Kaltes Klima in Europa - Hungersnot ohne
                  Ende ohne Kartoffel
                
                Über die Verbreitung der Kartoffel in Europa sind die
                geschichtlichen Daten teils lückenhaft, teils
                zweifelhaft, so daß man bei einzelnen Phasen
                hinsichtlich Zeitpunkt, Orte und Beteiligte nur von
                Vermutungen ausgehen kann. 
                
                Einer der Gründe hierfür ist die Bezeichnung »papa«
                oder »batate« oder Topinambur für die selbe, aber auch
                für gleiche Pflanzen: Mehr als zwölfhundert
                unterschiedliche Bezeichnungen für die Kartoffel konnten
                zusammengetragen werden. Die Kartoffel war (noch)
                unwichtig, also wurde
 auch nicht
                sorgsam für spätere Geschichtsschreiber dokumentiert.
                Wichtiger aufzuschreiben (und zu drucken) war die
                Heilsgeschichte und die genealogische Verflechtung des 
Adels.
                
                Eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der
                Kartoffel in Europa sind die Unterlagen über die
 Auseinandersetzungen zwischen Pächtern
                und Steuereintreibern (Voltaire und Diderot meinten,
                diese seien »Menschenfresser«) oder zwischen den Bauern
                und der Kirche über den 
Zehnten.
                
                Ein erstes Dokument dieser Art ist die Verordnung von
                Kaiser Karl V. (Carlos I. von Spanien, 1500–1558) vom 1.
                Oktober 1520, in der festgelegt wird, daß kein Zehnter
                erhoben werden soll von den neuen Pflanzen. Dabei hatte
                der Kaiser jede Einnahme bitter nötig, mußte er doch den
                deutschen Kurfürsten seine Wahl zum deutschen Kaiser
                teuer bezahlen. Es war ganz schön fortschrittlich vom
                fünften Karl, mit gezielten Subventionen oder
                Steuerbefreiungen die aus der Neuen Welt kommenden
                Innovationen schnell voranzubringen. Es ist klar, daß
                dieses von den örtlichen Steuererhebern anders gesehen
                und auch anders gehandhabt wurde. Je stärker der Anbau
                von Tabak, Mais und insbesondere Kartoffel zunahm,
                desto häufiger wurden auch die Zänkereien über den
                Zehnten. 
                
                In manchen Fällen stritt man sich mehrere Jahrzehnte
                nach dem erstmaligen Anbau der Kartoffel, bis eine
                Steuer oder der Zehnte erhoben wurde. Selbst das
                Reichskammergericht mußte sich mit den örtlichen
                Streitereien um den Kartoffelzehnten befassen.
                
                Eugen von Rodiczky
, Ende des 19. Jahrhunderts
                Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie in
                Ungarisch-Altenburg, in seiner »Biographie der
                Kartoffel«:
                
                
                  «Der Mais unternahm, als überall gern gesehener
                  Eroberer, einen solennen, einen festlichen Triumphzug
                  durch Europas Gefilde, der Tabak nahm, trotz
                  fürstlicher Verbote und päpstlicher Bannstrahlen, mit
                  eiserner Konsequenz Besitz von unseren
                  Geschmacksorganen, die Kartoffel hingegen konnte sich
                  nur mühselig Bahn brechen, nur Schritt für Schritt
                  vordringen.« 
                  
                
                Nun,
 der Professor irrte – zum Teil.
                Denn wie die Kartoffel wurde der Mais (»Indianergold«)
                zuerst in den 
Hausgärten angebaut,
                nicht nur, weil diese zehntfrei waren, sondern weil man
                auf dem Feld nicht von den herkömmlichen Getreidearten
                abkehren wollte. Mais wurde als Futterpflanze verwendet
                und auf sonst brachliegenden Böden angebaut. Wie die
                Kartoffel wird er in den damaligen landwirtschaftlichen
                Dokumenten nur selten erwähnt, nicht einmal in eine
                Verbindung zu »ehelichen wercken« wurde er gebracht.
                Das »welsche Korn« machte seine europäische Karriere wie
                die Kartoffel, heimlich, versteckt im Nutzgarten, mit
                dem Namen Hirse oder einem anderen üblichen
                Getreidenamen oder als Ackerbohne bezeichnet. 
                
                In der ganzen Menschheitsgeschichte waren Pflanzen die
                fast einzige Quelle für die Gewinnung von Medikamenten;
                die Mehrzahl der Botaniker (Philip von Zesen nennt sie
                »Krautbeschreiber«) waren von Ausbildung und Profession
                Apotheker und Ärzte. Apotheker verkauften die Gewürze an
                die Köche der Herrschaft, Ärzte wiesen auf die
                medizinische Bedeutung von Gewürzen hin, beide waren
                stets an neuen Ingredienzien für die Nahrung
                interessiert, Apotheker stellten Elixiere und andere
                Heilmittel her, vertrieben als »Bückware« die
                Pülverchen, die der Herr für die »ehelichen wercke«
                benötigte. Da kam die Kartoffel grad recht. Damals – zur
                Erinnerung – waren alle Kartoffeln wesentlich kleiner
                als die heutigen Normalgrößen, nußgroß. Wenn man heute
                (lange vor der regulären Ernte) mit den Händen nach
                Kartoffeln gräbt, so wird man feststellen, daß sie – wie
                die Botaniker sagen – »testikular«, hodenförmig ist.
                
                Das Wissen der Ärzte und Apotheker dokumentierten sie
                vielfach in mit teilweise farbigen Holzschnitten
                illustrierten Kräuterbüchern. Ende des 17. Jahrhunderts
                waren mehr als zwanzigtausend Pflanzen katalogisiert.
                Das war in der Naturwissenschaft ein Quantensprung,
                denn bis dahin wurden nur vorhandenen Bücher immer
                wieder und wieder abgeschrieben, teilweise ergänzt um
                lokale Pflanzen. Kräuterbücher changierten zwischen
                exakten Beobachtungen und dem Glauben an Zauberei. 
                
                 
                
                1560 beginnt Konrad Gesner (1516–1560) aus, das Wissen
                der Welt zu 
aktualisieren. Da
                halfen ihm die Informationen der Flüchtlinge aus
                Konstantinopel und der mit arabischer Kultur und
                Wissen vertrauten spanisch-jüdischen Flüchtlinge bei
                seiner »Historia Animalium«. 
                
                Mit d
er Entdeckung Amerikas kam ein
                neuer exotischer Einschlag dazu: Die aus der Neuen Welt
                stammenden Pflanzen (und Tiere) wie Bohnen, Mais, Tabak,
                Kartoffel, 
Ananas, 
Tomate
                und Kautschuk waren Gegenstand gelehrter
                Untersuchungen. Eine der frühesten Beschreibungen der
                nicht-europäischen Tier- und Pflanzenwelt stammt
                von Gonzalo Francisco de Oviedo y Valdés, der nach
                langer Verwaltungstätigkeit in den neuen spanischen
                Kolonien eine Naturgeschichte»Westindiens« anfertigte
                und 1553 in Spanien veröffentlichte, wobei er nicht
                vergaß, von den magischen indianischen Zauberkräften zu
                berichten (das machte schließlich die eigenen
                Anstrengungen gefährlicher!), die Menschen in Tiere
                verwandeln konnten. 
                
                Der Engländer Redcliffe N. Salaman, der die Geschichte
                der Kartoffel eingehend erforscht hat und 1949 »The
                History and Social Influence of the Potato« (mit
                Schwerpunkt auf den britischen Inseln) veröffentlichte,
                kann andererseits nachweisen, daß in den englischen
                Pflanzenbüchern vonNicolas Monardes (zwischen 1569 und
                1571) und beiWilliam Turner (1551 und 1562) weder die
                Kartoffel noch die Batate erwähnt wird. 
                
                Soweit
 aus den Berichten über die
                Reisen desColumbusund seinem Bordbuch erkennbar ist,
                brachte er von seiner ersten Reise weder die Kartoffel
                (weil aus Chile!) noch die 
Syphilis
                mit, aber etwa zehn Bewohner der Inseln. 
                
                Von der ersten Amerika-Fahrt nach Europa zurück kamen –
                mehr als Kuriosum, als »Warenmuster« – auch die
                Süßkartoffeln nach Spanien. In Anbetracht der immer
                wiederkehrenden Hungersnöte aufgrund
                witterungsbedingter Mißernten von Weizen und
                Gerste, die wichtigsten und vielfach einzigen
                Feldfrüchte, nahmen schon die Matrosen auf den Schiffen
                des Columbus’ Kartoffeln, Batates, mit: Alles was
                irgendeinen Wert hatte oder haben konnte, wurde nach
                Europa verschleppt, Edelmetalle waren der
                Mannschaftnicht zugestanden, also nahmen sie – auch
                weil das Volk praktischer veranlagt war – von den
                neuentdeckten Inseln die Dinge mit, welche die
                »behüteten« Herrschaften nicht haben wollten. Zur Wende
                vom 15. zum 16. Jahrhundert (und noch bis weit ins 19.
                Jahrhundert) drehte sich alles ums Essen. »Die
                raffinierten Tafelfreuden feingebildeter Menschen sind
                nur selten ihrer Gesundheit abträglich.«
                
                In den Volksmärchen der bäuerlichen Welt erhält der
                siegreiche Held nicht unbedingt die Hand der 
holden Prinzessin oder einen Batzen
                Gold als Belohnung für die Drachentötung, sondern ein
                reichliches und gutes 
Essen. 
                
                 
                
                Schon Mitte des 16. Jahrhunderts wird die Batate als
                Schiffsproviant (neben jungen Fohlen, die man lange
                braten mußte, bis sie schmecken) auf spanischen Schiffen
                mitgeführt. Auch englische und französische Schiffe
                nehmen zunehmend Bataten und Kartoffeln an Bord. 1623
                kapert ein französischer Segler vor Neufundland ein
                englisches Schiff und findet an Bord ein Faß
                mit»Bataten«, die wie dicke Rüben aussehen, aber
                unvergleichlich besser geschmeckt haben. 
                
                Die neue Knollenpflanze – wir sprechen noch von der
                Batate – wurde im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht
                großflächig angebaut; in Italien, wohin diese
                »Kartoffel« durch die spanischen Verbindungen rasch
                gelangte, erkannte man schnell (gezwungen durch die
                größere Bevölke
rungsdichte und der
                damit einhergehenden Unterernährung) den Nutzen der
                neuen Pflanze und baute sie in 
Gärten
                und auf kleinen Äckern dementsprechend an. Angeblich
                habe Columbus veranlaßt, daß an der spanischen
                Südwestküste, bei Huelva, Palos und Bayona, Bataten
                angepflanzt worden seien; 1505 soll sich bereits ein
                Handel mit Bataten nach England entwickelt haben.
                Schiffe nach Amerika nahmen entweder in Spanien oder
                erst auf den Kanaren die »batate hispaniorum« an Bord. 
                
                 
                
                Dieses Buch behandelt die Geschichte der Kartoffel.
                Deshalb ist es sicherlich hilfreich, am Anfang 
diese Nahrungspflanze zu beschreiben,
                zuzuordnen und ihre pflanzlichen Verwandten zu 
nennen.
                
                Die Kartoffel (
Solanum tuberosum esc.) ist eine
                Staude mit meist unterbrochenen Blättern; die
                Fiederblättchen sind abwechselnd groß und klein bis sehr
                klein mit einer eiförmig zugespitzten bis herzförmigen
                Form. Beim Betrachten der Kartoffel sieht man an einem
                Ende etwas vertieft einen kleinen Ansatz; es ist das
                Nabelende, entgegengesetzt liegt das Kronenende, um
                welche die Augen enger gedrängt angeordnet sind. 
                
