. Hans
Lerch in seiner »Hessischen Agrargeschichte«, 1926 in
Bad Hersfeld erschienen, als allgemein bekannt
vorausgesetzt werden.
Im katholischen Fürstentum Mainz (und anderswo war’s
nicht anders) wurde neben dem Zehnten abgefordert: eine
Abgabe als Hub- und Beetwein, Ohmgeld, Herdschilling,
Königsbeth und Atzgeld, ein Lämmerzehnter,
Fastnachtskappen und Blutzehnter (decimas de
animalibus), Leibshuhn und Glockengarbe. Am 28. Februar
1793 wurden ferner in Mainz (in Folge der Ausrufung der
Republik) abgeschafft: Kopfgelder, Rauch-, Wild- und
Wiesengelder, Freilandsgelder, herrschaftliche
Fronden und herrschaftliche Schäfereien, Jagden und
Zölle vom eigenen Wachstum, Judenleibzoll, erzwungene
Militärdienste, Fruchtfuhren und Transport des
Deputatholzes, Mithilfe beim Stürzen und Wenden auf
dem Fruchtboden und beim Einsacken der herrschaftlichen
Früchte, Pflastergeld, Wege- und Scharwerksdienste,
Accise (und durch eine mäßige Grund-Mobiliarsteuer
ersetzt). Das war schlimmer als LoSt, KiSt und Soli,
ärger als Beiträge zur KV, zur RV, zur AV und zur
Pflegeversicherung.
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3 Wir wollen hier an den Garten Eden erinnern, der
ebenfalls zehntfrei war, der ein beschützter Garten mit
»Zaun« war. Der Hausgarten war das Paradies der
Bauersfrau, der Nachfolger des »ganan«, der vor dem
Zugriff allzu gieriger Kirchenoberer geschützt war.
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4 Konrad Gesner veröffentlichte nach jahrelangen
Vorbereitungen 1569 ein »Vollkommenes Fischbuch« und
ein »Vollkommenes Vogelbuch« und im Jahr darauf das
»Allgemeine Thierbuch«.
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5 Eine Beschreibung der Ananas aus dem 16. Jahrhundert:
»Diese liebliche Frucht wächst zwischen eitel dicken
Blättern, welche an den Seiten scharf, und inwendig,
nach dem Stamm-Ende zu, da die Frucht steht, schön rot
sind. Sie wird ungefähr, wenn sie reif ist, so groß
wie ein Rettich oder kleiner Kürbis, aber recht
ovalisch. Inwendig ist sie schön gelb, auswändig ist
sie aber voller Narben, aus welchen grüne, scharfe
Spitzlein von Blätterlein gehen, ansonsten auch gelb.
Die Narben sind fast wie ein Nabel am Menschen. Der
Geschmack ist sehr anmuthig und vergleicht sich schön,
wie auch der Geruch, mit den reifesten Erdbeeren.«
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6 Da gab es, so Bruder Bernardino de Sahagún, »große
Tomaten, kleine Tomaten, grüne Tomaten, dünne Tomaten,
süße Tomaten ... gelbe, sehr gelbe, ganz gelbe, rote,
sehr rote, hellrote, rötliche, rosa gezeichnete ...«.
Und eine 1613 gezeichnete tomatl, Poma amoris fructu
rubro, zeigt deutlich mehr Furchen in der Frucht. Bauhin
nennt sie auch »Mala peruviana« Apfel aus Peru.
Friedrich Alefeld schreibt noch 1866 vom »Eßbaren
Liebesapfel« in Deutschland: »Im nördlichen Teile
unseres Gebietes nur als Zierpflanze gezogen, im
südlichen aber seines Nutzen wegen als Zukost- und
Suppenpflanze.« Sieben Sorten beschreibt er 1.
(rotfrüchtig gewöhnliche, 2. gelbfrüchtige, 3. mit
kleinen, roten, gerippten Früchten, 4. mit kleinen,
runden, kirschenähnlichen Früchten, 5. mit kleinen,
runden, gelblichen Früchten, 6. mit birnenförmigen ,
roten Früchten und 7. birnenförmige, gelbe Früchte. –
Die glatten Dinger, die heute im Supermarkt liegen,
können demnach gar keine Tomaten sein!
