Kontakt /
                contact      Hauptseite / page principale / pagina principal /
                  home     zum
                Europa-Index 1850-2000      
<<        >>

Kartoffel-Geschichte Furche 1.11. GB, England und Nord-"Amerika"

präsentiert von Michael Palomino 2019

damit gutes Wissen nicht verloren geht

aus: Klaus Henseler: Kartoffel-Geschichte: Auf den britischen Inseln und im Norden "Amerikas":
https://web.archive.org/web/20120118185926/http://www.kartoffel-geschichte.de/Erste_Furche/Bei_den_Flamen/bei_den_flamen.html

Teilen / share:

Facebook







Kartoffel-Geschichte 1.11. GB, England und Nord-"Amerika"

Während des gesamten Mittelalters und bis weit ins 17. Jahrhundert hinein bestand die Nahrung der Engländer aus einigen Gemüsesorten und Sala­ten:­ Es gab Karotten, Knoblauch, Steckrüben, Kohl und Pastinak [1]. Skorbut war chro­nisch; Zeit­genossen­ berichten, daß die Engländer Mund­geruch (»Gra­veolentia oris excusata«) hatten, ihre bleiche Haut die Blutarmut dokumentierte und die Füße geschwollen waren. Diese Beschreibung wird wohl auch für die Menschen auf dem Kontinent gegolten haben. Aber: Da kommt die vornehm zurückhaltende Art der Engländer, das bekannte »under­statement« her, die Ausstrahlung – möglichst weit weg vom Gegenüber – geordnet in der Schlange (queue genannt) an der Bus­haltestelle [2].

In dem Bericht über die Pest in London 1664/1665 gibt Daniel Defoe eine offizielle Statistik der Londoner Behörden wieder, nach der in der Zeit vom 1. August bis 26. September 1665 insgesamt fast eintausend Menschen an Zahnfäule ge­storben seien; zwar zweifelt Daniel Defoe diese Zahl an und meint, vielfach sei die Todesursache die Pest ge­wesen [3], andererseits war der Tod durch»Zahn­fäule« (ein Merkmal des Skorbuts ist das Aus­fallen der Zähne) so üblich, daß er als Todesursache glaubwürdig herangezogen werden konnte.


Flüchtlinge aus den Niederlanden, die im Zu­sammenhang mit den Unter­drückungsmaßnahmen der Spanier (1568 bis 1572) unter Herzog Alba nach England kamen, brachten die Idee des Gemüsegartens mit. Bereits vorher hatteKatharina von Aragón, erste Königin von Henry VIII., flämische Gärtner geholt, die für sie Gartengemüse (aber keine Kartoffeln!) anpflanzten. Die letzte Gemahlin (und einzige Über­lebende) des»flotten Harry«, Cathe­rine Parr, ließ sich einige ­Jahre später Gemüse – ins­besondere grünen Salat – aus Flandern kommen, denn noch 1651 war Gemüse in England eine Rarität, die aus Holland und Flandern importiert werden mußte. Redcliffe N. Salaman, der englischer Kartoffel-Historiker, bewertet diese Zeit mit: »The gour­mand of the Middle Age had become the gourmet of the Renaissance«. Die Engländer, in deren Ernährung bis zu diesem Zeitpunkt Gemüse eine geringe Rolle einnahm, gewannen durch ­diese flandrischen Exilanten, ohne daß sich dies in der Küche des Volkes bemerkbar machte.

Auch die Süßkartoffel wurde importiert und kam gegen Ende des Jahr­hunderts auf die Tische des Adels und des wohlhabenden Bürgertums – als wertvolles Aphrodisiakum. Der Topi­nambur, in England auch»La Truffé du Canada« genannt, wurde seit etwa 1620 an­gebaut und ebenfalls als Aphrodisiakum eingesetzt. Die Kartoffel, unsere Kartoffel, war so bekannt, daß man bereits Ver­­gleiche ziehen konnte, denn ein Sir Thomas Over­bury (über­setzt »Übergrab«!) soll bereits 1613 gespottet haben:
»Ein Mann, der nichts hat außer seine illustren Vorfahren ist wie eine Kartoffel – das Beste von ihm liegt unter der Erde.«

Wie für den Kontinent ist auch für England fest­zuhalten, daß die Kartoffel erst rund einhundert Jahre nach ihren ersten Importen aus der Neuen Welt angebaut wurde. Eine der ersten Kartoffel-Liefe­rungen soll von John Hawkins, einer der Hauptverantwortlichen des britischen Sklaven­handels, nach Irland gebracht worden sein [4]; Haw­kins lud diese Kartoffeln in Santa Fé an Bord und ­brachte sie in Halifax an Land:
»These potatoes be the must delicate roots, that may be eaten. And do far exceed our parse and caroots. The pines be of the bigness of two fists, the outside whereof is of the making of a pineapple, but is soft like the rinde of coucomber and the inside eathelike an apple, but is more delicious, than any sweet apple suggarect.«


Das ist ganz eindeutig nicht die Beschreibung der andinischen Kartoffel. Hawkins meint, daß die Süßkartoffel »die delikateste Wurzel sei, die man ­essen könnte«; so würde man ganz sicher damals (und auch heute) nicht die andinische Kartoffel charakterisieren! Sicher ist nur, daß Haw­kins als erster Raucher in die englische Geschichte eingehen kann. Glaubhafter ist, daß die Kartoffel von Raleigh nach Irland gebracht wurde.

Eine andere Version über die ersten Kartoffeln in Irland lautet, daß diese als Schiffsverpflegung auf der spanischen Armada verwendet wurde und, als die Flotte 1588 von Sir Francis Drake [5] auf den Grund der Irischen See geschickt wurde, einige Kisten mit Kartoffeln – in der Armada als Ver­pflegung der Mannschaften mitgeführt – an die Küste gespült wurden; diese sollen die Iren [6] auf den Geschmack der Knolle gebracht haben. Auch über England wird berichtet, daß die Kartoffel gleichfalls durch Angehörige der spanischen Armada gebracht wurde. Dem tumben Philipp II. von ­Spanien, weil der sich die Armada ver­senken ließ und vielleicht ein paar Schiffbrüchige an einer Kartoffelkiste ge­klammert unbemerkt ans irische Ufer schwammen, wider Er­warten über­lebten und stiekum Kartoffeln an­bauten, die später die Iren aßen, gebührt diese Ehre jedoch nicht.

Die Geschichten sind unglaubwürdig, auch wenn es zeitlich so sein könnte. Man stelle sich vor: Schiff strandet, die Iren rennen an den Strand, schlagen die letzten Über­lebenden tot [7], plündern die Leichen, sammeln das Treibgut zusammen und finden – siehe da (Hey, I spot the first irish potato) – irgend­welche braune oder rote Knollen, vom Seewasser versalzen. Sie beißen rein, die Kartoffel schmeckt roh und mit Schale nicht, also weg damit!? Die Iren hätten wissen müssen: Diese runde Knolle schmeckt erst nach dem Kochen, muß gepflanzt werden, muß gehäufelt werden, die ­Beeren dürfen nicht gegessen werden, nächstes Jahr wieder ausbuddeln, kochen, erst jetzt essen. Undenkbar, eine Kartoffel ist ja schließlich trotz der Namens­ähnlichkeit kein Apfel. Aber so wird diese Geschichte immer wieder erzählt. Kann ein Historiker glauben, daß die Kartoffeln an die irische ­Küste gespült wurden wie Treibsel ins Watt bei Cux­haven?

Den Preis für die erste Kartoffel in Irland gebührt also eindeutig Raleigh. Alle anderen ­Theorien des ersten zufälligen Kartoffelimports auf die britischen Inseln (Drake, Hawkins oder Clusius) weist Salaman in das übliche Meer der Geschichten. Dagegen schreibt Rudolf Zacharias Becker.

»Die Kartüffeln, Tartüffeln, Erdtüffeln, Erd­birn, Grundbirn (welche auch an einigen Orten­ fälschlich Erdäpfel genannt werden) sind eine gar herrliche Frucht, wofür man Gott und dem holländischen Admiral Francis Drake, der sie Anno 1586 zuerst aus Amerika mit­gebracht hat, nicht genug danken kann.«
 
Francis Drake war ein Seeräuber [8], ein Filibuster oder Flibustier, ein Meer­schäumer (wie es damals hieß), ein»sea dog«, mit königlichem Kaperbrief. Es war unter bestimmten Umständen und zu bestimmten Zeiten ein durchaus ehren­werter Beruf, wenn man im Auftrag der Regierung, mit einem Kaperbrief und vorfinanziert von der Londoner City, aus­geübt wurde; das Geschäft mit der Piraterie brachte einen­ Jahresumsatz von (damaligen) zweihunderttausend Pfund, von dem die Krone ein Fünftel abbekam. Klaas Störtebeker, ein paar ­Jahre vor Drake und anderen, besaß bedauerlicherweise nicht die Lizenz zum Plündern, wenn er mit den Vitalienbrüdern, den Likedeelern, den Freibeutern [9], unterwegs war.

Francis Drake soll die ihm seit seiner Expedi­tion (oder besser: Seeräuberei­reise) nach Peru (1577 [10]) bekannte Kar­toffel 1586 an Thomas Hariot (Har­riott, Heriot, Herriot) [11], einem englischen Mathematiker und Naturforscher und Beauftragten Raleighs, weiter­gegeben haben; so wird die Ge­schichte von dem Engländer Pink erzählt. Es ist davon aus­zugehen, daß Drake Süßkartoffeln mitbrachte, da er ursprüng­lich an den Küsten von Virginia, nördlich von Florida, seeräuberte. Francis Drake hatte 1586 wieder einmal Siedler nach Virginia [12] ge­bracht, nachdem er vorher an der südamerikanischen Küste seinen Geschäften als Flibustier nachgegangen und auf der Insel Mocha war; er bekam die Kartoffel wahr­schein­­lich von der dort lebenden Indianernation der Unalachtagi, einer Unter­gruppe der Delaware, die neben Mais als Hauptnahrungsquelle auch Süßkartoffeln an­bauten.