                Der 
Blütenstand besteht
                normalerweise aus zwei Wickeln; die Blüten tragen eine
                radförmig ausgebreitete fünfzählige Blumenkrone, die
                weiß, rosa, violett oder 
blau ist.
                Die eigenartig verwachsenen Blüten duften süßlich. Die
                Staubbeutel der fünf Staubblätter stehen kegelförmig um
                den Griffel herum; die Öffnung der Staubbeutel erfolgt
                durch Poren an der Spitze. Aus dem Kegel ragt oben der
                Griffel mit der kopfigen Narbe heraus. Der Fruchtknoten
                setzt sich aus zwei verwachsenen Fruchtblättern
                zusammen, die schräg in der Blüte stehen. Er entwickelt
                sich zu einer Beere, die auch im reifen Zustand grün
                bleibt. 
                
                Die der vegetativen Vermehrung dienenden Knollen
                entstehen an unterirdischen Sprossen, den Stolonen,
                nicht an den Wurzeln. Das, was wir üblicherweise als 
Kartoffel
                bezeichnen und auf den Tisch bringen, sind auslaufende
                Verdickungen unterirdisch wachsender Stengel
                (Stolone); diese Stolone entspringen in den »Achseln«
                der Niederblätter, so daß die Kartoffel eine
                »Sproßknolle« ist. An den Abbruchstellen oder Narben
                dieser Niederblätter bilden sich die sogenannten Augen
                (Achselknospen). Bei früheren Sorten in Deutschland und
                bei den ursprünglichen südamerikanischen Sorten waren
                diese Augen deutlich erkennbare Vertiefungen, die einem
                menschlichem Auge ähnelten. 
                
                Forscher an der Universität von Wisconsin entdeckten
                1999 bei den Kartoffeln Signalmoleküle, die den Pflanzen
                bei der Orientierung an der Schwerkraft helfen. Der
                Keimling wächst aus dem Samenkorn immer mit der Wurzel
                nach unten und dem Sproß nach oben, wobei beide Teile
                der Pflanze die Richtung der Erdanziehung feststellen
                können. In der Wurzelspitze bewegen sich die
                Stärkekörner zum Erdmittelpunkt, wo sich (so Francisco
                Ribera) die Hölle befindet, »eine deutsche Meile im
                Durchmesser, ganz aus Feuer und Schwefel, die bis zu 800
                Milliarden Leiber von Verdammten fassen könnte (je sechs
                Quadratfuß)«. Die Signalmoleküle scheinen durch
                Eiweißmoleküle übermittelt zu werden. 
                
                Die Vegetationsdauer der Kartoffel ist stark
                sortenbezogen und beträgt zwischen neunzig und mehr
                als einhundertundfünfzig Tagen. 
                
                Die Kartoffel gehört zu den Nachtschattengewächse (
Solanaceae),
                die wiederum gehören zur Familie der Röhrenblütler und
                umfassen rund 2300 Arten in 85 Gattungen, vorwiegend in
                den Tropen und Subtropen und in Amerika (mit fast 40
                Gattungen). Für medizinische Zwecke werden aus der
                Nachtschatten-Familie Alraunwurzel, Bilsenkraut,
                Stechapfel, Tollkirsche und Tollkraut, für Nahrungs- und
                Genußzwecke Tabak, Kartoffel, Tomate und Auberginen
                genutzt. Darüber hinaus werden etliche Arten für
                Zierzwecke gepflanzt.
                
                Zur Kartoffel gehören acht Kulturarten und
                einhundertsechzig Wildpflanzen. Zu jeder
                Kultur-Pflanzenart gehören eine oder mehrere nah
                verwandte, korrespondierende Wildformen, die
                innerhalb oder außerhalb der Kulturpflanzenbestände
                vorkommen. »Unkraut«-formen gibt es auch von der
                Kartoffel. Zwischen den jeweiligen Wildkrautformen und
                den Kulturpflanzen besteht freie Kreuzbarkeit, da sie
                von gemeinsamen Vorfahren ausgehen. 
                
                Die in Europa üblicherweise angebaute Kultur-Kartoffel
                gehört zur Art
 Solanum tuberosum subspecie tuberosum
                (aus Süd-Chile bzw. der Insel Chiloë) oder zur
                  subspecie andigena (aus den peruanischen Anden)
                so die formelle Einordnung. Der schon erwähnte Heinz
                Brücher weist nach, daß die ursprüngliche Kartoffel
                mitnichten von der Insel Chiloë, ja nicht einmal aus
                Chile, stammt. Diese These sei, so Brücher, in den
                1920er Jahren von sowjetischen Wissenschaftlern unter
                Vavilov in Umlauf gebracht worden, um den Nationalstolz
                der Chilenen zu nähren. 
                
                Charles Darwin schreibt Ende Juni 1834 anläßlich eines
                Besuches der Hauptstadt von Chiloé, Castro in sein
                Notizbuch:
                
                
                  »Jetzt ein einsamer und verödeter Ort ... die Straßen
                  und die Plaza waren aber mit schönem grünen Rasen
                  überzogen, auf welchem Schafe weideten ... kein
                  einziges Individuum besaß weder eine Uhr noch eine
                  Wanduhr; und ein alter Mann, von dem man meinte, er
                  habe eine ordentliche Idee von Zeit, war dazu
                  angestellt, nach Erraten die Kirchenglocke zu
                  schlagen.«
                  
                
                Die Einwohner seien zu drei Viertel indianischer
                Abstammung und hätten gut zu essen, aber an Tabak
                mangele es ihnen.
                
                Richtig sei vielmehr, daß die Kartoffel aus den
                peruanischen Anden stammt, Chile und die Insel Chiloé
                seien eine Zwischenstation für die andinische
                Kartoffel gewesen (die Insel Chiloé war der letzte Hafen
                auf der Rückreise der Spanier nach Europa). Chile sei
                sogar mit nur einer Spezies (
Solanum maglia MOL.)von
                insgesamt 230 Wildkartoffelsorten von Nebraska bis
                Patagonien besonders arm an knollenbildenden Arten.
                Neben fehlender gen-technischer Übereinstimmung der
                chilenischen Kartoffel mit der heute verbreiteten
                Art weist Brücher außerdem daraufhin, daß bereits
                Charles Darwin mit seinem Forschungsschiff »Beagle«
                (1832/1837) in der angeblichen Kartoffelheimat keine
                ackerbauenden Einwohner vorfand. Auch die von den
                Huiliche abstammenden Chiloten der Pazifikküste
                weisen nur geringe Leistungen im Ackerbau auf und
                widmen sich vorwiegend dem Mollusken- und Seetang
                sammeln. 
                
                Die »solanum tuberosum andigenum« aus dem
                nördlichen Andengebiet ist meist rotschalig, mit
                hellem Fleisch; die Blüte ist dunkelblau oder
                rotviolett. Die »solanum tuberosum tuberosum« hat
                gelbes Fleisch; die Blüten sind hellviolett oder weiß.
                Diese Kartoffelsorte ist für den Anbau in Mitteleuropa
                besser geeignet, da ihre chilenische Heimat mehr den
                klimatischen Verhältnissen in Europa entspricht.
                
                Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Pollan
                schreibt in »Die Botanik der Begierde«, daß jede
                Kartoffel »in ihrer DNS eine Abhandlung über unsere
                industrielle Nahrungskette zu stehen [hätte] – sowie
                über unseren Appetit auf lange, makellos goldgelbe
                Pommes frites«. Nun, Pollan meint, daß Pflanzen den
                Menschen manipulieren würden, so wie sie die Bienen mit
                Formen, Blüten und Duft beeinflussen würden. Es sei
                daher auch nicht verwunderlich, daß bestimmte
                Kartoffelsorten den Menschen dazu bringen würden, sie
                auf seinen Acker zu pflanzen. Unbeantwortet bleibt
                leider in dem Buch, ob die Kartoffeln schon von Monsanto
                und ähnlichen Gen-Technikfirmen gehört hätten.
                
                 
                
                Die Kartoffel breitete sich nur langsam in Europa aus;
                asiatische und islamische Länder lehnten sie sogar
                weitgehend bis in unser Jahrhundert hineinreichend ab.
                Die US-amerikanischen »Black Muslim«, heute als »Nation
                of Islam« bekannt, haben in ihren Speisengeboten und
                -verboten mehr als ein Dutzend Gemüsesorten aufgeführt –
                darunter die Kartoffel –, die als ehemalige
                Sklavennahrung von ihren Anhängern nicht gegessen werden
                darf. Friedrich von Gagern beschreibt in »Das nackte
                Leben« ein Mädchen der Rif-Kabylen: 
                
                
                  »Adel ist alles, ... und dieser junge, innerlich reine
                  Leib« hatte nie eine Kartoffel berührt.« 
                  
                
                Wie sollte sie auch, wenn die Kartoffel in Nordafrika
                unbekannt war. Auch für den Islam gilt, daß das Alte
                Testament die Kartoffel nicht erwähnt und sie deshalb
                ein»gottloses« Gemüse ist. Aber: Die islamische
                Geschichte ist ein gutes Beispiel, zu studieren, wie ein
                Kulturvolk herabsinkt, wenn die Kartoffel verweigert
                wird. In Westeuropa sinkt zum Ende des 20. Jahrhunderts
                der Kartoffelverbrauch dramatisch; ist eine
                Schlußfolgerung zulässig?
                
                Die Einführung der Kartoffel ging auch in Asien nur
                langsam vor sich, obwohl die größere Bevölkerungsdichte
                und die – relativ – geringere Ackerbaufläche die
                Anpflanzung neuer Nahrungspflanzen förderte. Auch der
                Mais wurde in Asien zunächst abgelehnt. Der Mais (der
                dick macht, ohne zu kräftigen) gelangte zwar bereits in
                der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach China. Der
                Anbau beschränkte sich jedoch bis zur Mitte des 17.
                Jahrhunderts auf wenige Gebiete. 
                
                Wegen des plötzlichen Bevölkerungsanstiegs in der
                Mitte des 18. Jahrhunderts wurde es auch in China
                erforderlich, die Hügel- und Berglandschaften zu
                kultivieren und Kartoffeln anzubauen, die Mitte des
                17. Jahrhunderts von portugiesischen Jesuiten nach
                China verbra
cht worden waren. Bei den
                allem Neuen gegenüber aufgeschlossenen Chinesen hieß es
                nicht: »Die beste Kartoffel ist ein Tand aus eines
                Jesuiten 
Hand«. Der Jesuit Adam
                Schall von Bell (in China Dr. T’ang Jowang) und seine
                langnasigen Mitbrüder mochten Mitte des 17. Jahrhunderts
                nicht auf Kartoffeln verzichten, als sie für die Kaiser
                Shun-chih und K’ang-shi Mond- und Sonnenfinsternisse
                voraussagten und den chinesischen Kalender erneuern;
                wie in Europa ist die Kartoffel der Anlaß, die
                Zeitrechnung zu überarbeiten – dazu später mehr. 
                
                Die Wurzel der Europäer ist sicherlich hochwillkommen
                geheißen worden, denn die Ernährung ist für China das,
                was Sex in Europa ist. Der chinesische Philosoph Menzius
                behauptete im dritten Jahrhundert v. Chr., daß
                Sexualität und Ernährung für den Menschen das
                Natürlichste seien. Beides könne man als bloßes
                Bedürfnis oder als Sinnengenuß ansehen, und beides
                biete unerschöpflichen Gesprächsstoff. Im übrigen
                zeichnet sich die chinesische Küche dadurch aus, daß sie
                alles verwendet und schonend zubereitet – etwas, was die
                Knolle mag. 
                