Gaspard Bauhin (Kaspar Bauhin, latinisiert Casparus
Bauhinus, Arzt und Anatomie-Professor an der
Universität) beschrieb schon 1596 neben der Kartoffel
auch eine andere aus Amerika stammende Pflanze, die
Tomate; sie sei »ein goldener Apfel stinkenden
Geschmacks«. Schon Joachim Camerarius hatte zehn Jahre
vorher ein ähnliches Unwert-Urteil gefällt:
»Amoris poma oder Goldäpffel: In Welschland pflegen
diese Früchte etliche zu essen mit Pfeffer, Oel und
Essig gekocht, aber es ist eine ungesunde Speiß, und
die gantz wenig Nahrung geben kann.«
Wie die Kartoffel war auch die Tomate (»Mag die Füße
gern naß und den Kopf trocken«) den sexuellen Phantasien
der Geistlichkeit ausgesetzt: Noch im 18. Jahrhundert
glaubte man in der Schweiz, sie verursache Liebeswahn,
sie galt als nichtsnutzig und giftig. Wie die Kartoffel
wurde die Tomate erst spät gelobt. Die Kartoffel nahm
ihren Weg in die »Neue Welt« zurück über Irland, die
Tomate über Mexiko nach Italien und zurück.
Es dauerte Jahrhunderte, bis die Tomate zu dem beliebten
Nahrungsmittel wurde, das sie heute ist oder war, denn
inzwischen sind die »Liebesäpfel« ziemlich suspekt, was
nicht nur mit den Gen-Mutabilitäten, sondern wohl auch
mit der Gülle aus holländischen Schweineställen zu tun
hat.Baron Eugen von Vaerst schreibt (1859) in seiner
»Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel«
über die Tomate:
»Dies ist eine Frucht, die wohl unmittelbar aus dem
Paradiese zu uns gekommen sein muß und die gewiß der
Apfel gewesen ist, den Paris der Venus bot, sehr
wahrscheinlich auch der, welchen die Schlange zur
Verlockung der Eva anwendete.«
Die Tomate
(Solanum Lycopersicum) wechselt Mitte
des 19. Jahrhunderts vom poetischen Paradiesapfel (heute
noch in Kakanien:
Paradeiser) oder Liebesapfel
(amoris poma, pomme d’amour) in Spanien auf das
indianische Lehnwort
tumatl über; die
Bezeichnung »Goldapfel« verschwindet zu Recht. Die
Entwicklung zur Grilltomate geschah wesentlich später,
obwohl die Tomate als Gewürz für Saucen, als»kühlender
Salat« und als Grundstoff für feine Suppen bereits Ende
des letzten Jahrhunderts verwendet wurde. In Deutschland
wurde die Tomate heimisch während des Ersten
Weltkrieges, als gelbe Tomaten aus Bulgarien als
Aufschnittersatz eingeführt wurden.
In »Merck’s Warenlexikon« von 1919 wird die Tomate
neben Liebesapfel auch unter Paradiesapfel und Pomodoro
aufgeführt. Seinerzeitige Bestandteile: 3,7% Fruchthaut,
10,9% Samen und zu 85,4% Fruchtmus (der wiederum rund
95% Wasser enthält).
Tomatenpflanzen bilden deutlich mehr Früchte, wenn der
Boden nicht mit schwarzer, sondern mit roter
Plastikfolie abgedeckt wird. Durch die stärkere
Reflexion von rotem Licht wird offenbar die
Photosynthese beschleunigt. Die Wissenschaftler im
amerikanischen St. Florence/South Carolina vermuten,
daß auch andere Pflanzen durch bestimmte Farben
stimuliert werden; diese Farbe müßte aber für jede
Pflanzenart neu ermittelt werden.
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7 Die Ureinwohner Amerikas starben an Krankheiten
,
die in Europa ernst aber nicht unbedingt tödlich
verliefen, wie Grippe, Scharlach, Diphtherie, Malaria,
Keuchhusten, Gelbfieber, Ruhr oder Pocken, insgesamt (so
hat der Historiker Russell Thornton gezählt)
dreiundneunzig Krankheiten.
Der Schriftsteller H. G. Wells schrieb 1897 die
Science-Fiction-Erzählung »Der Krieg der Welten«, in der
Marsianer die Erde angreifen; gegen die überlegenen
Waffen bleiben die Menschen machtlos. Im letzten Moment
retten irdische Bazillen, gegen welche die Invasoren
keine Abwehrkräfte besitzen, die Menschheit. Wells nahm
als Vorbild für diese Geschichte die Ausrottung der
Ureinwohner Amerikas.