Nach anderen Hinweisen soll es sich um eine Untergruppe der Algonkin-Nation ge­handelt haben. Die Indianer-Nation der Wam­pa­noag unterwies die Siedler im Anbau von Mais und dessen Zubereitung; Powhatan-Indianer, aus der die arme Poca­hon­tas [13] stammt (keine Film­figur von Disney, sondern eine gegen ihren Willen zweimal mit weißen Siedlern ver­heiratete Häuptlings­tochter, die ins feuchte London verschleppt ­wurde und dort starb), zeigten den Anbau der Süßkartoffel.

Hariot beschreibt in seinem »A Brief and True Report ...« eine Pflanze namens Openauk, die ­keine Kartoffel, sondern die Leguminose Glycine apios ist und den Indianern in Virginia als Hauptnahrung diente.

Dem Drake wurden als angeblichem Entdecker der Kartoffel Denkmäler gesetzt und Sprüche geklopft, und 1839 schloß ihn Pfarrer Justus Günther Friedrich Voss aus Badbergen bei Münster in sein Nachtgebet ein: »Ad maiorem Tuberosi gloriam«. Ein Standbild, aus Sandstein gemeißelt, wurde 1853 vom Bildhauer Andreas Friedrich aus Straßburg der Stadt Offenburg in Baden geschenkt (genannt »Der Kartoffel­mann«); das Denkmal zeigte Francis ­Drake mit einer blühenden und knollen­tragenden ­Staude in der Hand:

»Dem bitteren Mangel steuert die köstliche Gottesgabe als des Armen Hilfe gegen Not. Der Segen von Millionen Menschen, die den Erdball bebauen. Dein unvergänglicher Nachruhm.«

Es ist sicher, daß ein solches Denkmal demDrake nicht zustand. Nazis rissen es in der Nacht zum 9. November 1939 ab, »weil man einem Ausländer keine Denkmäler setzt«. In dem Lehrbuch »Pflanzen­züchtung« von Friedrich Reinöhl steht 1935:
»Nicht richtig ist, daß wie lange angenommen, Drake die Kartoffel zuerst nach ­Europa eingeführt habe. Es steht heute fest, daß etwa um 1560 ein spanisches Schiff die Kartoffel erstmals nach Spanien gebracht hat; etwas später kam offenbar eine etwas andere ­Sippe derselben Art nach England.«

Dem »perfiden Albion« wird der Kartoffelblüten-Kranz nicht zuerkannt, ein mit Nazi-Deutschland verbündeter Spanier kann damit mehr anfangen! Das ist eine Art von vorauseilender Wissenschaftlichkeit.

Ein anderes Denkmal fürDrake steht in Ply­mouth in England. Auf einer weiteren Gedenk-Tafel für Francis Drake am Heimatmuseum Hirschhorn im Odenwald heißt es:
»Anno 1586 wurde durch Franz Drake

und von Gott gegeben

die Kartoffel für reich und arm

Herz und Seel dankt für dich

vom Fürsten bis zum Bettler.«

Voltaire: »Et voilà justement comme on écrit l’histoire.«

Samuel Friedrich Sauter am Anfang des 19. Jahrhunderts:

»Welch ein Gewächs hat Drake uns mit

dieser Frucht geschenket

Sagt, Freunde, ist er es nicht wert,

daß jeder sein gedenket?

Europa sollte diesem Mann auf allen

seinen Auen,

wo es nur je Kartoffeln pflanzt,

ein goldenes Denkmal bauen.

Franz Drake sollte sonderlich in

Pfarrershäusern thronen,

ihr Zehntertrag vermehrte sich durch ihn zu

Millionen.

Den Katholiken sollte er in ihren

Wand­gemälden

so viel als wie ein Heiliger in der Verehrung

gelten.

Die Protestanten sollten ihn wie ihren

Luther schätzen,

ihn sollten auch die Juden kühn zu ihrem

Mose setzen.

Ein allgemeines Lob verdient der würdige

Franz Drake,

vom Fürsten bis zu dem,

der g’winnt das Brot mit seiner Hacke.«


Wie sagte Heinrich Heine:

»Luther erschütterte Deutschland – aber Francis Drake beruhigte es wieder: Er gab uns die Kartoffel.«.

Ein deutsches Kinderlied zu Ehren desFrancis Drake beginnt mit:
»Franz Drake war ein braver Mann,

er brachte die Kartoffel an.«

Ein weiteres Kartoffellied aus dieser Zeit.

»Gott hat das liebe Brot zur Nahrung uns gegeben.

Wieviel Millionen Menschen sind,

die von Kartoffeln leben?

Von Straßburg bis Amsterdam,

von Stockholm bis Brüssel

Kommt Johann nach der Abendsupp‘

mit der Kartoffelschüssel.«

Rund zehn Jahre nach Francis Drake berichtet Master Petty (1587) über die Weltreise von Thomas Cavendish, der auf der Insel Santa Maria bei Concepción (Chile) Strohkörbe mit »potato rootes« findet und sich damit verpflegt, »which were very good to eat«. Bemerkenswert ist an seinem Bericht, daß auf der Insel Santa Maria (37° S) Fässer aus Stroh für die spanischen Schiffe angefertigt wurden, als Tribut der indigenen Bevölkerung an die Eroberer. Daraus ist zu schließen, daß die Kartoffel in jedem Fall zu diesem Zeitpunkt als Schiffsproviant auf spanischen Schiffen verwendet wurde. Da ist es doch selbstverständlich, daß eine solche Wurzel auch auf der anderen Seite der Welt, auf den kanarischen Inseln oder gar in spanischen Hafenstädten, angebaut wurde.


Raleigh soll nicht sehr erbaut gewesen seinüber die Kartoffel, denn Hariot gab ihm angeblich die Kar­toffelsamen, nicht die Knollen, zum Essen. Auch wenn Walter Raleigh danach an Magen­beschwerden ge­litten haben soll, in Irland, auf seinem Gut Myrtle Grove in Youghal, ließ er ab 1587 die Kartoffel anbauen, brach aber diese Bepflanzung schon nach zwei Jahren wieder ab; er selbst aß (angeblich – so wird kolportiert) nie wieder Kartoffeln. Raleigh, der Bürge­r­meister von Youghal und »Great Earl of Cork« wurde, verkauft sein Grundstück etwa 1604 an Richard Boyle, der 1616 Lord Boyle und 1620 Earl of Cork wird. Der Präsident der »Royal Society«,Sir Robert Stillwell, behauptet 1693, daß sein Großvater die Kartoffel nach Irland gebracht habe, Kartoffeln, die dieser von Raleigh erhalten habe – und das sei 1586 geschehen?!

Seiner Königin Elisabeth I. soll Walter Raleigh einige Kartoffeln zum Ge­schenk [14] gemacht haben, aber die nichtsnutzigen Köche warfen die Knollen weg, so daß Elisabeth nur eine bitter schmeckende Suppe aus den Blättern erhielt, die ihr nicht bekam.[15] Auf einem Festmahl (am 4. April 1581 in London) soll die »batate«, also ganz eindeutig nicht die andinische Knolle, sondern die Süß­kartoffel, gereicht worden sein. Richtig ist: Auf der erhalten gebliebenen Speisenkarte dieses Essens wird weder die Kartoffel noch die Süßkartoffel aufgeführt – die ganze Geschichte stimmt also nicht. Die Erhebung in den Adelsstand hat Raleigh sicher nicht der Kartoffel zu verdanken – für Elizabeth lagen seine Verdienste in einem ­anderen Gebiet.

Dies ist auch eine der vielen Geschichten über die Kartoffel, die unglaubwürdig ist: Da Walter Raleigh unstrittig wußte, wissen mußte, daß die Knollen der eßbare Teil der Pflanze waren, so wird er wohl nicht die Blätter oder Beeren zum Kochen gegeben haben und schon gar nicht bei einem Festmahl mit seiner Königin. Raleigh wollte doch seiner Königin Elisabeth imponieren und nicht vergiften! Und der Königin müssen die Knollen wohl geschmeckt haben, denn später heftete sie zwei Rittern als Zeichen höchster Gunst eine Kar­tof­felblüte an den Wams.

Georg Lichtenberg schreibt 1789:

»Als die ersten Kartoffeln nach England ­kamen und auf Sir Walter Raleighs Gütern angebaut wurden, verstund man den Nutzen so wenig, daß man glaubte die grünen Äpfelchen wären die eigentliche Frucht, und bloß durch einen Zufall kam man darauf, die Wurzel zu nützen.«


Na, so war’s wohl nicht.

Zur Zeit Königin Elisabeths I. wandte man sich auch auf den britischen Inseln mit großem Eifer der Blumen­zucht zu. 1586 wurde die Holinshedsche Chronik durch William Harrison neu verlegt, in der ein Abschnitt über die Einführung­ neuer Kräuter, Pflanzen und Früchte aus Indien, Amerika und den Kanarischen Inseln nach England ein­gefügt ­wurde:
»Gibt es doch fast keinen Edelmann oder Kaufmann, der nicht einen großen Vorrat an Blumen hat, die allmählich so mit unserem Boden vertraut werden, daß wir sie als ­einen Teil unserer Gewohnheiten ansehen. Ich habe in manchen Gärten 300 oder 400, wenn nicht mehr Arten gesehen, von deren Namen man vor 40 Jahren noch keine Ahnung hatte.«

Gartenbau, Gartenarchitektur und Gartenkunst regten Schriftsteller an, sich zu die­sem Thema zu äußern. George Peele, einer der Dichter-Kollegen Shakes­peares, dichtet 1591 in einem Gespräch zwischen einem Gärtner und Königin Elisabeth:
»Als die Hügel abgetragen und der Grund geebnet, teile ich ihn in vier Abteilungen. In der ersten bildete ich ein Labyrinth, doch dieses nicht aus Hopfen und Thymian, sondern aus den Blumentugenden, Grazien und Musen, die Eure Majestät umschweben.«

Der Durchschnittsgarten in England war ganz eben, ein Quadrat und dieses Quadrat durch Wege in vier weitere geteilt: Quadratisch, praktisch, gut oder so ähnlich. Wir verweisen hier auf Olivier de Serres in Frankreich.