                Die auf engem Raum lebende Bevölkerung entwickelte die
                »Chinesische Kartoffelkiste«, mit der auf kleinstem
                Raum Knollen angebaut werden können: Vier Kanthölzer
                mit einem Meter Länge, 16 Bretter (2,5 cm mal 25 cm mal
                1 Meter). Immer wenn die Saatkartoffel ihre Blätter aus
                der Erde wachsen läßt, wird eine neue Schicht Erde
                angefüllt. Bis zu fünfzig Kilogramm Kartoffeln auf
                einem Quadratmeter sei keine Seltenheit dieser
                Anbaumethode. Das Grundprinzip funktioniert auch mit
                einer Regentonne auf dem heimischen Balkon einer
                Mietwohnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Art
                von Anbau auf fast allen Berliner Balkons üblich –
                Dünger kam von den ebenfalls auf den Balkons gehaltenen
                Ziegen.
                
                 
                
                Als der Abenteurer und Journalist Peter Fleming mit
                seiner Kollegin Ella Maillart 1935 von Peking über
                Tschinghai und Sinkiang nach Kaschmir reisen, können sie
                in einem kleinen Ort namens Tangar in Kansu neben Tsamba
                auch kaufen und ihrem leichten Gepäck beifügen; die dort
                von ihnen gefundenen Kartoffeln sind von den
                zaristischen Flüchtlingen aus den weißrussischen Armeen
                von Annenkow und Koltschak und von – vielfach
                schwedischen – Missionaren (Stichwort: Sven Hedin) in
                diese Gebiete verbracht worden, aber auch von den
                Agenten der Sowjetunion in den 1920er Jahren, die sich
                gewaltsam in die internen Auseinandersetzungen von
                Dunganen und Chinesen einmischten. Die anderen
                amerikanischen Nahrungsmittel Mais, Erdnuß und
                Süßkartoffel gelangten über die traditionellen
                Handelswege von Südchina nach Korea und Japan. 
                
                 Der Japaner Toshio Teshigawara in einem
                klassischen Haiku:
                
                
                  »Der Bauer, pflanzend
                  
                  Knollen in den Grund, spürt
                  
                  nicht der Hunger Not.«
                  
                
                In Japan wird heute eine mathematische Wendung im
                Zusammenhang mit Kartoffeln (
jagaimo) verwendet:
                »hachi ri han«, was »achteinhalb Meilen« bedeutet: Ein
                Kaufmann, der mit gerösteten Knollen handelt, hängt
                manchmal eine Fahne oder ein Schild auf, worauf »hachi
                ri han« geschrieben ist. Die Eßkastanie heißt in Japan
                »kuri«; dieses Wort ist homonym mit »neun Meilen« (ku
                ri). Die Reklame des Kartoffelhändlers behauptet nun:
                Röstkastanien sind teuer, die Kartoffeln dagegen billig
                und schmecken trotzdem fast so gut wie die Kastanien,
                eben nur eine halbe Meile weniger. 
                
                Die Kartoffel kam zu einem Zeitpunkt nach Japan, als
                noch das vegetarisch eingestellte Tokugawa-Regime
                seinen Einfluß ausübte. Von 1600 bis 1868 wurde in Japan
                kaum Fleisch gegessen, denn – so der Arzt Hitomi
                Hitsudai 1692 – das Essen von Fleisch rufe Krankheiten
                hervor. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wechselte die
                der Knolle so förderliche Einstellung zur Nahrung; der
                Philosoph Fukuzawa Yukichi meinte nicht ganz zu Unrecht,
                daß zwar Frühlingsgemüse gesund sei, »aber der Urin, mit
                dem sie jemand vorgestern noch begossen hat, ist tief
                in die Blätter eingedrungen.« Das führt zu einer
                wahrlich schwierigen Entscheidung: Natürliches Urin oder
                chemische Keule?
                
                 
                
                Die neuen Pflanzen, das viele Gold, brachten Unruhe
                mit. Man hörte von neuen Pflanzen aus»Indien«, die an
                die Stelle von Weizen (mehr Eiweiß mehr Vitamin B1, mehr
                Kalzium als Roggen), Roggen (mehr Vitamin B2, mehr Eisen
                als Weizen, sättigt stärker wegen höherem Fett- und
                Proteingehalt), Gerste und Hafer treten würden. Damit
                war der so einträgliche Getreidehandel bedroht. Es
                waren die über das Land ziehenden kleinen Händler, die
                Vieh und Getreide kauften – auf Termin wie an der
                Chicagoer Warenbörse –, an die großen Handelshäuser
                weiterverkauften oder direkt die Städte versorgten und
                für sich einen 
kleinen Profit erwirtschafteten.
                
                Dazu paßt, daßUlrich von Hutten mit »Nieder mit dem
                Pfeffer, dem Safran, die Seide« gegen die neuen Produkte
                aus Spanien und Italien und zugleich gegen die
                spanisch-italienische Kirche, Stellung bezieht. 
                
                Aus dem Thesenanschlag des»kleinen Mönchleins«
                (Luther) entwickelt sich der Hundertjährige Krieg
                (tatsächlich 114 Jahre), der 1618 in den
                Dreißigjährigen Krieg mündet, ein Krieg, in dem es um
                Absatzmärkte von Gewürzen, Getreide und Kartoffeln und
                damit um Macht ging, nur nicht um die »Ehrfurcht vor der
                Göttlichkeit«, der 
religio, und den die
                Knollenbauer um den Preis der Abspaltung großer Teile
                Europas von der katholischen Kirche schließlich
                bestanden. Der Dreißigjährige Krieg, von den
                Zeitgenossen der »Teutsche Krieg« genannt, v
ernichtete auch die Reste des
                Weinbaus im nördlichen 
Deutschland,
                brachte aber andererseits das »Tabakrauchen« (»eine 
Pfeife Rauch trinken«); das
                deutschsprachige Land blieb, unterm Strich, lasterhaft.
                
                Die zur ersten Jahrtausendwende vorherrschende
                Warm-Temperatur in der nördlichen Hemisphäre ermöglichte
                Weinbau in Schottland und Viehzucht auf Grönland. Wein
                wurde zum ersten Mal von den Römern über die Alpen und
                bis nach England gebracht, und die neuen Bürger des
                römischen Imperiums taten das ihnen Mögliche, um ihn zu
                behalten. Im Hochm
ittelalter, als
                der Handel über weite Entfernungen schwierig und
                unsicher war, legten die Engländer großflächige 
Weinfelder an. Doch ihr Wein
                schmeckte scheußlich – wie heutzutage die Ergebnisse
                ihrer »Kochkunst«.Peter von Blois
,
                Schreiber am Hofe des englischen Heinrich II
                .(1133–1189):
                
                
                  «Ich habe gesehen, wie sogar dem hohen Adel derart
                  trüber Wein vorgesetzt wurde, daß man die Augen schließen und die Zähne
                  zusammenbeißen mußte, wenn man mit verzogenem Mund
                  und tiefem Ekel dieses Dreckszeug, statt es zu
                  trinken, in sich hineintröpfeln ließ.«
                  
                  
                
                So nur werden die Kämpfe um die Bretagne verständlich,
                sie gingen um den Zugang zu den Weinfeldern Frankreichs,
                um den»Kir Royal«. Vor diesem Hintergrund ist die
                Johanna von Orléans zu begreifen, die den guten Roten
                der Franzosen vor den Engländern bewahren wollte. Bei
                besonders wüsten Gelagen am britischen Hof brachen die
                Beteiligten einfach die Stiele am Trinkglas ab, damit
                die Gläser auch in gebührender Eile geleert wurden.
                
                 
                
                Die ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts
                einsetzende»Abkühlung« (bis zum Anfang des 20.
                Jahrhunderts) um etwa zehn Grad Celsius
                (durchschnittlich) führte zu einer
                abermaligen»Völkerwanderung«, ausgelöst von der
                westwärts ziehenden »Goldenen Horde«, dem»Khanat
                Kiptschak«, unter Temüdschin, der sich Dschingis Khan
                (der »rechte Herrscher« oder der »ozeangleiche
                Herrscher«) nannte, Batu Khan und später der Turk-
Mongolenherrscher Timur-Leng
                (Tamerlan, Teimur-Lenk der Lahme), der sich in
                Samarkand ein blau gekacheltes 
Grabmal
                errichten ließ. Nur weil der Khan starb, die Armee zur
                Wahl des Nachfolgers zurück in die heimatlichen Jurten
                mußte und deshalb in der Mitte des 15. Jahrhunderts
                alles wieder aufgab, was erobert worden war, kam Europa
                damals um den Einfluß durch die chinesischen Kultur. 
                
                Diese auch heute noch nicht erklärbare deutliche
                Klimaveränderung in Europa und Asien war ein weiterer
                und entscheidender Faktor für den Siegeszug der
                Kartoffel nach der Mitte des 17. Jahrhunderts. 
                
                Bis
 weit nach 1700 herrschte das
                kälteste Regime seit dem Ende der letzten großen Eiszeit
                vor zehntausend 
Jahren. 
                
                Die Abkühlung warf Europa in ein dunkles Zeitalter,
                nicht nur kulturell: Die Winter waren extrem 
kalt, die Sommer waren verregnet.
                Das Getreide reifte nicht mehr, und am Roggen bildeten
                sich Mutterkornpilze (ein hauptsächlich am Roggen
                schmarotzender Schlauchpilz), die zu Erkrankungen der
                Gliedmaßen 
führten, die Wölfe
                drangen in die Dörfer ein und fielen die Bewohner an.
                England, damals schon unter einer ewigen Wolkendecke,
                verlegte sich auf Schafzucht. Die Wollproduktion
                wiederum führte zur Entstehung der 
Textilindustrie,
                die ihre Produkte exportieren mußte und den
                »Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus«
                begründete.
                
                Jede Mißernte führt zu Hungersnöten; aber auch ohne
                ausgesprochene Mißernten waren die Menschen immer wieder
                vom Hunger bedroht,
                
                –  weil die Bevölkerung schneller als die
                Anbaufläche für Getreide wuchs
                
                –  weil die mittleren Ernteschwankungen je nach
                Getreideart bei 20 bis 40 Prozent der
                Durchschnittserträge lagen und somit in manchen Jahren
                nur etwa die Hälfte der normalen Ernte eingefahren
                werden konnte
                
                –  weil die Lagerung von Vorräten über längere
                Zeit äußerst schwierig war.
                
                Die durchschnittliche Lebenserwartung – die ohnehin mit
                etwa dreißig Jahren nicht hoch war, sank
                um etwa zehn Jahre.Karl V. von Frankreich galt bei
                seinem Ableben im Alter von 
zweiundvierzig
                Jahren als»weiser alter Mann«. 
                
                Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die
                Lebenserwartung nicht wesentlich gestiegen: In Rußla
nd betrug sie 21,3 Jahre, Preußen
                29,6, Frankreich 32,2, Schweiz 34,5, Belgien 36,5 und in
                England 38,5 
Jahre. 
                