Lopez de Gomara berichtet 1533 in seiner Geschichte der
Eroberung Mexikos über die eingeschleppten Blattern:
»Fast die Hälfte des Volkes fiel der Seuche zum Opfer,
besonders da diese Krankheit neu für sie war. Die aber
dieser grausamen Krankheit entkamen, waren durch
Geschwüre bis zur Unkenntlichkeit entstellt, zum Teil
infolge ihres unsinnigen Kratzens.«
Die spanischen Eroberer hatten (unbewußt) eine
»Bio-Waffe« eingesetzt.
Daß die eingeschleppten Krankheiten so schreckliche
Folgen für die indigene Bevölkerung hatten, soll daran
gelegen haben, daß die Einwohner genetisch sehr nahe
verwandt waren.
Mindestens einmal schenkten englische Soldaten aus
kriegstaktischen Gründen aufständischen Indianern
Kleidungsstücke, die »aus dem Hospital entnommen waren,
um die Pocken auf die Indianer zu übertragen« (so der
englische Kommandant des Fort Britts). Da soll man sich
heutzutage nicht mehr darüber wundern dürfen, daß auch
in der Taliban-Zeit das Rote Kreuz (IKRK) in Afghanistan
ein Forschungslabor betrieb, in dem Milzbranderreger
gezüchtet wurden.
Die bereits von den ersten Entdeckern mitgebrachte
(amerikanische Variante der) Syphilis durchquerte
innerhalb kürzester Zeit ganz Europa. Die Rache
Montezumas ist ‘was anderes. Die von den frühen Ärzten
entwickelte Quecksilbertherapie war brutal für die
Betroffenen, verhinderte aber nicht die Erkrankung, sie
nimmt nur eine mildere Form an.
Falls eine Ausrede benötigt wird: Nicht jede Form der
»Syphilis« wird durch Geschlechtsverkehr und dem
Erreger Treponema übertragen. Das Wort »Syphilis«
taucht erstmals 1530 in einem Gedicht auf, in dem ein
unglücklicher Schäfer namens Syphilus besungen wird,
der während einer großen Hitzewelle die Sonne
verflucht. Und zur Strafe schlugen die Götter ihn mit
dieser neuen Krankheit.
Die Matrosen der»Nina«, die es mit den
Eingeborenenfrauen – unangenehm, diese behaarten und
schmutzigen Europäer – trieben, brachten die
(amerikanische) Syphilis nicht mit. Aber was soll man
erwarten von dem gemeinen Mann, wenn selbst
hochgestellte und gebildete Leute des Wissens waren, daß
der Teufel nichts so sehr haßt wie menschlichen Kot und
»die Teufel einen sehr feinen Geruch haben und jede Art
von Gestank verabscheuen und ihm aus dem Weg gehen«.
Deshalb die Scheu vor Wasser; deshalb nur freitags in
die Badewanne – aus altchristlichen Motiven, nicht um
Wasser aus Umweltgründen zu sparen. Wer sündigt, will
wenigsten nicht vom Teufel noch belästigt werden.
Wahrscheinlicher ist, daß entweder die
verschleppten»Tainos« der zweiten Reise die Syphilis auf
die – ewig neugierigen – Frauen (die Majas) am
spanischen Hof übertrugen. Die Spanier brachten von der
Neuen Welt die Syphilis nach Europa, die 1493 in
Lissabon eine erste Epidemie auslöste.
Die Syphilis war eine im alten Amerika relativ harmlose
Erkrankung, da sich die amerikanischen Ureinwohner an
diese Bakterien über Jahrtausende gewöhnt hatte und
entsprechende Antikörper vorhanden waren. Eine zweite
Epidemie trat während der französisch-italienischen
Kriege Ende 1494 in Italien auf; der französische
Charles VIII. eroberte Neapel und deshalb wurde die
Krankheit als »Mal de Naple« bezeichnet
An der Syphilis starben Papst Alexander VI., König Franz
I. von Frankreich, Heinrich VIII., Ulrich von Hutten
(schrieb ein Traktat »Über die Gallische Krankheit«) und
etlich andere, die sich nicht an das von der Kirche
verhängte Keuschheitsgebot hielten. Der italienische
Arzt Girolamo Fracastoro belegt diese
Geschlechtskrankheit 1530 in einem Lehrgedicht
erstmals mit dem Namen Syphilis (im selben Jahr kamen
»sieben spanische Teufel« nach Italien).