Während der Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel die Kartoffel seinen Verwandten noch als Gartenschmuck sandte (zum Beispiel 1566), wurde die Kartoffel in Irland bereits feldmäßig angebaut. Irland ist eine Ausgangsstation für die Einführung der Kartoffel in Deutschland: Deutsche Söldner kämpften in Irland auf Seiten Cromwells gegen Jakob II. und wurden mit Kartoffeln verpflegt. Im Spanischen Erbfolgekrieg lernen deutsche Söldner in den Niederlanden gleichfalls die Kartoffel kennen. Die Kartoffel war hervor­­ragend geeignet für die Verpflegung der Söldner: sie war überall zu finden, schnell sättigend, einfach wie Getreide zu trans­portieren und in jedem Topf mit Wasser zu­zubereiten.


William Shakespeare(unser Göthe nennt ihn ein­gedeutscht Schäkespear), der die Kartoffel wohl nie gesehen und auch nicht gegessen hat, läßt den Falstaff im Jahr 1600 im »Globe« in Stratford-upon-Avon in »The Merry Wives of Windsor« sagen:
»Let the sky rain potatoes; let it thunder to the tune of ›Green Sleeves‹, hail kissing-confits, and snow eringoes; let there come a tempest of provocation, I will shelter me here.«
(«Laßt den Himmel Kartoffel regnen; lass es donnern zum Lied "Grünes Kleid", und Kußkonfekt hageln, und lass es Eringoblumen schneien; komme ein Sturm mit Gefahren, ich werde mich hier schützen gehen«).

Aber damit ist eher der Topinambur denn die Süßkartoffel (und schon gar nicht die andinische Kartoffel) gemeint, der im da­maligen England als Füllmasse für Konfekt aller Art verwendet wurde.

Shakespeare muß beim Schreiben dieses Stücks just über Gagenforderungen seiner Schauspieler, die in der »Actor’s Union« organisiert waren, gewütet haben oder über kritische Zuschauer. Man stelle sich eine Theaterbühne im Freien vor, und es hagelt Kartoffeln, während – zugegeben: bei einer anderen Gelegenheit – jemand sagt »To be or not to be«. Aber auchShakespeare hielt die süße Kartoffel für ein teures Aphrodisiakum, so wie zweihundert Jahre später wohl die Böhmen die Kartoffelknödel.

In »Troilus und Cressida« (1602) ruft Thersites (und er will damit an die Knolle als phallisches Symbol erinnern):
»How the devil luxury, with his fat rump and potato-finger, tickles these together! Fry, lechery, fry.«

Die konven­tionelle Shakespeare-Forschung hat hier übersehen wollen, daß es sich ganz eindeutig um eine homo-erotische Aussage handelt, daß sich hier Shakespeare outet; wohl nicht umsonst ­wurde der »größte aller Wortspieler« (so Dietrich Schwa­nitz) von Ben Johnson »Süßer Schwan von Avon« genannt [16].

Für die Ge­schichte der Knolle spielt es keine Rolle, ob der Sohn eines ungebildeten Bauern und Handschuhmachers, Wil­liam Shakespeare, diese Zeilen schrieb, oder Francis Bacon oder Edward de Vere, [17]. Earl of Oxford: Anfang des 17. Jahrhunderts wird die Kartoffel jedenfalls bei den elisabethanischen Theaterschreibern erwähnt. Shakespeare spricht auch vom ­»potato finger« und meint damit einen »fat finger«, wobei zu seiner Zeit »fett« und »reich« Synonyme ­waren. »Small pota­toes« meinen da­gegen im heutigen Nord-Amerika, das es sich um eine Sache von geringer Bedeutung han­delt.

In einer englischen Übersetzung von Plautus’ »Menaechmi« im Jahr 1592 wird ein (römisches) Festmahl der (damaligen) Gegenwart angepaßt: Es gibt Austern (Aphrodisiakum), Artischocken und Kar­toffeln (noch ein Aphrodisia­kum): Damals schloß sich einem anständigen Mahl noch eine andere Lust­bar­keit an, was ja wohl im drive-in eines McDonald-Restaurants17 nicht gut mög­lich ist. Und inJohn Marstons Satire von 1598 »The Scourge of Villanie« werden »kandierte Kartoffeln« der »athenischen Kultur« gleich­gesetzt.

Auch in den Theater­stücken vonRobert Greene (1592), George Peele (1599) oder Ben Johnson (1601) wird die Kar­toffel er­wähnt. George Chapman (»May Day« 1611) zeigt in einer Szene ein Bankett, zu dem ­neben Austern und Rüben auch Kartoffeln gereicht werden.

In dem Stück »The Loyal Sub­ject« von John Fletcher aus dem Jahr 1617 empfiehlt ein Hau­sie­rer »your Lordship please to taste a fine pota­toe« und 1632 – das Stück beinhaltet wieder (wie ­meistens in elisabethanischen Stücken) ein Fest­essen [18] – schreibtPhilip Massinger «A New Way to Pay Off Old Debts« ein paar Zeilen über »potatoe-roots«, aber ohne auf die aphrodisischen Folgen des Knollenverzehrs hinzuweisen.

Der EinflußShakespeares auf den Kartoffelverzehr möge wahrlich nicht unterschätzt werden, denn es ist auch nicht auszuschließen, daß die Bezeichnung »pommes frites« von Schloß »Pomfret« herrührt, dem Schloß, in dem Richard II. von Exton umgebracht wird. Oder nach der Burg selben Namens, in dem in »Richard III.« Rivers, Grey und Vaughan ermordet werden [19]. Oder kommt die Bezeichnung von Friedrich II., vom »Alten Fritz«, vom »Ollefritz«, vom »Kartoffel-Fritz«?

Ludwig Erhard – noch ‘n Gedicht:
»Vom Alten Fritz, dem Preußenkönig,

Weiß man zwar viel, doch viel zuwenig.

So ist zum Beispiel nicht bekannt,

Daß er die Bratkartoffel erfand.

Drum heißen sie, das ist kein Witz –

›Pomm-Fritz‹.«

Zum Ende des 16. Jahrhunderts (1577) schreibt bereitsWilliam Harrison in seiner »Description of England«, daß die Kartoffel und andere »venerous roots« aus Spanien, Portugal und aus »Indien« »manch Festbankett schmückt«. 1620 lobt Tobias Venner, ein Mediziner mit besonderem Interesse für Hygiene und Ernährung, in seinem »Via Recta ad Vitam Longam« die Kartof­feln für ihre Qualitäten und ihrem Nährgehalt; in der zweiten Ausgabe (1650) wird ergänzend darauf hingewiesen, daß die Kartoffel die »Venus aufwiegelt«.

Der aus einer aristokratischen und wohlhabenden irischen Familie stam­mende Physiker Robert Boyle [20] berichtet 1623 vor der »Royal Society« in London, die Kartoffel habe in den vorangegangenen Hungerjahren Tausenden von Irlän­dern das Leben erhalten. Boyle spricht von der Süßkartoffel, die er »Con­vulvus batata« (Konvulsionen sind Krampferscheinungen des Körpers oder eines Körperteiles) nennt.

In Lancashire wird erzählt, daß 1565 ein irisches Schiff wenige Meilen vor Birkdale (im Bezirk Formby) gestrandet sei und damit die Kartoffel England erreichte; mag sein, aber deshalb wurde sie noch lange nicht angepflanzt. Lancashire ist der erste Platz, an dem in England Kartoffeln angebaut wurden. Ein gutes Jahrhundert später erst wird davon berichtet, daß 1673 und 1674 Dame Sarah Fell of Swarthmore Hall »pottaties« für ­ihren Garten aufgekauft habe.

1680 sollen auf dem Markt anläßlich des ­heiligen Michaels Kartoffeln verkauft würden. Nach 1684 ist beweisbar, daß Kartoffeln auf schmalen Beetstreifen in der Grafschaft Lanca­shire angebaut werden. 1700 findet im walisischen Bergarbeiter­städtchen Wigan ein Markt für »Kartoffeln und andere Dinge« statt; ein solcher Spezial­markt gilt als Beleg dafür, daß die Stadt­bewohner die Kartoffeln nicht nur kannten, sondern sogar in ihren normalen Essenplan auf­genommen hatten oder wegen der allgemein schlech­ten Wirt­schafts­situation aufnehmen mußten­.

Der Kartoffelanbau war zu jener Zeit im Südwesten der britischen Inseln stärker verbreitet als in Irland. Von hier wurden Kartoffeln nach Dublin (jährlich zwei Schiffsladungen), nach Nordfrankreich (Dünkirchen 1712), aber auch bis nach Portugal (1765) und Gibraltar exportiert.

Hier entstand der auch von vielen Hamburgern so geschätzte Labskaus, nur daß er in England als »Lobs couse«, als »Tölpel-Gericht«, seine Herkunft aus der (spanischen) Seefahrt nicht ver­leugnete und aus der Kom­bi­nation aus Lobster und Kartoffeln ein Arme-­Leute-­Essen war (und ist?). Nur der Smutje weiß, was drin ist.

Arme-Leute-Suppen und -Gerichte fanden mit entsprechenden Änderungen ihren Weg in die Küche der Bürger (wie die Kartoffel); so wurde die Rumfordsche Suppe mit einer zusätz­lichen anständigen Fleischeinlage in die Koch­bücher des 19. Jahrhunderts aufgenom­men und ähnlich die Bouillabaisse, ursprünglich zu­sammen­gekocht aus den ­Fischen, die zu klein oder zu grätig­ waren, als daß man sie den Mittelmeer-Touristen hätte verkaufen können.