                 
                
                Der Höhepunkt dieser»Kleinen Eiszeit« lag in der Mitte
                des 17. Jahrhunderts, wobei die Jahre von 1580 bis 1730
                überdurchschnittlich kalt waren. Die Unbilden der
                Witterung wirkten sich durch Mißernten und Hungersnöten
                vor allem dort aus, wo die Ertragslage durch
                minderwertige Böden ohnehin schon ungünstig war, wo
                Subsistenzwirtschaft herrschte oder die Krisen durch
                Getreidespekulationen noch verschärft wurden. Die
                Kartoffel war die Antwort auf das am Halm faulendes
                Getreide; sie war an kältere Temperaturen und einem
                feuchterem Klima besser angepaßt als Getreide, das sich
                fast zehntausend Jahre lang dem früheren milderen Klima
                der nördlichen Hemisphäre angepaßt hatte. 
                
                Im 17. Jahrhundert verneunfachten sich die Kornpreise
                als Folge der wiederholten Mißernten wegen der
                Klimaverschlechterung. Die Mißernten führten dazu, daß
                die Menschen das unreife Korn aßen oder gar grünes Gras
                »wie das Vieh«. Aus Hessen wird 1635 berichtet:
                
                
                  «Man verschlingt die ungenießbaren Dinge wie Laub,
                  Gras oder Leder, um den Hunger zu stillen. Eine
                  Rattenmaus bezahlt man mit vier Gulden, soviel hatte
                  1618 noch eine fette Sau gekostet.«
                  
                
                Christian Morgenstern in den »Galgenliedern«: 
                
                
                  »Der Schneck horcht auf in seinem Haus / Desgleichen
                  die Kartoffelmaus«
                  
                
                Gefürchtet waren überall die »grünen Jahre«, Jahre, in
                denen das Getreide nicht ausreifte, weil der Sommer
                wieder einmal nicht auf die erforderliche Temperatur kam
                oder die Regenmenge zu viel oder zu wenig war.
                Gefürchtet waren auch jene Jahre, in denen nur das
                »zweite« oder gar nur »dritte« Korn geerntet wurde,
                denn dies bedeutete auch noch Hunger im Folgejahr.
                
                Wolfram von Eschenbachs »Parzival« (nach Dieter Kühn),
                einige hundert Jahre früher, aber immer noch zutreffend:
                
                
                
                  »Aus Mangel wurde Hungersnot,
                  
                  es gab nicht Käse, Fleisch und Brot
                  
                  man gab das Zähnestochern auf,
                  
                  sie machten keinen Wein mehr fettig
                  
                  mit den Lippen –falls sie tranken ...
                  
                  Die Wampen waren eingesunken,
                  
                  die Hüften ragten knochig hoch
                  
                  und schrumplig wie Ungar-Leder
                  
                  lag die Haut auf ihren Rippen;
                  
                  vor Hunger fielen sie vom Fleisch,
                  
                  so hat die Not sie zugerichtet,
                  
                  in Kohlen troff so gut wie nichts.«
                  
                
                Sämtliche Länder Europas befinden sich, nicht unbedingt
                immer zeitgleich, in einer ähnlichen Situation. Eine
                Folge dieser Hungerperioden war die Zusammenballung
                dieser Menschen zu riesigen Gruppen, die in die Städte
                zogen und besser gestellte Bürger in Angst und Schrecken
                versetzten. Aus Augsburg wird über die Hungersnot
                1570/1571 berichtet, daß man sich mit Rüben, Nesseln,
                Kraut und Gras (wovon selbst den Schweinen schlecht
                wurde) behalf; auch hätte man Kälber, die vor der Zeit
                geboren, essen müssen.»Ausgejagte« Knechte und Mägde
                zogen durchs Land und bestürmten die Städte. 
                
                Festzustellen ist in diesen Jahren, daß in Listen über
                gelieferte Waren oder Preisen von Nahrungsmitteln immer
                wieder Roggen, Erbsen, Milch und Butter, Eier, Schmalz
                und Rindfleisch erwähnt werden – aber keine Erdäpfel.
                Dies läßt den Schluß zu, daß die Kartoffel oder der
                Topinambur oder die Süßkartoffel in jenen Jahren nicht
                als Nahrungsmittel angebaut, zumindest aber nicht
                gehandelt wurde.
                
                Für die Versorgung einer Stadt mit etwa dreitausend
                Einwohnern war – zusätzlich zu der innerhalb der
                Stadtmauern betriebenen Landwirtschaft – eine Fläche von
                8,5 ha erforderlich. Die»Stadtbewohner« waren zugleich
                Bauern, die nicht nur zur Erntezeit 
stante pene
                aufs Feld zogen, sondern auch in normalen Zeiten ihre
                Rüben vor dem Ort buddelten.
                
                Der Hunger führte zu Unterernährung, und diese
                begünstigt – neben den allgemein schlechten
                hygienischen 
Verhältnissen – die
                Ausbreitung von Pest, Seuchen, Typhus, Pocken,
                Keuchhusten usw. usw. Alles, was die apokalyptischen 
Reiter enthüllten.
                
                In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommen die
                schon seit langem schwelenden sozialen Unruhen zum
                offenen Ausbruch. Das Rittertum verliert mit den
                aufkommenden Söldnerheeren und deren Musketen endgültig
                seine Macht und Bedeutung. Die Einnahmen des kleinen
                Landadels gehen zurück und sind ein Anlaß, von den
                Bauern höhere Abgaben zu fordern; solange die
                Landwirtschaft nur auf die Versorgung um den Kirchturm
                herum ausgerichtet war und nicht mehr grundsätzlich
                angebaut wurde, als das was unmittelbar verbraucht
                wurde, hält sich zwischen Grundherren und »Hörigen« ein
                Gleichgewicht der Kräfte und ein»maßvoller« Frondienst.
                Dies ändert sich insbesondere nach der Entdeckung der
                »Neuen Welt«, weil nun der spanische Adel Vorbild wird.
                Die mitteleuropäischen Adligen werden neidisch, und Neid
                ist bekanntlich ein Faktor, der die Welt verändern kann.
                Der Wunsch des kleinen deutschen Landadels, einen
                ähnlichen Wohlstand zu genießen, äußert sich in der
                Erhöhung der Abgaben für ihre Bauern und einer
                Ausdehnung der Fronpflichten.
                
                Die einheitliche Nutzung der Gewanne in Deutschland
                bringt es mit sich, daß Bebauung und Ernte nach einem
                gemeinsamen genossenschaftlich ausgerichteten Plan
                erfolgen. Im Mittelalter ist der Boden nur »geliehen«
                oder in sonstiger Abrede den Bauern zur Verfügung
                gestellt, was dennoch zu permanenten
                Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Grundherrn
                führt. Der Grundherr verfügte als Lehnsträger über
                Land und Leute nicht im Sinne eines
                privatwirtschaftlichen Eigentumsbegriffes (das war so
                nur bei den Leibeigenen in Rußland bis zur Revolution
                1917), sondern muß seinerseits Nutzungsrechte seiner
                Untertanen anerkennen. 
                
                Die um ein Dorf üblicherweise liegenden Wald- und
                Wiesengürtel, die»Allmende«, wurden gemeinschaftlich
                genutzt. Eigenes und genossenschaftliches
                Wirtschaften ergänzen sich, treten nicht als
                Gegensätze auf. 
                
                Nach
 Gemeinem Recht hatten die deutschen Bauern
                die Rechtsstellung der 
coloni des römischen
                Rechts; dieses Wort hatte im klassischen römischen Recht
                freie Bauern bezeichnet, die als Pächter auf ihrem Land
                saßen. Später änderte sich die Rechtsstellung des 
colonus:
                Ihm wurde eine gewisse Bindung an das Land auferlegt,
                das die spätere Leibeigenschaft vorwegnahm. Dem Adel und
                den von ihnen bezahlten Juristen (beider Rechte) gelang
                es, die ursprüngliche Freiheit immer stärker
                einzugrenzen, bis schließlich die wechselseitigen
                Dienstbarkeiten (zwischen ursprünglich
                erbberechtigtem – Vasall und Lehnsherr) einseitig auf
                den Schultern der Bauern lagen.
                
                Die sich in diesem Jahrhundert durchsetzende
                Wirtschaftgesinnung auf Erwerb und Gewinn durch den
                Verkauf von Landwirtschaftsprodukten durchbricht die
                traditionelle Wechselbeziehung von Adel und Bauern.
                Die Blütezeit der Handelshäuser (Fugger, Welser,
                Hochstetter) geht zu Ende, zumal es dem deutschen Adel
                gelingt, in die Handelsmonopole der Seestädte im
                Ostseeraum einzudringen und die Privilegien zu
                brechen. Die Grundherren fangen an, Getreide anbauen
                zu lassen und dessen Export nach West- und Südeuropa in
                eigene Hände zu nehmen, zumindest zu kontrollieren.
                
                In England lösen ab dem 15. Jahrhundert die Feudalherren
                ihre Gefolgschaft auf, da sie nicht mehr ernährbar ist
                (in Asien wird aus gleichen Gründen die Sklavenhaltung
                in dieser Phase deutlich eingeschränkt). Das englische
                Gemeindeland wird eingezäunt, kleinere
                landwirtschaftliche Betriebe vernichtet. Werden die
                Bauern auf dem Kontinent unterdrückt, so werden sie in
                England»freigesetzt« und vertrieben – ein Prozeß, der
                sich über drei Jahrhunderte erst
reckt.
                
                Der Dreißigjährige Krieg, vorgeblich ein Krieg um die
                richtige Interpretation des 
Papsttums,
                war Folge der Mißernten, wobei der Krieg den Hunger in
                Deutschland verschärfte. Krieg war allgegenwärtig;
                überall in Europa darben und starben, stürzten die
                Menschen. Pest, Blattern und andere Epidemien kehrten
                regelmäßig durch die Lande. Hunger war üblich. Nach dem
                Dreißigjährigen Krieg sind in Deutschland allein in der
                Zeit bis 1807 nachweislich sechzehn Hungerperioden zu
                zählen, die Jahre 1739 bis 1741 (auf dem Barnim in
                Brandenburg lag bis in den Mai hinein Schnee und im Juni
                war noch kein Gras auf der Weide) und 1770 bis 1772
                waren sogar Hungerkatastrophen. Das führt dazu, daß
                Bettler und Vagabunden, 
Vagierende, des Landes
                verwiesen wurden, da sie vom Landmann
                
                
                  »Fleisch, Brod und Früchten zu erpressen, mithin
                  denselben in die größte Forcht, Schrecken und Angst zu
                  versetzen, sich erfrechen« 
                  
                
                heißt es bereits 1769 in einem Edikt in Westfalen.
                
                Aus Wesel am Niederrhein wird berichtet, daß in den
                Monaten Februar bis Juli 1770 Dauerregen, dann K
älteeinbrüche, plötzliche Trockenheit
                und dann wieder Überschwemmungen 
herrschten.
                Jedes vierte Jahr ist ein Hungerjahr in Deutschland.
                Christian Graf Krockow über Preußens Geschichte:
                
                
                  »Für die Mehrheit der Menschen, für die Männer wie für
                  Frauen wurde der Alltag von Kargheit und Mühsal
                  bestimmt. Daß man sich satt essen konnte, bedeutete
                  schon viel. Doch niemals durfte man sich in Sicherheit
                  wiegen, immer mußte man mit Mißernten rechnen, und da
                  man von der Hand in den Mund lebte,
                  konnte man rasch in Bedrängnis, ins Unheil geraten.«
                  
                
                Ähnliche Zahlen über Hungersnöte und Hungerjahre sind in
                ganz Europa 
registriert. Für
                England sind es die Jahre 1418 bis 1759. Für Florenz
                werden im 14. Jahrhundert durchschnittlich alle fünf
                Jahre Hungerjahre dokumentiert, die nur dadurch
                gemildert wurden, daß die »Signoria« Getreide aus
                anderen italienischen Gegenden aufkaufen konnte.
                Zwischen 1371 und 1791 erlebt das reiche Florenz – so
                Fernand Braudel – insgesamt einhundertundelf Hungerjahre
                bei nur sechzehn ausnehmend guten Ernten.
                