Die Syphilis wurde auch politisch-religiös
ausgeschlachtet, denn solche Krankheiten träten nur in
»Verfallszeiten« auf; der deutsche Medizinhistoriker
Georg Sticker sprach deshalb passend zum Zeitgeist der
1920er Jahre von der »verseuchten Lebewelt Frankreichs«
(deshalb die »Französischen Pocken«) und vom
»schmutzigen Zigeunertum« .
Andere in Amerika regional stark verbreitete
Krankheitserreger wie die der Carrion-Krankheit oder
der Chagas-Krankheit konnten sich in Europa nicht
behaupten. Auch der im tropischen Amerika heimische
Sandfloh (von Oviedo y Valdés
niguas genannt),
der verstümmelte Zehen und tödlich verlaufende sekundäre
Tetanus-Infektionen hinterließ, wurde in Europa nicht
heimisch. In Afrika, dort 1872 eingeführt, hat er sich
zu einer endemischen Plage entwickelt. Umgekehrt
infizierten Pizarros Soldaten die Inkas mit den in
Europa relativ harmlosen Grippeviren und lösten damit
eine tödliche Epidemie aus; die Bevölkerung im
Inka-Reich sank durch Totschlag und Epidemien von rund
zwölf auf weniger als zwei Millionen.
Krankheiten führten auch in Australien zur drastischen
Verminderung der Einheimischen; als die Engländer 1788
das heutige Sydney gründeten, brach die erste von
mehreren Epidemien aus, denen viele Ureinwohner (engl.
Aborigine) zum Opfer fielen.
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8 In den damals üblichen Dienst-Verträgen wurde Nahrung
gesondert geregelt: Als zum Beispiel Graf Rochus zu
Lynar an die Zitadelle in Spandow (im 17. Jahrhundert)
berufen wird, wird festgelegt, daß er erhält als »Sr.
Churf. Gnaden bestalter General Oberster Artillerey
Zeug- und Baumeister« 250 Tonnen Bier, 2 Scheffel
Weizen, 12 Scheffel Roggen, 6 Fuder Wein, 6 Ochsen, 50
Hammel, 30 Kälber, 8 Zentner Hechte und 8 Zentner
Karpfen«.
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9 Konrad Gesner schreibt in seinem 1560 erschienenen
Buch »De hortis Germaniae« fünf Grundformen von Gärten
fest: die Nutzgärten, die Gärten mit Heilpflanzen, die
Mischgärten, die geschmackvollen Gärten (horti
elegantes) und die Luxus-Gärten (horti magnifici).
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10 476 Millionen Jahre alte fossile Sporen sind die
frühesten Spuren pflanzlicher Organismen auf dem
Festland. Nach neuesten Untersuchungen handelt es sich
um Lebermoose, die heute noch an feuchten Orten
gedeihen. Die Forschungen von Biologen an der
University of Indiana lassen den Schluß zu, daß
sämtliche heute existierenden Landpflanzen – also auch
unser Untersuchungsgegenstand – von diesen Lebermoosen
abstammen.
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11 Friedrich Freiherr von Hardenberg, ein Dichter der
deutschen Romantik, der sich Novalis nannte, suchte sein
Leben lang die Blaue Blume. Novalis (1772–1801) kam aus
Sachsen, Sohn eines Großgrundbesitzers mit Kartoffeln
im Garten, studierte (auch) in Freiberg (einem Gebiet
mit frühem Kartoffelanbau). Die blaue Blüte der
Kartoffel ist doch aber auch zu profan für die
Literaturwissenschaftler.
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12 Kartoffel heißt in mandarin »tu dou« (Aussprache ist
tiefer Ton – fallender Ton. »Tu« bedeutet in erster
Linie: Boden, Land, Gebiet, aber auch Erde, Staub, »Dou«
bedeutet: Bohne, Erbse, Hülsenfrucht. »Tu Dou« kann
also bedeuten »Erd-Erbse«
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13 In Berlin hielt sich der von Lehniner Mönchen
eingeführte Weinanbau bis 1740, als die strengen
Winterfröste die letzten fünfzig Weinberge (zum Beispiel
auf dem Gebiet der heutigen Charité, in der
Wollankstraße und in der Neuen Schönhauser Straße)
zerstörten, aber auch die Panscherei der Winzer sorgten
für den Niedergang.