1773, ein Hungerjahr, wiederholt sich der Erfolg der Kartoffel in Yorkshire; auch hier sinkt mit dem erfolgreichen Kartoffelanbau der Getreidepreis. Aber weder der zeitlich frühe Anbau noch die verhältnismäßig großen Flächen führen in Lancashire noch in Yorkshire dazu, daß die Kartoffel das Haupternährungsmittel für die Bevölke­rung wurde.John Houghton schreibt 1699:
»Bevor die Kartoffel Nahrung für die Armen werden konnte, mußte es sich als Nahrung für die Schweine bewähren.«

Kartoffeln waren, wenn auch nicht mehr nur auf den Tischen der Reichen, dennoch ein teures Produkt: So kostet 1709 ein Huhn drei Pence, ein Kaninchen vier Pence, ein Pfund Butter viereinhalb Pence und ein Pfund Kartoffeln immer­hin sechseinhalb Pence.


Ein besonderes Augenmerk ist auf die englische Ein­frie­dungspolitik der Ackerflächen zu legen, da diese erhebliche Auswirkungen auf den Kartoffelanbau hatte. Nach 1760 werden in England im großen Umfang Felder und Wiesen ein­gezäunt und freie Viehwirtschaft und freier­ Ackerbau, unterbunden. Zwangs­weise kommt es hierbei zu einer modifizierten Drei-Felder-Wirtschaft, in der Art und Menge von den Gutsherren und der Gemeinschaft der Pächter vor­ge­schrieben wird. Im Ergebnis war die englische Einfriedungspolitik mit preußischem Bauern­legen identisch.21

Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es in England drei Arten von Pachtsystemen

1. Pachtungen auf Willkür (at will), die jederzeit mit einer sechsmonatigen Fristgekündigt werden konnten,

2. Pachtungen auf bestimmte Termine (leases), mit wenigen Ausnahmen nicht länger als sieben Jahre, was dazu führte, daß das Land erheblich Wert verlor, weil die Pächter keine langfristige Ackerpflege betrieben

3. Pachtungen auf Lebenszeit (at life) – zuweilen auch noch auf die Lebenszeit der Kinder und Enkelkinder des ersten Pächters sich ausweitend; solche Verpachtungen erfolgten hauptsächlich auf den Gütern der hohen Geistlichkeit, wobei der Pachtzins ist im allgemeinen »höchst billig angesetzt« wurde, aber vielfach eine Art von »Antrittsgeld« gezahlt wurde.

Albrecht Thaer beschreibt in seinem Bericht über die englische Landwirtschaft [22] die Fruchtfolge auf General Murray’s Farm (1789):
 »1) Weitzen, Hafer

 2) Klee, 1 Bushel Raygras, 12 Pfund weissen Klee und 12 Pfd. Rothen Klee auf den ­Acker gesäet;

3) Wicken, Kartoffel, Rüben.«

Also: Auf der Brache oder auf einen Teil davon wird der Anbau von Kartoffeln erlaubt.

Bereits 1625 ist die Kartoffel in Irland zusammen mit Milchprodukten Grund­nahrungsmittel, wenn nicht sogar ausschließliches Nahrungsmittel, ge­worden. Der aus Breslau stammende ArztWilhelm Kerger schreibt Mitte des 18. Jahrhunderts aus Irland,
»daß die Einwohner am Nördlichen Theile meist davon starck, gesund und vergnügt, fast ohne alle anderen Speissen, ausser Milch, leben.«

Das muß die Engländer geärgert haben, daß die Iren trotz der Unterdrückung immer noch vergnügt sein konnten und nicht in Trübsal verfielen.

Mitte des 17. Jahrhunderts ist denn auch die Kartoffel in weiten Teilen Englands (nicht Wales oder Schottland!) noch immer unbekannt. Für die englischen Bürger blieb es wie es war: Noch 1815 galt die Kartoffel für Wohlhabende als nicht ganz salonfähig.

1662 schreibt ein Mr. Buckland an die »Royal Society of England«, daß der Kartoffelanbau ein Schutz gegen die immer wiederkehrenden Hungersnöte sei. Aufgrund dieses Schreibens beschließt die Royal Society – im ersten Jahr ihrer Ausstattung mit Korporationsrechten durchCharles I. [23] – in ­ihrer Sitzung am 20.März 1662 auf Vorschlag von Robert Boyle den Kartoffelanbau zu fördern – aber auch dies führte nicht zu einem schnellen Wachstum der Kartoffel­felder. Boyle seinerseits war bereits von John Beale auf die Vorteile des Kartoffelanbaus angesprochen worden. Ein Jahr später (1663) emp­fiehlt die »Royal Society« sogar in ihrer Zeitschrift »Philosophical Transactions« den Anbau der Kartoffel, um möglichen Hungersnöten vor­zubeugen.

Charles I. läßt John Trades­cant jun., seinen aus Holland eingewanderten Gärtner [24], Kartoffeln in einem medizi­ni­schen Garten pflanzen; Tradescant berichtet 1656 im »Musaeum Tradescantium« und im »Catalogus Plantarum« über seine Erfolge beim Kartoffel­anbau mit zwei verschiedenen Sorten (weiß- bzw. purpur-blühend). Zur gleichen Zeit empfiehlt Francis Bacon (»Über Gärten«):
»Rasenfläche gewährt ... Vergnügen, ... weil nichts dem Auge wohl­tuender ist als wohlgeschorenes grünes Gras«.

Gartenbau mit den neuen Pflanzen aus aller Welt war der Zeitvertreib für die Oberschicht. Wenn’s – wie das nun mal bei Gärten so der Fall ist – zu langsam voranging mit dem Pflanzenwachstum, dann kann es schon passieren, daß der Lord Salisbury dem König (Jakob I. ) den kunstvoll angelegten Garten mehr oder weniger freiwillig übergeben mußte (wie 1606 geschehen).

Im »Paradisi in Sole Paradisus Terrestris« (1629) ordnet der BotanikerJohn Parkinson die Kartoffelknolle in die Küchengartenpflanzen ein. Parkinson warnt zugleich vor den Folgen, die der Genuß der (giftigen) Beeren für Kinder und andere haben würde.

In einem französischen Flugblatt wird die Kartoffel als ein in England weit verbreitetes Gemüse erwähnt und umgekehrt wundert sich ein Engländer darüber, daß in Paris keine Kartoffeln zu kaufen seien. Es war schon eine wunderliche Pflanze – ein audacis naturae miraculum, ein Wunder der kühnern Natur – die da aus der Neuen Welt gekommen war, wild-aussehend in der Größe eines niedrigen Busches, die gerillten, dicken und behaarten Stiele wuchsen fünfzig, sechzig Zenti­meter hoch und hatten blaßgrüne Blätter. Und wenn die Pflanze reifte, dann wurden die Blüte ersetzt durch eine Traube von zerfurchten, grünen Beeren, die entweder schwarz oder weiß wurden und viele ­flache, runde Sämenkorner enthielten. Und: Die infamen Geschwister der Kartoffel waren Gifte, Narkotika und die Zaubersprüche von Hexen.


In der wissenschaftlichen Diskussion des 17. Jahr­hunderts nimmt der Kartoffelanbau einen immer größeren Raum ein. So weist 1664 John Forster aus Bucking­hamshire in einem besonderen Flugblatt daraufhin, daß Zehntausende in Wales (ein einheimisches Gericht – Kartoffel mit Kaninchen – heißt »Potes Cwnin­gen Cymru«) und England von der neuen Pflanzen leben (könnten): »Potatoes with white and ash-coloured flowers, planted in many fields in Wales.«

John Forster schlägt vor, Pflanzkartoffeln aus Irland einzuführen, und das Recht, diese Pflanzen auch anzubauen, gegen be­sondere Gebühren (fünf Pfund zugunsten der Krone) zu vergeben. Zugleich – so sein Vorschlag – sollte der Verkauf monopolisiert werden, damit der Gewinn für die Pächter ge­sichert werde. Forsters Vorschlag beinhaltet auch eine weitere politische Dimension: Der Knollen-Ver­kauf solle untersagt werden, wenn die Bürger sich gegen die Krone erheben würden oder in anderer Weise Unruhe im Lande herrsche; heute würde ­sicherlich mit Fernsehentzug gestraft werden.

1675 schreibt der Engländer G. W. Gent in ­seiner »Systema agriculturae«, daß die Kartoffel an verschiedenen Plätzen in diesem Land angepflanzt werde und einen guten Ertrag ergäben:
»Sie sind leicht zu vermehren, durch Schneiden der Knolle in ver­schiedene Teile, und jedes Teil wachse so gut wie die gesamte Wurzel. .. Sie werden gewöhnlich mit Butter oder mit Milch gegessen. Er hätte nicht gehört, sie in großen Mengen für die Schweine oder anderem Vieh anzubauen.«

Dagegen empfiehlt er, die Jerusalemer Artischocke­ – »ähnlich der Kartoffel, aber nicht so gut« – als »nachweislich gutes Futter« für die Schweine an­zubauen: sie könnten gepflanzt werden wie die Kartoffeln oder durch Saatgut.

Kartoffeln waren eine kostbare, teure Nahrung zu jener Zeit; es ist an­zunehmen, daß viele Berichterstatter über die Kartoffel – übrigens wie in deutschen Landen – von der neuen Pflanze bestenfalls kosteten, und es handelte sich in dieser frühen­ Zeit zumeist um die »Spanische« Kartoffel, um die Süßkartoffel. 1660 kostet ein (engl.) Pfund Süßkartoffeln zwei bis drei Schilling und selbst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging der Preis nie unter einen Schilling, zu teuer für den Bürger; die »normale« Kartoffel war mit vier Pence (1632) deutlich preiswerter.