                Auf russischem Gebiet – so hat William A. Dando
                errechnet – gab es von 971 bis 1925 belegbare 114
                Hungerjahre. 
                
                In Frankreich hungerten die Menschen dreizehnmal im
                16. Jahrhundert, elfmal im 17. und sechzehnmal im 18.
                Jahrhundert. – und damit sind die nur lokalen
                Hungersnöte noch nicht mitgezählt. Jedes Hungerjahr –
                gleich wo – führte zu mehr oder weniger stark
                ausgeprägten Kämpfen zwischen den kleinen Leuten und den
                Mächtigen. In Andalusien waren die Jahre 1400–1402,
                1412–1414, 1421, 1423–1426, 1434–1438, 1442–1443,
                1447–1449, 1454, 1458–1459, 1461–1462 und 1465–1467
                Hungerjahre, insgesamt fünfunddreißig Jahre in einem
                dreiviertel Jahrhundert. 
                
                Von 1400 bis 1473 gab es allein in Kastilien
                fünfunddreißig Hungerjahre. Eine schlechte Ernte
                bedeutete Hunger, zwei waren eine Katastrophe, der
                Hunderttausende zum Opfer fielen. Die niedrigen
                Getreidepreise und die gröbliche Vernachlässigung des
                Ackerbaus auf der iberischen Halbinsel schädigen in den
                1550er Jahren den herkömmlichen – sowieso schon
                verringerten – Getreideanbau, und Wein-, Öl- und
                Seidenkulturen und Schafzucht mit wandernden Herden
                dehnen sich noch stärker aus. Der Raubbau an den Wäldern
                war so schlimm, daß bereits Anfang des 16. Jahrhunderts
                Holz aus Nordeuropa importiert werden mußte. Die
                spanischen Mißernten sind durch die »Kleine Eiszeit«
                wie durch diese rücksichtslose Ausbeutung der
                natürlichen Ressourcen begründet. Die Erosion durch
                Rodung, die Auslaugung der oberen Bodenschichten und
                die Weidewirtschaft vernichtete wertvollen Ackerboden,
                so daß Brache und Düngung keinen Ausgleich für diesen
                Umgang mit der Natur schufen. Der allgemeine Raubbau an
                der Natur wirkte sich auf die Kartoffel aus, die auch
                aus diesem Grund als Alternative zum Getreideanbau
                betrachtet und deshalb angepflanzt wurde. Auf
                russischem Gebiet, so hat William A. Dando errechnet,
                gab es von 971 bis 1925 belegbare 114 Hungerjahre. 
                
                  
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                Bei den witterungsbedingten Mißernten handelte es sich
                zumeist um Großwetterlagen, die sich fast über ganz
                Europa erstreckten, so daß ein überregionaler Ausgleich
                an Nahrungsmitteln – auch wegen der Transportprobleme –
                nicht möglich war und auch nicht in den Überlegungen
                der Betroffenen bestand. 
                
                Wilhelm Abel: 
                
                
                  »Es zeigt sich, daß auch die Geschichte des
                  Abendlandes auf weite Strecken hin eine Geschichte der
                  Not, des Elends und des Hungers war.«
                  
                
                 
                
 
                 
                 Anmerkungen
                
                 
                
                1 Von Karl dem Großen sind 135.000 adlige und
                anerkannte Nachkommen bekannt. Von Dschingis Khan, so
                ein Befund aus dem Y-Chromosom der Bevölkerung zwischen
                der Mongolei und der chinesischen Pazifikküste, stammen
                etwa 16 Millionen Männer ab, was etwa einem halben
                Prozent der gesamten männlichen Weltbevölkerung
                entspricht. Nach einer persischen Chronik aus dem des
                Mittelalter hatte der Mongolenherrscher allein 160
                Nachkommen.            
                         
                
                Karl der Große war der festen Überzeugung, daß eine
                Hungersnot eine Strafe Gottes für die Sünden der
                Menschen sei. In Notzeiten ordnete er daher allgemeines
                Fasten und das Lesen von Messen an. Er hat versucht,
                durch Festlegung von Höchstpreisen einer Teuerung
                entgegenzuwirken. Einmal verbot er auch den Export von
                Lebensmitteln. Nur: In einem Land, in dem auch der
                jeweilige Herrschaftssitz sich nur in sehr kleinen
                Städten befand und die überörtliche Kommunikation nur
                bedingt funktionierte, konnten seine Maßnahmen keine
                nennenswerte Erleichterung bedeuten.    
                               
                
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                2 Der Zehnte ist im 6. Jahrhundert in Südosteuropa
                erstmals eingeführt worden und – »gute Ideen« setzen
                sich durch – verbreitete sich danach in ganz Europa.
                Neben dem Zehnten mußten im Mittelalter außerdem Abgaben
                für Rechtsschutz und Gerichtspflege und für alle
                möglichen anderen Dinge – wie die übliche
                Frondienstleistungen – aufgebracht werden. Vom
                Zehntensollte je ein Viertel dem Bischof, dem Pfarrer,
                dem Kirchenbau und den Armen zustehen. Tatsächlich
                nahmen aber Bischof und Pfarrer so viel, daß für den
                Kirchenbau wenig und für die Armen gar nichts
                übrigblieb. Die Proteste gegen den Zehnten richtete sich
                hauptsächlich gegen diese tatsächliche Verteilung des
                Zehnten, aber parallel mit Zehntverweigerungen gingen
                vielfach auch Fronstreiks.  
                
                Der»kleine Zehnte« war eine Naturalabgabe an die Pfarrer
                und Lehrer aus den Hausgärten. Die Abgabevorschriften
                für Feldfrüchte, der sog. große Zehnt, kannten nur
                Getreide, während Rüben, Hanf, Kraut, Flachs und
                Kartoffeln zumeist ungeregelt waren oder nur nach
                langwierigen Auseinandersetzungen gegen die Bauern
                durchgesetzt werden konnte. Mutter Ecclesia aß mit am
                Tisch der Armen.  
                
                Im übrigen galt: 
Clericus Clericum non decimat – von
                einem anderen Geistlichen wird der Zehnte nicht
                abverlangt. Bemerkenswert ist, daß der Zehnte auf die
                Kartoffel erst dann erhoben wurde, wenn die Ausbeute
                groß genug war, wenn die Knolle auf den Feldern wuchs.
                In den Orten um Solm wurde daher – zum Beispiel – erst
                ab 1756 der Zehnte auf die Knolle erhoben. Der »blutige
                Zehnte« oder »Blutzehnt«, den es auch gab, hatte seine
                Bezeichnung von der Abgabe auf Kleinvieh wie Lämmer,
                Hühner, Gänse, Ferkel und dem jeweils zehnten Füllen,
                Kalb, Lamm und Immenstock.  
                
                Der Zehnter (in Hamburg: Teeger) ist einer von den
                vielen ausgestorbenen ehrenwerten Berufen, treibt doch
                jetzt das staatliche Finanzamt die Kirchensteuer, etwa
                ein Zwölftel, ein. Und in Schleswig-Holstein sogar von
                den Ungläubigen in Form eines Kirchgeldes. Aber das ist
                alles nichts gegen die Bräuche zu Zeiten Christis
                Geburt, wie der Römer Lactantius in seiner Schrift »De
                mortibus Persecutorum« schildert: »Überall hörte man die
                Schreie derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört
                wurden; man spielte Söhne gegen Väter aus, die Frauen
                gegen die Ehemänner ... und wenn der Schmerz gesiegt
                hatte, schrieb man steuerpflichtigen Besitz auf, der gar
                nicht existierte.« Da hat der Halbteilungssatz des
                früheren Bundesverfassungsrichters Kirchhoff nicht mehr
                zu suchen.  
                
                Vielfach wurde die Einziehung des Zehnten verkauft, da
                sich die Herrschaft damit die Kosten der »Ziehung«
                ersparte und im übrigen ließ sich der Volkszorn so auf
                den Käufer des Zehntrechts abwälzen Die »Vermalterung«
                des Zehnten (so hieß der Verkauf des Erhebungsrechts)
                durfte nur an Untertanen, Bürger und Bauern geschehen,
                welche ihn wegen des »Geströhes und zur Besserung der
                Begailung« ihrer Felder nötig hatten. Der Autor gesteht:
                Begailung, Geströh und Vermalterung sind Begriffe, die
                ihm bisher unbekannt waren, aber von Dr. phil. Hans
                Lerch in seiner »Hessischen Agrargeschichte«, 1926 in
                Bad Hersfeld erschienen, als allgemein bekannt
                vorausgesetzt werden.  
                
                Im katholischen Fürstentum Mainz (und anderswo war’s
                nicht anders) wurde neben dem Zehnten abgefordert: eine
                Abgabe als Hub- und Beetwein, Ohmgeld, Herdschilling,
                Königsbeth und Atzgeld, ein Lämmerzehnter,
                Fastnachtskappen und Blutzehnter (decimas de
                animalibus), Leibshuhn und Glockengarbe. Am 28. Februar
                1793 wurden ferner in Mainz (in Folge der Ausrufung der
                Republik) abgeschafft: Kopfgelder, Rauch-, Wild- und
                Wiesengelder, Freilandsgelder, herrschaftliche
                Fronden und herrschaftliche Schäfereien, Jagden und
                Zölle vom eigenen Wachstum, Judenleibzoll, erzwungene
                Militärdienste, Fruchtfuhren und Transport des
                Deputatholzes, Mithilfe beim Stürzen und Wenden auf
                dem Fruchtboden und beim Einsacken der herrschaftlichen
                Früchte, Pflastergeld, Wege- und Scharwerksdienste,
                Accise (und durch eine mäßige Grund-Mobiliarsteuer
                ersetzt). Das war schlimmer als LoSt, KiSt und Soli,
                ärger als Beiträge zur KV, zur RV, zur AV und zur
                Pflegeversicherung.         
                        
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                3 Wir wollen hier an den Garten Eden erinnern, der
                ebenfalls zehntfrei war, der ein beschützter Garten mit
                »Zaun« war. Der Hausgarten war das Paradies der
                Bauersfrau, der Nachfolger des »ganan«, der vor dem
                Zugriff allzu gieriger Kirchenoberer geschützt war.
                          
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                4 Konrad Gesner veröffentlichte nach jahrelangen
                Vorbereitungen 1569 ein »Vollkommenes Fischbuch« und
                ein »Vollkommenes Vogelbuch« und im Jahr darauf das
                »Allgemeine Thierbuch«.        
                            