Über den berlinischen Wein wurde gesagt: »Wenn man
davon een eenzijes Achtel über die Fahne jießt, so zieht
sich det janze Rejiment zusammen« – das war der
»Fahnen-Wein«. Über den »Schul-Wein« wurde gesagt:
»Diese Droppen sind ein sicheres Mittel, die nich
wißbejierigen Kinderkens in de Schule zu jagen, indem
man ihnen die Alternatiefe stellt, entweder ihre
Pflicht zu tun oder zu trinken.«
Vom Kreuzberg bis zum Südstern reichten die »Köllnischen
Weinberge«. Über den heutigen Kreuzberger Wein meint
ein englischer Wein-Probierer: »Very, very dry«. Die
Sorten hießen unter anderem »Schönedel«, »Rehfall« oder
»Schillernder Traminer«.
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14 Fernandez de Oviedo schreibt 1535 empört: »Neben noch
anderen schlimmen Bräuchen haben die Indianer eine
besonders schädliche Sitte. Sie atmen eine bestimmte
Sorte Rauch ein, den sie Tabak nennen, um einen Zustand
der Bewußtlosigkeit und des Rausches herbeizuführen ...
Sie saugen den Rauch ein, bis sie das Bewußtsein
verlieren und auf dem Boden hingestreckt liegen wie
Männer im Schlafe der Trunkenheit.« Die »Rauchaufsucht«
kam zuerst in Spanien, England und Holland auf. So wie
sich die Zahl der Liebhaber des Tabaks vermehrte,
erhöhte sich auch die Zahl der Gegner.
Während die Genießer von »Wunder-Confect«,
»fürnehmbstes Artzney-Kräutlein« und
»Erfrölichungs-Kraut« sprachen, verteufelten die
Gegner den Tabak als Höllenkraut, dessen Herkunft aus
der Hölle am Gestank zu erkennen sei. Nach Deutschland
kam die Sucht erst mit englischen Soldaten, die Anfang
der 1620er Jahre nach Böhmen zogen. Es kamen neue
Berufe: »Tabackskremer« und »Tabakisten«, Das Verb
»rauchen« für den Tabakgenuß kam erst gegen Ende des 17.
Jahrhunderts auf.
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15 Im 18. Jahrhundert wurde Wein auch dadurch veredelt,
daß er in Eichenfässer nach Übersee (und zurück)
transportiert wurde, weil man dem Schlingern auf See
eine günstige Wirkung auf die Qualität des Weines zumaß.
Ein Versuch, im 20. Jahrhundert, diesen überlieferten
Effekt mit Motorbooten zu erreichen, scheiterte. Der
schnelle Transport auf Containerschiffen wühlt den Wein
so stark auf, daß er sich erst Monate im Keller
beruhigen muß, bevor man ihn wieder trinken kann (sagen
die Gourmets), ohne daß die Qualität gesteigert wird.
»Linie Aquavit«, aber das ist bekanntlich kein Wein,
wirbt damit, daß das Lebenswasser über den Äquator
geschippert wird und erst dann in Flaschen abgefüllt
wird.
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16 1998 erhält Helmut Kohl die Ehrendoktorwürde der
Universität Cambridge und der Kanzler der Universität,
Prinz Philip, würdigt u.a. Kohls Kennerschaft englischer
Weine – das hat doch was? Ein Racheakt für den
aufgetischten pfälzischen Saumagens.
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17 Um 1225 zogen zum Beispiel etwa 50.000 seldschukische
Türken, gedrängt von den Mongolen, von Nordostpersien
nach Westen und gründeten unter Suleiman dem Prächtigen
die Keimzelle des osmanischen Reiches. Diemongolische
Yüan-Dynastie wird 1368 aus Peking vertrieben, da der
vernachlässigte Ackerbau und insbesondere die
unterlassene Instandhaltung der Bewässerungsanlagen zu
periodischen Hungersnöten und sozialen Unruhen führten
und die chinesischen Kleinbauern bei dieser
Mißwirtschaft die Reisschüssel nicht mehr gefüllt
bekamen. Es ging um Nahrung.
Im Brockhaus von 1843 werden die Mongolen als »offen,
mäßig, gastfrei, mild und friedfertig, aber auch träge,
schmutzig und dummstolz« bezeichnet. Neben Faulheit und
Neugierde wird Feigheit als Charakteristikum genannt.
Die Frauen seien »wirtschaftlich, aber moralisch
haltlos«.
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18 Ende des 12. Jahrhunderts war der Höhepunkt einer
Warmphase, in der die Winter etwa 0,7 Grad wärmer waren
als Mitte des 20. Jahrhunderts:
»1186/1187 war der Winter so warm, daß im Dezember und
im Januar viele Bäume blühten. Im Februar hatten die
Birnen schon die Größe einer Nuß erreicht«
schrieb (vermutlich) Friedrich von St. Thomas, Pfarrer
in Straßburg. Die Jahre 1473 und 1540 gelten als die
wärmsten Jahre des zweiten Jahrtausend.