Königin Anne, die Frau von Jacob I., läßt sich Anfang des 17. Jahrhunderts Süßkartoffeln auf­tischen; Brillat-Savarin sagt: Sie »war eine große Feinschmeckerin, sie hielt es nicht unter ihrer Würde, sich mit ihrem Koch zu unterhalten.«25 Kartoffeln waren ein Genuß für die besser gestellten Herr­schaften. Francis Bacon erwähnt 1626 in einer Rezeptsammlung den hohen Preis für die (Süß-)Kartoffel. Die Kartoffel wurde gekocht, gepellt und je nach Geldvermögen und Geschmack mit Pfeffer oder Zimt, mit Muskatnuß, Butter, Zucker oder Salz, gegessen; insbesondere Kartoffeln mit Knochenmark dienten dazu, die »Venus zu erregen«. Es ist jedoch culinary in-correctness, die Kartoffel für Unzucht und Unsitte verantwortlich zu machen, jedoch ist die Knolle »saluberrima lumbis«.

In seinem »Sylva sylvarum or Natural History« (1651) schreibt Francis Bacon über eine mögliche Anbaumethode der Knolle:
»Es werde gesagt, wenn man die Kartoffelwurzeln in einen mit Erde gefüllten Topf lege und diesen Topf beispielsweise zwei oder drei Inches in den Boden vergrabe, würden die Wurzel größer als normal werden«

Bei einem Bankett des Lord Spencer [26] zu Ehren von Charles I. und seiner Königin Henrietta am 14. August 1634 wurden als besondere Delikatesse Kartoffeln gereicht. Über die Folgen der Erregung wird nicht berichtet, es ist jedoch anzunehmen, daß der Gastgeber der damaligen Sitte gemäß den Tisch mit»Pikanterien« dekorieren ließ und die Früchte des Feldes und Zucker- und Backwaren zu männlichen und weiblichen Genitalien formen ließ. Noch im 16. Jahrhundert wurde das Dinner vormittags um 11.00 Uhr begonnen, aber die köst­liche Kartoffel und ihre Nebenwirkungen gebot, die Hauptmahlzeit auf 15.00 Uhr zu verlegen, damit am frühen Abend die Venus erregt oder andere­ Sterne beobachtet werden konnten.

Der Anbau der Jerusalemer Artischocke initiiert zwischen 1620 und der Mitte des 17. Jahrhunderts den Anbau der Kartoffel und deren Verzehr. In dem Werk »Adam in Eden« unterscheidetWilliam Coles 1657 Virginian potato: normale Kartoffel, die Cana­dian potato: Jerusalemer Arti­schocke, Spanischepotato: die Süßkartoffel. Die Kartoffel sei für den menschlichen Genuß ge­eignet, während die Jeru­salemer Artischocke doch den Schweinen vor­behalten bleiben sollte.

John Evelyn fordert dagegen 1664 die Ackersleute auf, Kartoffeln für die eigene Ernährung zu pflanzen und Knollen auch für die Winterzeit auf­zubewahren.

Im Pflanzenkatalog der Universität Oxford wird die Kartoffel 1658 erwähnt; Professor Robert Morri­son, Botanik-Professor in Oxford, schreibt (fälsch­licher­­weise) 1680, daß die Kartoffel ein überall in England weitverbreitetes Gemüse sei. Tatsache ist, daß die Kartoffel zu jener Zeit bekannter geworden ist, aber nicht »überall« in England angebaut wird. 1683 empfiehlt der Arzt Thomas Tryon, Kartoffeln anzubauen und zu essen und damit einen Ausweg aus Skorbut und anderen Krankheiten zu finden.

Die Verwendung der Knolle zur menschlichen Ernährung geschah nicht mit einem »Paukenschlag«, sondern in einem mehr oder weniger schnell vorangehenden langsamen Prozeß; die Überwindung von Vorurteilen gegenüber neuen Dingen – gerade bei den kleinen Häusle- und Gartenbesitzern, bei den Landleuten und den Handwerkern – erfolgte schleichend und nur bei Hungers­nöten – wenn’s denn nun gar nicht anders ging. Noch während der Mißernten 1770 bis 1773 wurden Kartoffeln aus Neapel – zur Linderung der Hungersnot – geschickt, aber von der Bevölkerung ab­gelehnt, vielleicht ist das verständlich, denn die Neapolitaner galten – so der französische Historiker Charles de Brosses im 18. Jahrhundert – als der »verabscheuungs­würdige Pöbel, ja das ekelhafteste Ungeziefer, das die Erde je heimgesucht hat«.

Die Einstellung der englischen Oberklasse und vieler damaliger Gelehrte zur Kartoffel läßt sich aus einer Äußerung vonJohn Worlidge 1669 in der Schrift»Systema Agriculture« erkennen, worin er äußert, daß die Kartoffel nur für Schweine und Vieh geeignet sei. Noch 1683 meint er:
»Mir ist nicht bekannt, ob man versucht hat, diese Früchte in größerem Nutzen der Schweine und anderen Viehs zu erzeugen«.

Worlidge weist daraufhin, daß in Irland – wie in Amerika – viele Kartoffeln gegessen würden. In Wales, so Worlidge, würde eine schwarze Knollen­­frucht namens »Scorsonera«, die aus Spanien ­stamme, und die Jerusalemer Arti­schocke gegessen werden. 1688, in der dritten und überarbeiteten, Aus­gabe seines Werkes, schreibt er:
»Kartoffeln werden in Irland und in Amerika­ häufig gegessen. ... Diese und die Jerusalemer Artischocke ist bei vielen das vorwiegende Nahrungsmittel. Eine kleine Ackerfläche erbringt eine große Menge, deshalb solle man den Anbau für die Armen propagieren«.

John Mortimer vertrat 1708 die Ansicht, daß Schweine möglicherweise vom Kartoffelgenuß profitieren könnten. Richard Bradley, ein Jahrzehnt später in »New improvements of planting and gar­dening«, meint, er könne die Kartoffel nicht übergehen, denn sie hätten (wie die Jerusalemer Artischocke) ihre Be­wunderer:
»Die Kartoffeln würden einen sandigen ­Boden gegenüber einem festeren vorziehen, aber sie würden in beiden gleich gut wachsen. ... In sandigen Böden würden sie ­besser stehen und süßer schmecken.«

Henry Phillips kommentiert 1822 diese Bemerkung von Bradley dahin­gehend, daß zu jener Zeit also bekannt gewesen sei, wie man mit der neuen Pflanze umzugehen habe. Phillips stellt zugleich fest, daß am Anfang des 18. Jahrhunderts der Anbau in England beispielhaft für den Kontinent ge­­wesen sei:
»Der Verbrauch der Kartoffel auf dem Kontinent ist sehr gering im Vergleich zu England und Irland.«

1726 schreibt John Laurence, daß die Kartoffel im allgemeinen eine fade Wurzel sei und nur ein Essen für den Winter. Aber er gibt dennoch Empfehlungen für den An­bau:­ Setzen im März, acht inches tief, zu St. Michae­lis sollen die ersten Knollen geerntet werden.

Noch 1754 (als Friedrich II. den Kar­toffel­anbau in seinen Landen bereits propagierte und vorschrieb) erklärt der Botaniker Philip Miller, immerhin Leiter des Kräutergartens der Londoner Apotheker [27], daß die Wohl­habenden die Kar­toffel verachteten; sie gelte für das gemeine Volk als an­gemessenes Nahrungs­mittel.


Wir müssen noch einmal Albrecht Thaer über die Kartoffelanbau in England zitieren:
»Es ist beynahe unmöglich, über die mannigfaltigen Kartoffeln-Arten bis jetzt etwas Bestimmtes anzugeben. Sie sind an sich höchst mannigfaltig, indem sich nicht nur aus dem Saamen jedesmal neue Arten erzeugen, sondern weil auch selbst die Bollen, wenn sie auf einen anderen Boden kommen, allmählig abarten, und zuletzt eine auffallende Verschiedenheit von denen annehmen, die auf demselben Boden geblieben sind. Wovon sie herstammten. Die Schwierigkeit wird aber durch die unzähligen Benennungen vermehrt, welche ein jeder seinen Kartoffeln-Arten beylegt. Bey den Engländern habe ich schon über 130 verschiedene Nahmen für Kartoffeln aufgezählt. Es giebt gewiß nicht so viele bestimmte Abarten, die wirklich gebauet werden, sondern dieselbe Art wird oft mit 10 und 20 verschiedene Nahmen an verschiedenen Orten benannt. Es wäre gewiß verdienstlich, wenn jemand diese Verwirrung dadurch zu heben suchte, daß er alle verschiedene und für verscheiden ausgegebene Sorten zusammenbrächte, sie auf gleichem, für die Kartoffeln besonders geeignetem, mildem Lehmboden neben einander pflanzte, sie vergliche und characteristisch beschreibe; welches ihn dann auch zu mannigfaltigen andern Versuchen leiten würde. Die Art der Kartoffel ist gewiß nicht gleichgültig im Verhältniß mit der Bodenart, worauf man sie bauet, und der Art und Weise, womit man sie behandelt. Man würde wahrscheinlich finden, daß für einen jeden Boden eine besondere Art am nutzbarsten und zweckmäßigsten, daß im frischen Dünger diese, in älterer Gare jene Art vorteilhafter sey. Wer eine solche Untersuchung des Kartoffelgeschlechtes unternähme, würde sich gewiß ein großes Verdienst erwerben. Den Privatmann könnte nur eine besonders dahin gerichtete Passion, zur Überwindung mancherley Schwierigkeiten, die schon die Zusammenbringung einer etwas vollständigen Sammlung haben würde, vermögen. ....

Man würde also, durch eine Auswahl der vorzüglichsten Pflanzen zur Fortpflanzung, vielleicht eine vorzüglich einträgliche Sorte hervorbringen können. ...