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                5 Eine Beschreibung der Ananas aus dem 16. Jahrhundert:
                
                
                
                  »Diese liebliche Frucht wächst zwischen eitel dicken
                  Blättern, welche an den Seiten scharf, und inwendig,
                  nach dem Stamm-Ende zu, da die Frucht steht, schön rot
                  sind. Sie wird ungefähr, wenn sie reif ist, so groß
                  wie ein Rettich oder kleiner Kürbis, aber recht
                  ovalisch. Inwendig ist sie schön gelb, auswändig ist
                  sie aber voller Narben, aus welchen grüne, scharfe
                  Spitzlein von Blätterlein gehen, ansonsten auch gelb.
                  Die Narben sind fast wie ein Nabel am Menschen. Der
                  Geschmack ist sehr anmuthig und vergleicht sich schön,
                  wie auch der Geruch, mit den reifesten Erdbeeren.«
                               
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                6 Da gab es, so Bruder Bernardino de Sahagún, »große
                Tomaten, kleine Tomaten, grüne Tomaten, dünne Tomaten,
                süße Tomaten ... gelbe, sehr gelbe, ganz gelbe, rote,
                sehr rote, hellrote, rötliche, rosa gezeichnete ...«.
                Und eine 1613 gezeichnete tomatl, Poma amoris fructu
                rubro, zeigt deutlich mehr Furchen in der Frucht. Bauhin
                nennt sie auch »Mala peruviana« Apfel aus Peru.
                
                Friedrich Alefeld schreibt noch 1866 vom »Eßbaren
                Liebesapfel« in Deutschland: »Im nördlichen Teile
                unseres Gebietes nur als Zierpflanze gezogen, im
                südlichen aber seines Nutzen wegen als Zukost- und
                Suppenpflanze.« Sieben Sorten beschreibt er 1.
                (rotfrüchtig gewöhnliche, 2. gelbfrüchtige, 3. mit
                kleinen, roten, gerippten Früchten, 4. mit kleinen,
                runden, kirschenähnlichen Früchten, 5. mit kleinen,
                runden, gelblichen Früchten, 6. mit birnenförmigen ,
                roten Früchten und 7. birnenförmige, gelbe Früchte. –
                Die glatten Dinger, die heute im Supermarkt liegen,
                können demnach gar keine Tomaten sein!  
                
                Gaspard Bauhin (Kaspar Bauhin, latinisiert Casparus
                Bauhinus, Arzt und Anatomie-Professor an der
                Universität) beschrieb schon 1596 neben der Kartoffel
                auch eine andere aus Amerika stammende Pflanze, die
                Tomate; sie sei »ein goldener Apfel stinkenden
                Geschmacks«. Schon Joachim Camerarius hatte zehn Jahre
                vorher ein ähnliches Unwert-Urteil gefällt: 
                
                
                  »Amoris poma oder Goldäpffel: In Welschland pflegen
                  diese Früchte etliche zu essen mit Pfeffer, Oel und
                  Essig gekocht, aber es ist eine ungesunde Speiß, und
                  die gantz wenig Nahrung geben kann.«  
                  
                
                Wie die Kartoffel war auch die Tomate (»Mag die Füße
                gern naß und den Kopf trocken«) den sexuellen Phantasien
                der Geistlichkeit ausgesetzt: Noch im 18. Jahrhundert
                glaubte man in der Schweiz, sie verursache Liebeswahn,
                sie galt als nichtsnutzig und giftig. Wie die Kartoffel
                wurde die Tomate erst spät gelobt. Die Kartoffel nahm
                ihren Weg in die »Neue Welt« zurück über Irland, die
                Tomate über Mexiko nach Italien und zurück.   
                
                Es dauerte Jahrhunderte, bis die Tomate zu dem beliebten
                Nahrungsmittel wurde, das sie heute ist oder war, denn
                inzwischen sind die »Liebesäpfel« ziemlich suspekt, was
                nicht nur mit den Gen-Mutabilitäten, sondern wohl auch
                mit der Gülle aus holländischen Schweineställen zu tun
                hat.Baron Eugen von Vaerst schreibt (1859) in seiner
                »Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel«
                über die Tomate: 
                
                
                  »Dies ist eine Frucht, die wohl unmittelbar aus dem
                  Paradiese zu uns gekommen sein muß und die gewiß der
                  Apfel gewesen ist, den Paris der Venus bot, sehr
                  wahrscheinlich auch der, welchen die Schlange zur
                  Verlockung der Eva anwendete.«  
                  
                
                Die Tomate 
(Solanum Lycopersicum) wechselt Mitte
                des 19. Jahrhunderts vom poetischen Paradiesapfel (heute
                noch in Kakanien: 
Paradeiser) oder Liebesapfel
                (amoris poma, pomme d’amour) in Spanien auf das
                indianische Lehnwort 
tumatl über; die
                Bezeichnung »Goldapfel« verschwindet zu Recht. Die
                Entwicklung zur Grilltomate geschah wesentlich später,
                obwohl die Tomate als Gewürz für Saucen, als»kühlender
                Salat« und als Grundstoff für feine Suppen bereits Ende
                des letzten Jahrhunderts verwendet wurde. In Deutschland
                wurde die Tomate heimisch während des Ersten
                Weltkrieges, als gelbe Tomaten aus Bulgarien als
                Aufschnittersatz eingeführt wurden. 
                
                In »Merck’s Warenlexikon« von 1919 wird die Tomate
                neben Liebesapfel auch unter Paradiesapfel und Pomodoro
                aufgeführt. Seinerzeitige Bestandteile: 3,7% Fruchthaut,
                10,9% Samen und zu 85,4% Fruchtmus (der wiederum rund
                95% Wasser enthält). 
                
                Tomatenpflanzen bilden deutlich mehr Früchte, wenn der
                Boden nicht mit schwarzer, sondern mit roter
                Plastikfolie abgedeckt wird. Durch die stärkere
                Reflexion von rotem Licht wird offenbar die
                Photosynthese beschleunigt. Die Wissenschaftler im
                amerikanischen St. Florence/South Carolina vermuten,
                daß auch andere Pflanzen durch bestimmte Farben
                stimuliert werden; diese Farbe müßte aber für jede
                Pflanzenart neu ermittelt werden.    
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                7 Die Ureinwohner Amerikas starben an Krankheiten
,
                die in Europa ernst aber nicht unbedingt tödlich
                verliefen, wie Grippe, Scharlach, Diphtherie, Malaria,
                Keuchhusten, Gelbfieber, Ruhr oder Pocken, insgesamt (so
                hat der Historiker Russell Thornton gezählt)
                dreiundneunzig Krankheiten.   
                
                Der Schriftsteller H. G. Wells schrieb 1897 die
                Science-Fiction-Erzählung »Der Krieg der Welten«, in der
                Marsianer die Erde angreifen; gegen die überlegenen
                Waffen bleiben die Menschen machtlos. Im letzten Moment
                retten irdische Bazillen, gegen welche die Invasoren
                keine Abwehrkräfte besitzen, die Menschheit. Wells nahm
                als Vorbild für diese Geschichte die Ausrottung der
                Ureinwohner Amerikas. 
                
                Lopez de Gomara berichtet 1533 in seiner Geschichte der
                Eroberung Mexikos über die eingeschleppten Blattern: 
                
                
                  »Fast die Hälfte des Volkes fiel der Seuche zum Opfer,
                  besonders da diese Krankheit neu für sie war. Die aber
                  dieser grausamen Krankheit entkamen, waren durch
                  Geschwüre bis zur Unkenntlichkeit entstellt, zum Teil
                  infolge ihres unsinnigen Kratzens.«  
                  
                
                Die spanischen Eroberer hatten (unbewußt) eine
                »Bio-Waffe« eingesetzt. 
                
                Daß die eingeschleppten Krankheiten so schreckliche
                Folgen für die indigene Bevölkerung hatten, soll daran
                gelegen haben, daß die Einwohner genetisch sehr nahe
                verwandt waren. 
                
                Mindestens einmal schenkten englische Soldaten aus
                kriegstaktischen Gründen aufständischen Indianern
                Kleidungsstücke, die »aus dem Hospital entnommen waren,
                um die Pocken auf die Indianer zu übertragen« (so der
                englische Kommandant des Fort Britts). Da soll man sich
                heutzutage nicht mehr darüber wundern dürfen, daß auch
                in der Taliban-Zeit das Rote Kreuz (IKRK) in Afghanistan
                ein Forschungslabor betrieb, in dem Milzbranderreger
                gezüchtet wurden. 
                
                Die bereits von den ersten Entdeckern mitgebrachte
                (amerikanische Variante der) Syphilis durchquerte
                innerhalb kürzester Zeit ganz Europa. Die Rache
                Montezumas ist ‘was anderes. Die von den frühen Ärzten
                entwickelte Quecksilbertherapie war brutal für die
                Betroffenen, verhinderte aber nicht die Erkrankung, sie
                nimmt nur eine mildere Form an.  
                
                Falls eine Ausrede benötigt wird: Nicht jede Form der
                »Syphilis« wird durch Geschlechtsverkehr und dem
                Erreger Treponema übertragen. Das Wort »Syphilis«
                taucht erstmals 1530 in einem Gedicht auf, in dem ein
                unglücklicher Schäfer namens Syphilus besungen wird,
                der während einer großen Hitzewelle die Sonne
                verflucht. Und zur Strafe schlugen die Götter ihn mit
                dieser neuen Krankheit. 
                
                Die Matrosen der»Nina«, die es mit den
                Eingeborenenfrauen – unangenehm, diese behaarten und
                schmutzigen Europäer – trieben, brachten die
                (amerikanische) Syphilis nicht mit. Aber was soll man
                erwarten von dem gemeinen Mann, wenn selbst
                hochgestellte und gebildete Leute des Wissens waren, daß
                der Teufel nichts so sehr haßt wie menschlichen Kot und
                »die Teufel einen sehr feinen Geruch haben und jede Art
                von Gestank verabscheuen und ihm aus dem Weg gehen«.
                Deshalb die Scheu vor Wasser; deshalb nur freitags in
                die Badewanne – aus altchristlichen Motiven, nicht um
                Wasser aus Umweltgründen zu sparen. Wer sündigt, will
                wenigsten nicht vom Teufel noch belästigt werden. 
                
                Wahrscheinlicher ist, daß entweder die
                verschleppten»Tainos« der zweiten Reise die Syphilis auf
                die – ewig neugierigen – Frauen (die Majas) am
                spanischen Hof übertrugen. Die Spanier brachten von der
                Neuen Welt die Syphilis nach Europa, die 1493 in
                Lissabon eine erste Epidemie auslöste.  
                
                Die Syphilis war eine im alten Amerika relativ harmlose
                Erkrankung, da sich die amerikanischen Ureinwohner an
                diese Bakterien über Jahrtausende gewöhnt hatte und
                entsprechende Antikörper vorhanden waren. Eine zweite
                Epidemie trat während der französisch-italienischen
                Kriege Ende 1494 in Italien auf; der französische
                Charles VIII. eroberte Neapel und deshalb wurde die
                Krankheit als »Mal de Naple« bezeichnet 
                
                An der Syphilis starben Papst Alexander VI., König Franz
                I. von Frankreich, Heinrich VIII., Ulrich von Hutten
                (schrieb ein Traktat »Über die Gallische Krankheit«) und
                etlich andere, die sich nicht an das von der Kirche
                verhängte Keuschheitsgebot hielten. Der italienische
                Arzt Girolamo Fracastoro belegt diese
                Geschlechtskrankheit 1530 in einem Lehrgedicht
                erstmals mit dem Namen Syphilis (im selben Jahr kamen
                »sieben spanische Teufel« nach Italien). 
                
                Die Syphilis wurde auch politisch-religiös
                ausgeschlachtet, denn solche Krankheiten träten nur in
                »Verfallszeiten« auf; der deutsche Medizinhistoriker
                Georg Sticker sprach deshalb passend zum Zeitgeist der
                1920er Jahre von der »verseuchten Lebewelt Frankreichs«
                (deshalb die »Französischen Pocken«) und vom
                »schmutzigen Zigeunertum« .  
                