1540 ging ein regnerischer Winter in ein zunehmend
heißer werdendes Frühjahr über. Anfang März, fünf Wochen
zu früh, blühten in Basel die Kirschbäume, drei Wochen
früher war der Wein reif, Anfang Juli kamen die ersten
Trauben zur Ernte und das Getreide in die Scheuer. Am
30. Juni war der letzte Regen – für neun lange Wochen,
in denen die Brunnen versiegten und das Vieh
verdurstete, Selbst die in Frankfurt im Herbst
angesetzte Notprozession brachte keine Erlösung. Nur
vier Jahre später, 1544, litt Europa unter einer der
kältesten Frühlingsperioden des Jahrtausends, alle
Alpenseen (und der Bodensee) waren zugefroren.
Die Sonne strahlte im 16. Jahrhundert etwa 0,25 Prozent
schwächer als heute, die heute üblichen Sonnenflecken
fehlten. Neuere Untersuchungen ergaben, daß in den
letzten 32.000 Jahren in regelmäßigen Abständen von
1500 Jahren Kälteeinbrüche stattfanden. Die Winter im
18. Jahrhundert waren so kalt, daß die Themse zufror,
die Eskimos nach Schottland kamen und die Eisbären auf
Schollen nach Island trieben. In dieser «Kleinen
Eiszeit« gipfelte die »Hexen«-Verfolgung.
Immer wieder kam es zu Kälteperioden, so daß Tausende
auf der Suche nach Nahrung durchs Land plünderten oder
versuchten, Jerusalem zu erobern. 1300 stürzten die
Wintertemperaturen um etwa zehn Grad gegenüber der
»Mittelalterlichen Warmzeit«. Erst um 1900 endete die
»Kleine Eiszeit«, die nicht den Charakter einer
einheitlichen Kaltzeit trug, sondern zwischen kalten und
feuchten Phasen schoben sich immer wieder wärmere
Abschnitte ein. Das war das richtige Klima für den Anbau
einer neuen Frucht. Im übrigen: Wenn die Menschheit
nicht diesen stark schwankenden Temperaturen unterworfen
gewesen wären, säßen »wir« als Primaten immer noch im
Wald und würden selbstzufrieden bittere Blätter und süße
Früchte kauen.
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19 Der rumänische Diktator Nicolaie Ceausescu ließ
regelmäßig die Wetterberichte korrigieren nach dem
Motto »Wenn die Wetterkarte keinen Frost vorhersagt,
kann man auch nicht frieren.«
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20 Die Mutterkornvergiftung, auch »St. Anthony’s Fire«
(weil die Kranken dem heiligen Antonius anvertraut
wurden) genannt, war eine der schrecklichsten
Krankheiten; sie rief Mehltau (Claviceps purpurea)
hervor, der die Roggenkörner bei einer feuchten Ernte
schwarz werden ließ. Selbst ein geringer Anteil dieses
vergifteten und zu Brot verbackenen Korns löst die
Krankheit aus. Im Verlauf von Epidemien litten ganze
Dörfer an Krämpfen, Halluzinationen und an
Gewebsnekrose, die zu einer tödlich verlaufenden Fäulnis
der Glieder führte. Vor allem im 10. und 11. Jahrhundert
wird Europa von durch den im Mutterkornpilz enthaltenen
wirksamen Bestandteil Ergotin hervorgerufenen
Ergotismus-Epidemien, der sogenannten
Kriebelkrankheit, geplagt (Rückenmark- und
Gehirnerkrankung, Ergotismus convulsivus mit Krämpfen,
Ergotismus gangraenosus mit Brand der Finger oder
Zehen).
Erst um 1600 kamen Gelehrte wie Adam Lonicerus und
Caspar Schwenckfelt der Krankheitsursache näher. Schon
die Römer wußten, daß man die schwarzen Körner nicht
ausmahlen und essen durfte; kam es vor, daß spielende
Kinder diese vergifteten Körner aßen und daran starben,
hieß es, daß die »Roggenmuhme«, eine ausgezehrte Alte
mit schwarzen Brüsten und schwarzem Haar, geholt habe.
Roggen, aus einem orientalischem Wildkraut
hervorgegangen, verbreitete sich in Mitteleuropa, als
sich beim Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit (etwa
600 v. Chr.) die Temperaturen abkühlten und die
Niederschläge zunahmen.