In der Benennung der englischen Kartoffelarten, die ich im 18ten Kapitel des 1sten Bandes angeführt habe, irrte ich mich. Wenigstens ist the Kidney, oder die ­Nierenförmige, eine von unserer Zuckerkartoffel ganz verschiedene Art. Denn sie hat wirklich die Gestalt einer Niere, nimmt manchmal die Form eines halben Mondes, mit spitzzulaufenden Hörner an. Ich finde davon drey verschiedne Arten angeführt: eine rothe, eine größere weisse, und eine kleinere weisse Art. ... Die kleine Art soll in dieser Hinsicht noch vorzüglicher seyn, auch so schnell zur Reife kommen, daß man sie zwey- ja sogar dreymal in einem Jahre auf demselben Acker bauet, die ersten schon im May zur Reife bringt, und auf den Märkten theuer verkauft. ...

The Champion scheint mir aber noch mit derjenigen völlig übereinzustimmen, welche wir in Teutschland die holländische nennen, und die Surinam-Cluster und Yam-, oder Howards-Kartoffel, mit denjenigen Arten, die wir Viehkartoffeln, Englische Kartoffeln, auch Gibraltarische nennen.«

Und Thaer weiter:

1. Die Form der Bollen ist entweder fast kugelförmig, oder herz- und eyförmig, oder aber länglich, in welchem Fall sie mehrentheils gekrümmte Spitzen, wie Hörner, haben.

2. Die Farbe der Haut ist entweder weiß oder roth. Letztere Farbe geht aus Dunkel­schwarz­roth in Fleischfarbe, erstere von Gelbbräun­lich zu Weiß über.

3. Die Consistenz und der Geschmack. Man hat nämlich sehr wässrige, weiche, leichte, schnell in Brey zerkochende; und andere mehlreiche, feste, schwere, härtere Arten. Erstere haben, zumahl gegen das Frühjahr, einen gewissen galstrigen Geschmack; letztere aber schmecken angenehm, und die vollkommsten kommen fast den Castanien gleich. Doch kann man von diesen nicht so viel, wie von jenen essen.

4. Das Kraut ist entweder feiner und kommt mit vielen kleinen Spitzen aus der Erde, hält sich aber auf seinen dünnen Stielen immer aufrecht stehend. Oder es kommt nur mit wenigen Spitzen aus der Erde, ­diese aber werden stark, haben gröbere, ­breitere Blätter, und legen sich in der Blüthe ­nieder.

5. Die Blüthe geht in mannigfaltigen Schattierungen von Weiß zu Hochroth, und von Weiß durch hellblau zu Dunkelblau und Violet über.

6. Die Art, wie sich die Bollen ansetzen, macht eine merkwürdige Verschiedenheit aus. Bey einigen setzen sie sich nämlich dicht am Stamm, und drängen sich, wenn sie stark werden, einander aus der Erde heraus, so daß sie über der Oberfläche derselben würden zu liegen kommen, wenn man sie nicht anhäufte. Bey andern verbreiten sie sich weiter umher, und man findet oft Kartoffeln in ziemlicher Entfernung vom Stamme.

7. Sie vermehren sich entweder der Zahl oder der Maaße nach stärker. Diejenigen Arten, welche recht viele ansetzen, sind gewöhnlich klein. Die, welche wenigere Stücke unter sich haben, scheffeln besser.


1832 änderte das »House of Parliament« die bis dahin geltenden Brot­vorschriften und erlaubten, dem Brot Kartoffelmehl zu­zusetzen. Für die Armen war dies richtig und gut genug. Es ging aber auch darum, den englischen Grund­besitzern in An­betracht der Getreideimporte aus Nordamerika einen neuen Absatzmarkt zu schaffen. Philanthropie stand nicht im Vorder­grund.

Nur so ist zu erklären, daß in London 1837 ­(einer amtlichen Statistik zufolge) ins­gesamt 16.901»Verbrecher« lebten, davon 10.444 »Berufs­verbrecher«: darunter 895 gutangezogene Dirnen in Bordellen und 1.612 Dirnen auf der Straße und 3.864 Dirnen niedrigster Art. 40.000 Menschen lebten angeblich vom Diebstahl, 50.000»liederliche« Weibspersonen, davon 20.000 Fabrikarbeiterin­nen und 3.000 Dienst­boten fristeten ihr Leben in London. Zum Vergleich: im Berlin des Jahres 1846 lebten 2.000 Verbrecher (die sich später in den »Ringvereinen« organisierten), ebensoviel Obdachlose und rund 8.000 Bettler.

Noch einmal Albrecht Thaer:
»Nun sind es gerade die Manufakturen, welche die Zahl der Armen, besonders in den Gegenden, wo sie sich über Stadt und Land verbreitet haben, so sehr vermehrten. Diesen Gegenden strömte eine Menge von Arbeitern zu, welche, durch den höheren Verdienst verleitet, sich mehr der Schwelgerey ergaben als der nüchterne Landarbeiter, ihre Gesundheit zerstörten, und vor der Zeit abgelebt und kränklich wurden. Aus den schlecht erzogenen Kindern entstand eine neue Generation verdorbener Menschen, und diese fiel, nach der Kirchspiels-Einrichtung, nicht denen zur Last, welche Veranlassung dazu gegeben hatten, sondern dem Landmanne, dem man diese Leute, gerade wie sie ihm nutzbar waren, entzogen hatte.

Und Adam Smith schreibt ergänzend:
»Die Fortpflanzung des Lasters der Insubordination und der Krankheiten ist ein Uebel, was aus dem hohen Betriebe der Manufakturen nothwendig entsteht. Was kann anders aus der Zusammendrängung so mancher Arten von Menschen in den Fabrikhäusern erfolgen? – Sie drängen sich dahin, weil sie an einem Tage für zwey verdienen, und sich von den sieben, vier Tage besaufen können.«

Im Südwesten, in Lancashire und in den Hafen­städten an der Irischen See, wurden mehr Felder mit Kartoffeln als in Irland bepflanzt. Dennoch sah es im 19. Jahrhundert so aus, als würde Tee zur einzigen Nahrung der englischen Arbeiterklasse, als die Alkoholgegner eine Biersteuer durch­setzten und die in Ceylon vorhandenen Kaffeeplantagen ab 1860 auf Tee um­gestellt wurden; es ging nicht um’s Bier, sondern um die Absatzmärkte für indische Produkte.

Die Zahl der Londoner, die auf der Straße handelten, betrug mehr als vierzigtausend, darunter rund dreißigtausend Viktualienhändler (davon etwa zwölftausend Kinder), viertausend Straßenverkäufer von Eßwaren und Getränken – Limonaden, aber auch Orangen [28] und Zitronen. Der Verkauf von Nahrungsmitteln befand sich fest in der Hand von Iren, die zumeist aufgrund der Propaganda des Pfarrers Mathew damals zur Tem­pe­renz­bewegung gehörten und daher – anders als Engländer und Waliser – ihre Einnahmen nicht in die Spelunken trugen [29]. Zwischen zweihundertfünfzig und drei­hundert­fünfzig Straßen­­händler verkauften fish an’ chips – mithin eine alte Tradition, den Bratfisch im»Daily Mirror« (oder in der »Times« – je nach Klassen­zugehörigkeit) zu ver­­­hökern – heute jedenfalls in einem Murdoch-Produkt.

Mit der Industrialisierung Englands [30] und dem damit einhergehenden Einwandererstrom aus Irland stießen neben den religiösen Unter­schieden auch zwei Eßkulturen aufeinander: Die getreide- und fleisch-essende [31] englische Arbeiterklasse und die kartoffel-futternden Iren.

Friedrich Engels 1845 in »Die Lage der arbeitenden Klassen in England«: [32]
»Die besserbezahlten Arbeiter, besonders solche Fabrikarbeiter, bei denen jedes Familienmitglied imstande ist, etwas zu verdienen, haben, solange das dauert, gute Nahrung, täglich Fleisch [33] und abends Speck und Käse. Wo weniger verdient wird, findet man nur sonntags oder zwei- bis dreimal wöchent­lich Fleisch, dafür mehr Kartoffeln und Brot; gehen wir allmählich tiefer, so finden wir die animalische Nahrung auf ein wenig unter die Kartoffeln geschnittenen Speck reduziert, und noch tiefer verschwindet auch dieses, es bleibt nur Käse, Brot und Hafermehl (porridge) und Kartoffeln, bis auf der untersten Stufe, bei den Irländern, nur Kartoffeln die Nahrung bilden.«

Albrecht Thaer:
»19 Stein Kartoffeln (ungefähr 250 Pfd.) werden von einer solchen Familie in einer Woche verbraucht, jedoch nicht nur für die Menschen allein, sondern auch für den Hund, für einiges Federvieh und für ein Ferkel, welche letztere dabey von 6 Schilling zu 20 Schilling Werth innerhalb 6 Wochen zunimmt. Außer diesen Kartoffeln hat der arme Arbeiter wenig andere Nahrung, ausser Buttermilch, die er zum Frühstück und Abend­brodt aus den Molkereyen erhalten kann. Zu Mittag zeugen sich diejenigen, welche Kühe haben, wol etwas Butter und süße Milch, hauptsächlich aber Heringe, die an den Küsten gefangen werden, und wovon sie fünf für 2 Pence haben können. Wenn ihre Kartoffeln verzehrt sind, so müssen Hafermehl kaufen, und sie bedürfen davon im Durchschnitt 2 Centner in dieser Zeit, welches zu einer Art von Budding gemacht wird, oder zu einem dicken Brey, den sie Stirabout nennen.«

Der englische Frühsozialist und SozialreformerRobert Owen, der sich neben seiner später fallieren­den Textilfabrik auch mit der Landwirtschaft befaßte, erfindet 1862 einen Kartoffelaushebpflug, der in Darmstadt von der Firma Scheerer abgekupfert und zum Preise von achtundzwanzig Gulden vertrieben wird. Bevor »made in Ger­many« [34] ein Markenbegriff wurde, sollen die deutschen Maschinenbauer die Taiwanesen Europas [35] ­gewesen sein.