                Andere in Amerika regional stark verbreitete
                Krankheitserreger wie die der Carrion-Krankheit oder
                der Chagas-Krankheit konnten sich in Europa nicht
                behaupten. Auch der im tropischen Amerika heimische
                Sandfloh (von Oviedo y Valdés 
niguas genannt),
                der verstümmelte Zehen und tödlich verlaufende sekundäre
                Tetanus-Infektionen hinterließ, wurde in Europa nicht
                heimisch. In Afrika, dort 1872 eingeführt, hat er sich
                zu einer endemischen Plage entwickelt. Umgekehrt
                infizierten Pizarros Soldaten die Inkas mit den in
                Europa relativ harmlosen Grippeviren und lösten damit
                eine tödliche Epidemie aus; die Bevölkerung im
                Inka-Reich sank durch Totschlag und Epidemien von rund
                zwölf auf weniger als zwei Millionen.  
                
                Krankheiten führten auch in Australien zur drastischen
                Verminderung der Einheimischen; als die Engländer 1788
                das heutige Sydney gründeten, brach die erste von
                mehreren Epidemien aus, denen viele Ureinwohner (engl.
                Aborigine) zum Opfer fielen.       
                        
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                8 In den damals üblichen Dienst-Verträgen wurde Nahrung
                gesondert geregelt: Als zum Beispiel Graf Rochus zu
                Lynar an die Zitadelle in Spandow (im 17. Jahrhundert)
                berufen wird, wird festgelegt, daß er erhält als »Sr.
                Churf. Gnaden bestalter General Oberster Artillerey
                Zeug- und Baumeister« 250 Tonnen Bier, 2 Scheffel
                Weizen, 12 Scheffel Roggen, 6 Fuder Wein, 6 Ochsen, 50
                Hammel, 30 Kälber, 8 Zentner Hechte und 8 Zentner
                Karpfen«.   
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                9 Konrad Gesner schreibt in seinem 1560 erschienenen
                Buch »De hortis Germaniae« fünf Grundformen von Gärten
                fest: die Nutzgärten, die Gärten mit Heilpflanzen, die
                Mischgärten, die geschmackvollen Gärten (horti
                elegantes) und die Luxus-Gärten (horti magnifici). 
                  
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                10 476 Millionen Jahre alte fossile Sporen sind die
                frühesten Spuren pflanzlicher Organismen auf dem
                Festland. Nach neuesten Untersuchungen handelt es sich
                um Lebermoose, die heute noch an feuchten Orten
                gedeihen. Die Forschungen von Biologen an der
                University of Indiana lassen den Schluß zu, daß
                sämtliche heute existierenden Landpflanzen – also auch
                unser Untersuchungsgegenstand – von diesen Lebermoosen
                abstammen.            
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                11 Friedrich Freiherr von Hardenberg, ein Dichter der
                deutschen Romantik, der sich Novalis nannte, suchte sein
                Leben lang die Blaue Blume. Novalis (1772–1801) kam aus
                Sachsen, Sohn eines Großgrundbesitzers mit Kartoffeln
                im Garten, studierte (auch) in Freiberg (einem Gebiet
                mit frühem Kartoffelanbau). Die blaue Blüte der
                Kartoffel ist doch aber auch zu profan für die
                Literaturwissenschaftler.       
                  
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                12 Kartoffel heißt in mandarin »tu dou« (Aussprache ist
                tiefer Ton – fallender Ton. »Tu« bedeutet in erster
                Linie: Boden, Land, Gebiet, aber auch Erde, Staub, »Dou«
                bedeutet: Bohne, Erbse, Hülsenfrucht. »Tu Dou« kann
                also bedeuten »Erd-Erbse«        
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                13 In Berlin hielt sich der von Lehniner Mönchen
                eingeführte Weinanbau bis 1740, als die strengen
                Winterfröste die letzten fünfzig Weinberge (zum Beispiel
                auf dem Gebiet der heutigen Charité, in der
                Wollankstraße und in der Neuen Schönhauser Straße)
                zerstörten, aber auch die Panscherei der Winzer sorgten
                für den Niedergang.  
                
                Über den berlinischen Wein wurde gesagt: »Wenn man
                davon een eenzijes Achtel über die Fahne jießt, so zieht
                sich det janze Rejiment zusammen« – das war der
                »Fahnen-Wein«. Über den »Schul-Wein« wurde gesagt: 
                
                
                  »Diese Droppen sind ein sicheres Mittel, die nich
                  wißbejierigen Kinderkens in de Schule zu jagen, indem
                  man ihnen die Alternatiefe stellt, entweder ihre
                  Pflicht zu tun oder zu trinken.«  
                  
                
                Vom Kreuzberg bis zum Südstern reichten die »Köllnischen
                Weinberge«. Über den heutigen Kreuzberger Wein meint
                ein englischer Wein-Probierer: »Very, very dry«. Die
                Sorten hießen unter anderem »Schönedel«, »Rehfall« oder
                »Schillernder Traminer«.         
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                14 Fernandez de Oviedo schreibt 1535 empört: »Neben noch
                anderen schlimmen Bräuchen haben die Indianer eine
                besonders schädliche Sitte. Sie atmen eine bestimmte
                Sorte Rauch ein, den sie Tabak nennen, um einen Zustand
                der Bewußtlosigkeit und des Rausches herbeizuführen ...
                Sie saugen den Rauch ein, bis sie das Bewußtsein
                verlieren und auf dem Boden hingestreckt liegen wie
                Männer im Schlafe der Trunkenheit.« Die »Rauchaufsucht«
                kam zuerst in Spanien, England und Holland auf. So wie
                sich die Zahl der Liebhaber des Tabaks vermehrte,
                erhöhte sich auch die Zahl der Gegner.  
                
                Während die Genießer von »Wunder-Confect«,
                »fürnehmbstes Artzney-Kräutlein« und
                »Erfrölichungs-Kraut« sprachen, verteufelten die
                Gegner den Tabak als Höllenkraut, dessen Herkunft aus
                der Hölle am Gestank zu erkennen sei. Nach Deutschland
                kam die Sucht erst mit englischen Soldaten, die Anfang
                der 1620er Jahre nach Böhmen zogen. Es kamen neue
                Berufe: »Tabackskremer« und »Tabakisten«, Das Verb
                »rauchen« für den Tabakgenuß kam erst gegen Ende des 17.
                Jahrhunderts auf.           
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                15 Im 18. Jahrhundert wurde Wein auch dadurch veredelt,
                daß er in Eichenfässer nach Übersee (und zurück)
                transportiert wurde, weil man dem Schlingern auf See
                eine günstige Wirkung auf die Qualität des Weines zumaß.
                Ein Versuch, im 20. Jahrhundert, diesen überlieferten
                Effekt mit Motorbooten zu erreichen, scheiterte. Der
                schnelle Transport auf Containerschiffen wühlt den Wein
                so stark auf, daß er sich erst Monate im Keller
                beruhigen muß, bevor man ihn wieder trinken kann (sagen
                die Gourmets), ohne daß die Qualität gesteigert wird.
                »Linie Aquavit«, aber das ist bekanntlich kein Wein,
                wirbt damit, daß das Lebenswasser über den Äquator
                geschippert wird und erst dann in Flaschen abgefüllt
                wird.   
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                16 1998 erhält Helmut Kohl die Ehrendoktorwürde der
                Universität Cambridge und der Kanzler der Universität,
                Prinz Philip, würdigt u.a. Kohls Kennerschaft englischer
                Weine – das hat doch was? Ein Racheakt für den
                aufgetischten pfälzischen Saumagens.    
                  
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                17 Um 1225 zogen zum Beispiel etwa 50.000 seldschukische
                Türken, gedrängt von den Mongolen, von Nordostpersien
                nach Westen und gründeten unter Suleiman dem Prächtigen
                die Keimzelle des osmanischen Reiches. Diemongolische
                Yüan-Dynastie wird 1368 aus Peking vertrieben, da der
                vernachlässigte Ackerbau und insbesondere die
                unterlassene Instandhaltung der Bewässerungsanlagen zu
                periodischen Hungersnöten und sozialen Unruhen führten
                und die chinesischen Kleinbauern bei dieser
                Mißwirtschaft die Reisschüssel nicht mehr gefüllt
                bekamen. Es ging um Nahrung.
                
                Im Brockhaus von 1843 werden die Mongolen als »offen,
                mäßig, gastfrei, mild und friedfertig, aber auch träge,
                schmutzig und dummstolz« bezeichnet. Neben Faulheit und
                Neugierde wird Feigheit als Charakteristikum genannt.
                Die Frauen seien »wirtschaftlich, aber moralisch
                haltlos«.           
                  
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                18 Ende des 12. Jahrhunderts war der Höhepunkt einer
                Warmphase, in der die Winter etwa 0,7 Grad wärmer waren
                als Mitte des 20. Jahrhunderts: 
                
                
                  »1186/1187 war der Winter so warm, daß im Dezember und
                  im Januar viele Bäume blühten. Im Februar hatten die
                  Birnen schon die Größe einer Nuß erreicht« 
                  
                
                schrieb (vermutlich) Friedrich von St. Thomas, Pfarrer
                in Straßburg. Die Jahre 1473 und 1540 gelten als die
                wärmsten Jahre des zweiten Jahrtausend.  
                
                1540 ging ein regnerischer Winter in ein zunehmend
                heißer werdendes Frühjahr über. Anfang März, fünf Wochen
                zu früh, blühten in Basel die Kirschbäume, drei Wochen
                früher war der Wein reif, Anfang Juli kamen die ersten
                Trauben zur Ernte und das Getreide in die Scheuer. Am
                30. Juni war der letzte Regen – für neun lange Wochen,
                in denen die Brunnen versiegten und das Vieh
                verdurstete, Selbst die in Frankfurt im Herbst
                angesetzte Notprozession brachte keine Erlösung. Nur
                vier Jahre später, 1544, litt Europa unter einer der
                kältesten Frühlingsperioden des Jahrtausends, alle
                Alpenseen (und der Bodensee) waren zugefroren.  
                
                Die Sonne strahlte im 16. Jahrhundert etwa 0,25 Prozent
                schwächer als heute, die heute üblichen Sonnenflecken
                fehlten. Neuere Untersuchungen ergaben, daß in den
                letzten 32.000 Jahren in regelmäßigen Abständen von
                1500 Jahren Kälteeinbrüche stattfanden. Die Winter im
                18. Jahrhundert waren so kalt, daß die Themse zufror,
                die Eskimos nach Schottland kamen und die Eisbären auf
                Schollen nach Island trieben. In dieser «Kleinen
                Eiszeit« gipfelte die »Hexen«-Verfolgung. 
                
                Immer wieder kam es zu Kälteperioden, so daß Tausende
                auf der Suche nach Nahrung durchs Land plünderten oder
                versuchten, Jerusalem zu erobern. 1300 stürzten die
                Wintertemperaturen um etwa zehn Grad gegenüber der
                »Mittelalterlichen Warmzeit«. Erst um 1900 endete die
                »Kleine Eiszeit«, die nicht den Charakter einer
                einheitlichen Kaltzeit trug, sondern zwischen kalten und
                feuchten Phasen schoben sich immer wieder wärmere
                Abschnitte ein. Das war das richtige Klima für den Anbau
                einer neuen Frucht. Im übrigen: Wenn die Menschheit
                nicht diesen stark schwankenden Temperaturen unterworfen
                gewesen wären, säßen »wir« als Primaten immer noch im
                Wald und würden selbstzufrieden bittere Blätter und süße
                Früchte kauen.           
                