Die »Hexen« wußten, daß das Gift des Mutterkorns zur
Zusammenziehung der Gebärmutter führt und gaben
Mutterkorn, wenn sie eine Abtreibung herbeiführen
wollten. Heute werden in den USA jährlich über eine
halbe Million Kilogramm Mutterkorn eingesammelt, weil
die in ihm enthaltenen Alkaloide für bestimmte
Medikamente unentbehrlich sind.
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21 England war im 13. und 14. Jahrhundert der führende
Wolle-Exporteur nach Flandern und Italien, den
Hauptzentren der europäischen Textil-Industrie;
englische Wolle galt als die beste. Bekanntlich sitzt
(oder besser: lagert) seit jenen Zeiten der Lordkanzler
im Oberhaus auf einen Wollsack, um die Bedeutung der
Wolle für Englands Reichtum zu dokumentieren. Die
Schafzucht verdrängte den Ackerbau, die Spezialisierung
führte zu einer Proletarisierung der Bauern und zur
Flucht in die Städte, was wiederum Voraussetzung für
die Ausweitung der Textilindustrie war. Aufgrund einer
Krise der diesen Fernhandel finanzierenden italienischen
Banken im Gefolge der Pest verlegte sich England
darauf, die produzierte Wolle im eigenen Lande
weiterzuverarbeiten.
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22 »Zweiundvierzig« ist bekanntlich der Sinn des Lebens
wie »Deep Thought« nach 7,5 Millionen Jahren Rechenzeit
verkündet; denn dreimal 14 Vorfahren nennt Matthäus (und
unterschlägt hierbei drei).
Ein kleiner Ausflug zur Lebenserwartung: Die
Sterblichkeit in Agrargesellschaften ist höher als in
Jäger- oder Sammlergemeinschaften; der wichtigste Grund
hierfür ist die erhöhte Bevölkerungsdichte, wodurch die
kritische Masse erreicht wird, die parasitäre
Mikroorganismen benötigen, um dauerhaft in einer
Population zu überleben. Auch die Geburtenrate ist in
Agrargesellschaften höher; das seßhafte Leben erlaubt
es, die Intervalle zwischen den einzelnen Geburten zu
verkürzen, was wiederum die Fruchtbarkeit pro Frau
erhöht. Seßhaftigkeit bedeutet, daß man das Kind nicht
mit sich tragen muß und zugleich in einem sehr frühen
Lebensalter stärker für Aufgaben herangezogen werden
können, so daß sie keine ökonomische Belastung
darstellen. In Agrargesellschaften steht außerdem
gekochter Brei und (vielfach) Milch zur Verfügung, was
die Stillzeit herabsetzt.
Die Nahrungsbasis von Agrargesellschaften ist schmaler
und anfälliger als in Jägergesellschaften. Ein schon
fast klassischer Beleg ist die irische Hungersnot in der
Mitte des 19. Jahrhundert (einen Gegenbeweis können die
Maoris und andere Menschenfressergesellschaften liefern,
die sich ihre Nahrung im Nachbardorf holten).
Agrargesellschaften sind abhängiger von
Wetterbedingungen und von Schädlingsbefall. Auch
gewaltsame Auseinandersetzungen (Krieg) dezimieren
direkt die agrarische Bevölkerung stärker, abgesehen von
der mittelfristigen Wirkung von kriegsbedingten
Mißernten. Dennoch: Die Bevölkerung wuchs von
geschätzten vier Millionen vor 10.000 Jahren auf rund
500 Millionen vor Beginn der Industrialisierung.
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23 Auf Knochenfunde gestützt betrug die
durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes im
Paläolithikum – da tauchten die Prä-Neandertaler auf –
etwa 45 Jahre und die der Frau etwa 30 Jahre. Da die
Gene sich immer noch an dieser Lebenserwartung
ausrichten, ist es erklärbar, wenn nach diesem Alter
die Jugendlichkeit abnimmt und das Ersatzteillager zu.
Von den Neandertalern stammen die heutigen Menschen
nicht ab.