Adam Smith, im schottischen Kirkcaldy bei Edin­burgh, dem »Athen des Nordens«) geboren, prophe­­zeite (in »Der Wohlstand der Nationen«, erschienen 1776 [36]), daß die Kartoffel anstelle des Weizen zum Hauptnahrungsmittel der Armen werden ­könne. Er schreibt:
»Die Portechaisen und Kohleträger und die Kohlenschröter zu London und jene unglücklichen Weibspersonen, die sich mit Unzucht er­nähren, d.h. die stärksten Männer und die schönsten Weiber vielleicht im britischen Reich, sollen größtenteils aus Irland herkommen, deren Hauptnahrung in Kartoffeln besteht.«

Eliza Gilbert, die sich später Maria de los Dolores Porris y Montez, Gräfin Landsberg, nannte und nennen durfte, war Irin. Ludwig I. scheint Geschmack gehabt zu haben. Lola Montez war dem»Kini« schon einen Thron wert. [37] 

Adam Smith stellt außerdem fest, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hunderts Kartoffeln nicht mehr mit dem Spaten, sondern mit dem Pflug an­gebaut werden und Gartenprodukte aller Art durch den Einsatzes des Pfluges deutlich billiger geworden seien.
 

Irland war das erste europäische Land, das Kartoffeln wegen der hervor­ragend geeigneten Bodenbeschaffenheit»feldmäßig« anbaute. Allein vom Ge­treide­­anbau konnte die Iren nicht mehr leben. Am schlimmsten wurde es für sie, als Oliver Cromwell [38] sich wenige Jahre nach dem »Großen Aufstand« in Irland (1641) daran machte, die Iren für diesen Aufruhr zu bestrafen, die Reste der irischen Stammesorganisation zu zerschlagen und die Iren in die un­frucht­barste Provinz, nach Connaught (Cromwell: »Zur Hölle oder nach Connaught«), zu treiben: Im Blutbad von Drogheda, einer Stadt nördlich von Dublin, 1649 befiehlt Cromwell die Hinrichtung der Überlebenden und läßt 2000 der »barba­rischen Schufte« und weitere – by the way – 1500 Kinder und Frauen sterben auch. Und alle Iren der Region werden enteignet. Die von den »adventures« (das waren die Finanziers – heutzutage Wagniskapitalgeber – der Crom­wellschen Kriegs­züge) beraubten Iren wurden »Tories« genannt, was dann all­gemein auf Räuber und Banditen übertragen wurde; insofern sind die Konservativen ihrer seit 1689 bestehenden Partei­bezeich­nung auch im 20. Jahr­hundert treu geblieben; aber sie wagen es nicht mehr, das Lillabullero öffentlich zu singen, weil dies zu einer Reaktion der IRA führen würde.

Nach der Glorious Revolution 1688 richten sich die Vergeltungs­maßnah­men der Engländer besonders gegen den Katholizismus, gegen die Priester, gegen den katholischen Unterricht und gegen Ehen von Katholikinnen mit Evangelen. Die Glorious Revol­ution und die Taten des Oliver Cromwell waren für die Iren weniger glanzvoll. Verständnislos standen die Engländer der Tatsache gegen­über, daß die Iren einerseits »Papisten« waren und andererseits Elfen und Feen sahen und sich zu merkwürdigen Tänzen und Rundgesängen zusammen­fanden – in einer Sprache, die Ausländer nicht lernen können und verstehen.

Die »Akte zur Zurückgewinnung uneinträglichen Landbodens«, die das Parla­ment 1742 unter König George II. verabschiedete, sah vor, daß jeder Katholik zwanzig Hektar sumpfigen Bodens (»un­benutztes wüstes­ Land und Bog [Torfmoor]«) und zwei Zehntel Hektar­ pflügbaren Landes zur Errichtung eines Hauses in Pacht nehmen ­konnte. Land, das für Protestanten in diesem Zustand uninteressant war. Die Iren nutzten diese Möglichkeit zum Anbau der Kartoffel, denn Ge­treide­wirtschaft war auf diesen Böden nicht oder fast nicht möglich. Trotz der Zunahme des Acker­landes sank die Ausbeute je acre, wie Karl Marx nach längerem Stu­dium in der »Britischen Bibliothek« feststellte und im »Kapital« nieder­schrieb.

Albrecht Thaer:
»Auf frisch aufgebrochenem Moor- oder Bruchlande gerathen die Kartoffeln, wie die Erfahrung lehret. Nicht nur ausserordentlich gut, sondern sie bereiten, wenn sie gehörig behandelt werden, dieses Land zum Getreidebau fast besser, wie reines Braachpflügen, vor. Wenn ein solcher Bruch durch Haupt- und Nebenkanäle vollkommen abgewässert werden kann, ohne dass seine schwammige Substanz dadurch zu trocken wird, so ist die Kultur desselben ohne Schwierigkeit. ....«

P. J. O. Rourke, ein Ire, sagt über die Engländer:
»Seit 1169 haben die Engländer Land gestohlen, Aufstände nieder­geschlagen, die Bevölkerung ausgebeutet, Katholiken verfolgt, schot­tische Siedler nach Ulster geschafft, weitere Aufstände nieder­geschlagen, sie haben­ Hungersnöte überstanden, Patrioten gehenkt, die Sprache ausgemerzt, jedermann Schwein besteuert, wieder Auf­stände niedergeschlagen.«

Schon 1603, als Königin Elisabeth I. starb, ­waren neunzig Prozent des irischen Bodens im Besitz von Katholiken, 1641 (nach der Ansiedlung der Schotten durch die beiden Stuart-Könige) waren es noch sechzig Prozent, nach Cromwell besaßen die Iren noch zwanzig Prozent, aber am Ende des 18. Jahrhunderts ­waren nur noch fünf Prozent des Bodens in katholischem Besitz.

James Joyce schreibt ähnlich in »Ulysses« [39] (in einem Gespräch zwischen Bloom und dem Bürger):
»›Die Fremden‹, sagt der Bürger. ›Unsere eige­ne­ Schuld. Wir haben sie ja reingelassen. Haben sie selber reingebracht. Die Ehebreche­rin und die Buhle haben die englischen Räuber hergebracht.‹«

Der einzige Reichtum der Iren, ihre Viehherden, war ihnen bereits unter James I. fortgenommen und englische Grundbesitzer,»baronets«, übernahmen die Weidegründe;James I. kolonisierte Irland mit armen, gleichfalls wegen der aufkommenden Weidewirtschaft verjagten, presbyterianischen Schotten [40] (die dann zwischen 1714 und 1720 nach Nordamerika auswanderten und dort Scotch-Irish genannt wurden [41]) und Walisern, und Oliver Cromwell vertrieb die letzten irischen»Earls«: Jetzt war das irische Volk rechtlos und führerlos geworden. Das, was von den Clans der Iren noch übriggeblieben war, wurde durch Cromwell endgültig vernichtet, in dem er insbesondere die Teilnehmer und Geldgeber seiner Kriegszüge mit Land ver­sorgte, mit vormals irischem Besitz. [42] Mitte des 17. Jahrhunderts schlug James Harrington vor – mit Billigung Cromwells –, Irland den sephardischen (portugiesischen) Juden zur alleinigen Nutzung zu verkaufen, weil es sich bei den Iren um Kanaaniter handele [43].
 

Die Kartoffel ist für den nährstoffarmen Boden besser geeignet als Getreide, sie muß nicht ge­droschen, gemahlen oder gebacken werden; für den Anbau reichen primitive Werkzeuge, notfalls die Hände, und für den Verzehr reicht ein Topf mit Wasser über einem Torffeuer. Ohne die Kartoffel hätten die Iren nicht überlebt. Eine Hügel von 450 bis 750 Metern ernährte eine Familie, zehn Ar mit Kartoffeln bepflanzt, ergaben zwanzig Zentner Ertrag, während der Anbau von Getreide nur knapp ein Sechstel ergab [44] . In der Schweiz wies der »Philo­sophische Bauer« Jakob Guyer (Hans Kaspar Hirzels) Kleinjogg aus Wermatswils, der »Socrate rustique«, nach, daß er beim Anbau von Kartoffeln von ­einer Juchart Land den Wert von zehn Mütt Korn zog, beim Anbau von Getreide dagegen nur sechs Mütt [45]. Ein Bauer – so dieser Philosoph – solle sich im übrigen auf die Lektüre geistlicher Schriften be­schränken und keinesfalls Sach­bücher lesen. Auf Goethe machte dieser »un­gewöhnlich tüchtige und strebsame Mann« einen so tiefen Eindruck, daß er ihn zweimal in seiner Wirtschaft besuchte – ja, so ist es, wenn die »kleine Leut« auch ‘mal ‘was sagen.

Von dem Land, das mit Weizen einen Menschen ernährte, konnten zwei Menschen durch Kartoffel­anbau leben. Andererseits erforderte der Knollen­­anbau einen wesentlichen höheren Arbeitskräfteaufwand als Getreide, so daß die Behauptung der Engländer über die»faulen« Irländer allein aus diesem Grund nicht aufrechtzuerhalten ist; die Kartoffel erfordert einen erhöhten Arbeitseinsatz – aber nicht das ganze Jahr über. Dieser erhöhte Aufwand, auch wenn er vielfach nur von Weibern und Kindern (mit einer »verschufteten Kindheit und Jugend«) geleistet werden konnte (mußte), führte zu einem stärkeren Anwachsen des Maisanbaus (anstelle Kartoffeln) in den Regionen Euro­pas, in denen Mais gute klimatische Be­dingungen vorfand (z.B. in Portugal, das die Kartoffel verschmähte).

Ein anderer wichtiger Punkt für den verstärkten­ Anbau der Kartoffel in Irland im Vergleich zu Getreide war die schon erwähnte merkbare Veränderung des Klimas im 16. und 17. Jahrhundert.