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                19 Der rumänische Diktator Nicolaie Ceausescu ließ
                regelmäßig die Wetterberichte korrigieren nach dem
                Motto »Wenn die Wetterkarte keinen Frost vorhersagt,
                kann man auch nicht frieren.«       
                    
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                20 Die Mutterkornvergiftung, auch »St. Anthony’s Fire«
                (weil die Kranken dem heiligen Antonius anvertraut
                wurden) genannt, war eine der schrecklichsten
                Krankheiten; sie rief Mehltau (Claviceps purpurea)
                hervor, der die Roggenkörner bei einer feuchten Ernte
                schwarz werden ließ. Selbst ein geringer Anteil dieses
                vergifteten und zu Brot verbackenen Korns löst die
                Krankheit aus. Im Verlauf von Epidemien litten ganze
                Dörfer an Krämpfen, Halluzinationen und an
                Gewebsnekrose, die zu einer tödlich verlaufenden Fäulnis
                der Glieder führte. Vor allem im 10. und 11. Jahrhundert
                wird Europa von durch den im Mutterkornpilz enthaltenen
                wirksamen Bestandteil Ergotin hervorgerufenen
                Ergotismus-Epidemien, der sogenannten
                Kriebelkrankheit, geplagt (Rückenmark- und
                Gehirnerkrankung, Ergotismus convulsivus mit Krämpfen,
                Ergotismus gangraenosus mit Brand der Finger oder
                Zehen). 
                
                Erst um 1600 kamen Gelehrte wie Adam Lonicerus und
                Caspar Schwenckfelt der Krankheitsursache näher. Schon
                die Römer wußten, daß man die schwarzen Körner nicht
                ausmahlen und essen durfte; kam es vor, daß spielende
                Kinder diese vergifteten Körner aßen und daran starben,
                hieß es, daß die »Roggenmuhme«, eine ausgezehrte Alte
                mit schwarzen Brüsten und schwarzem Haar, geholt habe.
                Roggen, aus einem orientalischem Wildkraut
                hervorgegangen, verbreitete sich in Mitteleuropa, als
                sich beim Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit (etwa
                600 v. Chr.) die Temperaturen abkühlten und die
                Niederschläge zunahmen. 
                
                Die »Hexen« wußten, daß das Gift des Mutterkorns zur
                Zusammenziehung der Gebärmutter führt und gaben
                Mutterkorn, wenn sie eine Abtreibung herbeiführen
                wollten. Heute werden in den USA jährlich über eine
                halbe Million Kilogramm Mutterkorn eingesammelt, weil
                die in ihm enthaltenen Alkaloide für bestimmte
                Medikamente unentbehrlich sind.      
                  
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                21 England war im 13. und 14. Jahrhundert der führende
                Wolle-Exporteur nach Flandern und Italien, den
                Hauptzentren der europäischen Textil-Industrie;
                englische Wolle galt als die beste. Bekanntlich sitzt
                (oder besser: lagert) seit jenen Zeiten der Lordkanzler
                im Oberhaus auf einen Wollsack, um die Bedeutung der
                Wolle für Englands Reichtum zu dokumentieren. Die
                Schafzucht verdrängte den Ackerbau, die Spezialisierung
                führte zu einer Proletarisierung der Bauern und zur
                Flucht in die Städte, was wiederum Voraussetzung für
                die Ausweitung der Textilindustrie war. Aufgrund einer
                Krise der diesen Fernhandel finanzierenden italienischen
                Banken im Gefolge der Pest verlegte sich England
                darauf, die produzierte Wolle im eigenen Lande
                weiterzuverarbeiten.         
                      
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                22 »Zweiundvierzig« ist bekanntlich der Sinn des Lebens
                wie »Deep Thought« nach 7,5 Millionen Jahren Rechenzeit
                verkündet; denn dreimal 14 Vorfahren nennt Matthäus (und
                unterschlägt hierbei drei).
                
                Ein kleiner Ausflug zur Lebenserwartung: Die
                Sterblichkeit in Agrargesellschaften ist höher als in
                Jäger- oder Sammlergemeinschaften; der wichtigste Grund
                hierfür ist die erhöhte Bevölkerungsdichte, wodurch die
                kritische Masse erreicht wird, die parasitäre
                Mikroorganismen benötigen, um dauerhaft in einer
                Population zu überleben. Auch die Geburtenrate ist in
                Agrargesellschaften höher; das seßhafte Leben erlaubt
                es, die Intervalle zwischen den einzelnen Geburten zu
                verkürzen, was wiederum die Fruchtbarkeit pro Frau
                erhöht. Seßhaftigkeit bedeutet, daß man das Kind nicht
                mit sich tragen muß und zugleich in einem sehr frühen
                Lebensalter stärker für Aufgaben herangezogen werden
                können, so daß sie keine ökonomische Belastung
                darstellen. In Agrargesellschaften steht außerdem
                gekochter Brei und (vielfach) Milch zur Verfügung, was
                die Stillzeit herabsetzt. 
                
                Die Nahrungsbasis von Agrargesellschaften ist schmaler
                und anfälliger als in Jägergesellschaften. Ein schon
                fast klassischer Beleg ist die irische Hungersnot in der
                Mitte des 19. Jahrhundert (einen Gegenbeweis können die
                Maoris und andere Menschenfressergesellschaften liefern,
                die sich ihre Nahrung im Nachbardorf holten).
                Agrargesellschaften sind abhängiger von
                Wetterbedingungen und von Schädlingsbefall. Auch
                gewaltsame Auseinandersetzungen (Krieg) dezimieren
                direkt die agrarische Bevölkerung stärker, abgesehen von
                der mittelfristigen Wirkung von kriegsbedingten
                Mißernten. Dennoch: Die Bevölkerung wuchs von
                geschätzten vier Millionen vor 10.000 Jahren auf rund
                500 Millionen vor Beginn der Industrialisierung. 
                        
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                23 Auf Knochenfunde gestützt betrug die
                durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes im
                Paläolithikum – da tauchten die Prä-Neandertaler auf –
                etwa 45 Jahre und die der Frau etwa 30 Jahre. Da die
                Gene sich immer noch an dieser Lebenserwartung
                ausrichten, ist es erklärbar, wenn nach diesem Alter
                die Jugendlichkeit abnimmt und das Ersatzteillager zu.
                Von den Neandertalern stammen die heutigen Menschen
                nicht ab.  
                
                Nach neueren Untersuchungen an der Universität
                Bradford/Großbritannien ist nicht auszuschließen, daß
                die bisherigen Lebensdauerbestimmungen jedoch zu
                niedrig angesetzt sind, weil sich das bisherige
                Verfahren auf zu wenig gesicherte Daten stützt. Frauen
                werden mindestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts älter
                als Männer, weil zum Beispiel Mädchen seltener den
                Kindstod sterben und Buben häufiger als Madeln bei
                Unfällen umkommen. Und: Die Mehrfachbelastung von
                »Kinder, Küche, Karriere (= Beruf)« ist möglicherweise
                gesundheitsfördernd neben dem geringeren Alkoholkonsum,
                der ausgewogeneren Ernährung und der stärkeren
                Aufmerksamkeit der eigenen Gesundheit gegenüber. 
                
                Simone de Beauvoir in »La force de l’âge«: 
                
                »Infolge der schweren Arbeit, der Unterernährung, der
                schlechten Gesundheitspflege nutzte man sich sehr rasch
                ab. Bäuerinnen waren mit 30 Jahren alte Frauen, runzlig
                und gebeugt ... Selbst Könige, Adlige, Bürger starben
                zwischen 48 und 56 Jahren. In das öffentliche Leben trat
                man mit 17 oder 18 Jahren ein, die Beförderungen
                erfolgten früh. Vierzigjährige hielt man schon für
                Grauköpfe. ... Mit 50 Jahren hatte man keinen Platz mehr
                in der Gesellschaft.«  
                
                Arno Borst schreibt: »Man darf annehmen, daß im
                Mittelalter ... die Hälfte der Gesamtbevölkerung jünger
                als 20 Jahre war; graues Haar war kostbar.« Und heute?
                Heute wird man mit 54 Jahren »vorpensioniert«. 
                          
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                24 Georg Lasson (1897): »Aber der schrecklichste der
                Schrecken ist die Wissenschaftlichkeit der Weiber.«
                Der Prophet Daniel: »Die Gewalt über die Königreiche
                wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden.«
                        
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                25 Man möge bedenken, daß der Abfall von Rom erhebliche
                wirtschaftliche Folgen in Italien nach sich zog, da die
                Pilgerströme sich drastisch verringerten. Buttergenuß
                war übrigens während der Fastenzeit verboten; die
                Alternativen? Italienisches Olivenöl! Vielleicht haben
                sich schon damals die Italiener angewöhnt, nur das
                minderwertige Olivenöl über die Alpen zu schaffen, denn
                noch im 15. Jahrhundert gab es in England eine Redensart
                »as brown as oil«:  
                
                Angeblich träumte den Nordeuropäer von einem geruchs-,
                farb- und geschmacklosem Öl, weil das, was sie bekamen,
                trübe, herb oder sauer war. Die zweite Möglichkeit war
                die Entrichtung einer flugs eingeführten Buttersteuer
                (siehe Tour de Beurre in Rouen). Gerade zur Fastenzeit
                breiteten sich manche durch Läuse übertragenen
                Krankheiten epidemisch aus, denn nun fehlte auch die
                Butter, die man sich ins Haar schmierte und welche die
                Läuse fernhielt. 
                
                Umgekehrt machten sich die Protestanten Sorgen, falls
                Italien vom katholischen Glauben abfallen würde.
                Alexandre Dumas fabulierte im »Le grand dictionnaire de
                cuisine«, 1873 über ein (angebliches) Gespräch zweier
                Londoner Kaufleute: »Wären Sie denn traurig, die Schar
                der guten Protestanten vergrößert zu sehen« »Nein«,
                antwortete der andere, »aber was machen wir mit unserem
                Hering, wenn es keine Katholiken mehr gibt?« 
                
                Ist das die einfache Erklärung über den Niedergang der
                Cuxhavener Fischindustrie? Die Kirchenaustritte in der
                Bundesrepublik? Oder liegt es an den Subventionen für
                »Daukos« von Fischfabriken auf Rügen?    
                      
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                26 Detaillierte Informationen zur »Klimageschichte
                Mitteleuropas« sind zu finden in Rüdiger Glasers
                gleichlautendem Buch.         
                    
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                27 Damals kämpften Hamster, Ratten und Mäuse auf der
                  einen Seite und der Mensch auf der anderen Seite um
                  das gemeinsame Essen, um die Körner vom Felde: Den
                  größten Teil der Ernte fraßen die Nager – auf dem Feld
                  oder im ungesicherten Vorratsverschlag. Getreide wurde
                  zermahlen mit den anderen Kräutern des Feldes und war
                  dadurch minderwertig. Was die Ratten nicht mochten,
                  fraßen die Schnecken (Gemüse) und die Vögel (Obst) und
                  das Wild aus dem Wald. Und: Heutzutage legt ein Huhn
                  mehr als 200 Eier im Jahr – damals und bis in die
                  Neuzeit hinein nur etwa 50–60 Eier. Heute gibt eine
                  »normale« Kuh etwa 7000 Liter im Jahr, noch vor
                  wenigen Jahrzehnten waren es weniger als 2000 Liter.