Nach neueren Untersuchungen an der Universität
Bradford/Großbritannien ist nicht auszuschließen, daß
die bisherigen Lebensdauerbestimmungen jedoch zu
niedrig angesetzt sind, weil sich das bisherige
Verfahren auf zu wenig gesicherte Daten stützt. Frauen
werden mindestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts älter
als Männer, weil zum Beispiel Mädchen seltener den
Kindstod sterben und Buben häufiger als Madeln bei
Unfällen umkommen. Und: Die Mehrfachbelastung von
»Kinder, Küche, Karriere (= Beruf)« ist möglicherweise
gesundheitsfördernd neben dem geringeren Alkoholkonsum,
der ausgewogeneren Ernährung und der stärkeren
Aufmerksamkeit der eigenen Gesundheit gegenüber.
Simone de Beauvoir in »La force de l’âge«:
»Infolge der schweren Arbeit, der Unterernährung, der
schlechten Gesundheitspflege nutzte man sich sehr rasch
ab. Bäuerinnen waren mit 30 Jahren alte Frauen, runzlig
und gebeugt ... Selbst Könige, Adlige, Bürger starben
zwischen 48 und 56 Jahren. In das öffentliche Leben trat
man mit 17 oder 18 Jahren ein, die Beförderungen
erfolgten früh. Vierzigjährige hielt man schon für
Grauköpfe. ... Mit 50 Jahren hatte man keinen Platz mehr
in der Gesellschaft.«
Arno Borst schreibt: »Man darf annehmen, daß im
Mittelalter ... die Hälfte der Gesamtbevölkerung jünger
als 20 Jahre war; graues Haar war kostbar.« Und heute?
Heute wird man mit 54 Jahren »vorpensioniert«.
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24 Georg Lasson (1897): »Aber der schrecklichste der
Schrecken ist die Wissenschaftlichkeit der Weiber.«
Der Prophet Daniel: »Die Gewalt über die Königreiche
wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden.«
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25 Man möge bedenken, daß der Abfall von Rom erhebliche
wirtschaftliche Folgen in Italien nach sich zog, da die
Pilgerströme sich drastisch verringerten. Buttergenuß
war übrigens während der Fastenzeit verboten; die
Alternativen? Italienisches Olivenöl! Vielleicht haben
sich schon damals die Italiener angewöhnt, nur das
minderwertige Olivenöl über die Alpen zu schaffen, denn
noch im 15. Jahrhundert gab es in England eine Redensart
»as brown as oil«:
Angeblich träumte den Nordeuropäer von einem geruchs-,
farb- und geschmacklosem Öl, weil das, was sie bekamen,
trübe, herb oder sauer war. Die zweite Möglichkeit war
die Entrichtung einer flugs eingeführten Buttersteuer
(siehe Tour de Beurre in Rouen). Gerade zur Fastenzeit
breiteten sich manche durch Läuse übertragenen
Krankheiten epidemisch aus, denn nun fehlte auch die
Butter, die man sich ins Haar schmierte und welche die
Läuse fernhielt.
Umgekehrt machten sich die Protestanten Sorgen, falls
Italien vom katholischen Glauben abfallen würde.
Alexandre Dumas fabulierte im »Le grand dictionnaire de
cuisine«, 1873 über ein (angebliches) Gespräch zweier
Londoner Kaufleute: »Wären Sie denn traurig, die Schar
der guten Protestanten vergrößert zu sehen« »Nein«,
antwortete der andere, »aber was machen wir mit unserem
Hering, wenn es keine Katholiken mehr gibt?«
Ist das die einfache Erklärung über den Niedergang der
Cuxhavener Fischindustrie? Die Kirchenaustritte in der
Bundesrepublik? Oder liegt es an den Subventionen für
»Daukos« von Fischfabriken auf Rügen?
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26 Detaillierte Informationen zur »Klimageschichte
Mitteleuropas« sind zu finden in Rüdiger Glasers
gleichlautendem Buch.
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27 Damals kämpften Hamster, Ratten und Mäuse auf der
einen Seite und der Mensch auf der anderen Seite um
das gemeinsame Essen, um die Körner vom Felde: Den
größten Teil der Ernte fraßen die Nager – auf dem Feld
oder im ungesicherten Vorratsverschlag. Getreide wurde
zermahlen mit den anderen Kräutern des Feldes und war
dadurch minderwertig. Was die Ratten nicht mochten,
fraßen die Schnecken (Gemüse) und die Vögel (Obst) und
das Wild aus dem Wald. Und: Heutzutage legt ein Huhn
mehr als 200 Eier im Jahr – damals und bis in die
Neuzeit hinein nur etwa 50–60 Eier. Heute gibt eine
»normale« Kuh etwa 7000 Liter im Jahr, noch vor
wenigen Jahrzehnten waren es weniger als 2000 Liter.