Die Engländer, die von der Kartoffellagerung in Mieten nichts verstanden, sahen, daß die Iren zur Erntezeit nur eine solche Menge Kartoffeln aus dem Hügel ausgruben, die zum unmittelbaren Verzehr gedacht waren; sie nannten die Hügel »lazy­bed« und meinten damit zugleich, die Iren seien arbeitsscheues Gesindel und würden nur »Usque­baugh« zu sich nehmen. [46]

Wie hätten die Engländer über die Iren ge­urteilt, wenn die Kartoffel eine alte europäische Pflanze­ ge­wesen wäre und Lucius Quinctius Cincin­natus seine Amts­geschäfte als Konsul nebenbei tätigen können – als Una-Cent-Signore – machen können? Wenn es denn die ehrenwerte Gesellschaft zu­gelassen hätte.

Noch 1830 sprichtder Journalist William Cobbett von »Ireland’s lazy root«. Cobbett war ein fanatischer Gegner der Kartoffel, die er verantwortlich machte für »Schlampigkeit, Schmutz, Elend und Sklaverei« und für das Anwachsen der »Paupers«. In seinen Artikeln verglich Cobbett die »verdammte Wurzel« mit der Erdanziehungskraft, die die Iren von der englisch-geprägten Zivilisation zurück in den Dreck zog und dabei die Unterschiede zwischen Mensch und Vieh und sogar zwischen Mensch und Kartoffel verwischte. Cobbett meint über die »Kartoffelesser« (und zitiert hier Arthur Young):

»Kein einziges Fenster ist vorhanden. Der Boden besteht aus nichts als nackter Erde; statt eines Schornsteins nur ein Loch in der Ecke, von ein paar Steinen eingefaßt. ... Die Familienmitglieder kauern um den Korb und nehmen die Kartoffeln mit der Hand heraus; nur das Schwein bleibt stehen und läßt sich füttern, frißt mitunter auch mit aus dem Topf. Es bewegt sich in und außerhalb der Hütte, mitsamt ihrem Loch, wie ein Mitglied der Familie.«

Cobbett war in den 1830er Jahren Mitglied des eng­lischen Parlaments und setzte an dieser Stelle seinen Kampf gegen die Kartoffel fort, selbst von seinen Freunden in diesem Punkt als schrullig angesehen. Da Kartoffeln die einzige Nahrungs­quelle für die Iren waren, Anbau und Ernte der Knolle und Beschaffung des Feuer­materials (Torf) nur etwa fünfzehn Wochen im Jahr dauerten, verdingten sich die Iren bei den »baronets« für den Getreide­anbau, um die Pacht ihres ursprünglich eigenen Landes zahlen zu kön­nen.

Geld, das die Iren durch ihre Arbeit bei den englisch-protestantischen Guts­herren einnahmen und Einnahmen aus dem Verkauf von Hafer reichte gerade immer aus, um für den Winter ein Faß mit eingelegten Salzheringen [47] oder mehrere Wall Sprotten zu kaufen.
 

Am Beginn des 17. Jahrhunderts leben etwa eine halbe Million Menschen auf der irischen Insel. Die Bevölkerung nahm wegen der Kartoffel (dieser Zusammenhang wird verschiedentlich bestritten) und trotz der Eng­län­der zwischen 1760 und 1840 von etwa eineinhalb auf etwa acht Millionen zu:
1811: rund sechs Millionen Einwohner,

1821: rund 6,8 Millionen,

1831: rund 7,8 Millionen und

1841: rund 8,2 Millionen Einwohner.

Das starke Anwachsen der Bevölkerung steht im direkten Zusammenhang mit der Ausweitung der Kartoffelanbaugebiete und damit mit der Sicher­stellung der irischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln [48]. Es gibt andererseits Unter­suchun­gen, wonach das Anwachsen der Bevölkerung in Irland nicht auf die Kartoffel zurückzuführen sei, sondern bereits vor dem feldmäßigen Anbau der Knolle begann. Wir kommen später auf grundsätzliche Aspekte des Zusammenhangs von Kartoffel und Bevölkerungswachstum zurück.

Ohne Kartoffeln und einfache, selbst zu bauen­de Hütten hätte das Land in jener Zeit höchstens fünf Millionen Menschen ernähren können. Joachim Radkau schreibt:
»Diese Bevölkerungsexplosion hatte ihre Basis in der Kartoffel, die in Irland besonders gut gedieh. Sie ... steigerte sowohl die Fruchtbarkeit der Frauen wie die Kinderfreudigkeit der Männer, denn man konnte die Kinder beim Kartoffelsammeln ge­brauchen. Auch in anderen Regionen ist zu jener Zeit eine ›Irlandisierung‹ zu beobachten. Eine Verbindung von Kartoffelanbau und Bevölkerungsexplosion.«

Diese Bevölkerungsexplosion, Irland war seinerzeit eines der dichtbesiedelten Länder Europas, führte dazu, das für längstens einunddreißig Jahre gepachtete Land immer wieder aufzuteilen, bis die Felder so klein waren, daß nur noch Kartoffeln ausreichende Erträge erbrachten, um die vielköpfige­ Bauernfamilie zu ernähren. Nun, Kartoffeln ­waren in den Augen der Engländer auch das an­gemessene Nahrungsmittel für die irische Bevölkerung.

Das Land wurde solange durch Unterpächter weitergereicht, daß es am Ende der Kette zu halsabschneiderischen Pachtverhältnissen kam, die man nach der Streckbank im Mittelalter rackrenting nannte. Konnte die Pacht am Fuß dieser Pyramide von Pachtverträgen nicht gezahlt werden, wurde der Pächter samt Familie vertrieben (evictions genannt) [49]: »Die Menschen wurden verscheucht wie Krähen aus einem Kartoffelfeld«, sagte ein Abgeordneter in Westminster. Eine Million Iren wurden »Tinker« – landlose Kesselflicker, die im Pferde­wagen mit Familie über das Land zogen, Hand­langerdienste auf den Gütern der Barone leisteten, eine eigene Sprache entwickelten («Gam­mon« oder »Cant«) und von denen noch heute rund zwanzigtausend sich dem bürgerlichen Leben ent­ziehen. Und einige schlossen sich zur Kelly-Familie­ zusammen und siedeln am Rhein.

Nur noch etwa vierzehn Prozent des Landes ge­hörte am Ende des 18. Jahrhunderts den Iren: Selbst das war der anglo-irischen Oberschicht, die seit KönigHenry II. die gälischen Iren bekämpfte, zu viel. Katholische Landeigen­tümer­ wurden gesetzlich gezwungen, im Erbfall das Land unter allen Kindern aufzuteilen, so daß auch in diesen Fällen das Land gerade noch für den Anbau von Kartoffeln ausreichte; die Erbregelung zerfledderte die Güter der katholischen Bauern. Zugleich legte das Gesetz fest, daß das Land ungeteilt an einen nichtkatholischen Erben fiel.

Albrecht Thaer:
»Die ursprünglich großen Besitzungen gehören größtentheils den Lords, einige der Geistlichkeit, wenige der Krone. Doch haben auch andre reiche Familien sehr große Besitzungen zusammengekauft. Eigenthümer, die nicht Lords sind, heißen Freeholders, wenn sie ihre Ländereyen und Häuser uneingeschränkt besitzen, oder Copyholders, wenn sie zwar erbliche Besitzer sind, aber doch von der Krone, der Geistlichkeit oder einem Lord zu Lehen gehen, und einige, obgleich sehr geringe, und nicht zu steigernde, Gefälle be­zahlen.

Sind diese Besitzungen klein, und werden von den Eigenthümern mit eigener Hand bebauet, so heißt dieser ein Yeoman, und diese Classe von Leuten Yeomandry. Sind diese Besitzungen größer, oder haben die Eigenthümer so viel Vermögen, daß sie auf einem guten Fuß leben, den feineren Ton annehmen, und die gute Gesellschaft unterhalten können, so heißen sie Gentlemen, auch Country Squires.

Außerdem gibt es sehr viele Cottagers, Häuslinge, die nur ein Haus oder Garten gemietet haben oder auch eigenthümlich besitzen, und in Tageslohn oder Gedinge arbeiten. Diese machen jetzt wohl die zahlreichste Classe des Volkes aus.

Hauptsächlich aber wird die Landwirtschaft von Pächtern, Farmers, betrieben. Daher nennt man jede Landwirtschaft a farm, und jeden Landwirth a Farmer

Die Landeigentümer, vielfach außerhalb des Landes lebend (»absentees«), verpachteten ihr Land über (auch katholische) Mittelsmänner (»middle­men«) an »Unterpächter«, ohne daß diese ­einen Rechtsanspruch auf dieses Land er­hielten. Noch schlimmer waren die »cottiers«, die »Kötter« (landlose Tage­löhner, die eine Kote/Kate bewohnen), gestellt, die Land immer nur kurzzeitig pachten konnten und daher ihr Einkommen außerhalb der eigenen Landwirt­schaft suchen mußten. Der schottische Advokat Sir Walter Scott, Dichter des Ivan­hoe:
»Sogar in Schottland würden ihre Hütten kaum zu Schweineställen taugen, und die Lumpen, die sie auf ihren Körpern verteilen, scheinen aus den Abfällen eines Trödlers zu kommen.«

Der in Edinburg geborene James Boswell notiert 1773 Ähnliches nach einem Besuch der Familie Fraser in Schott­land in sein Tagebuch:
»Sie leben das ganze Frühjahr hindurch ohne richtiges Essen, nur von Milch und Quark.«

Aber das war in Deutschland nicht anders.

Und die Pächterfamilien im Tiefen Süden der Vereinigten Staaten lebten noch in den 1930er Jahren – in der Großen Depression – in einer cabin, die aus einem Zimmer bestand, und einem ­lean-to, einem primitiven Anbau, in dem die Küche oder ein Schlafraum untergebracht war. Man ernährte sich von Maisbrot, süßen Kartoffeln (wegen des Eigengeschmacks) und fettem Schweinefleisch. In jedem Frühjahr traten Ver­sorgungsprobleme auf; die Portionen lagen dann vielfach bei weniger als fünfzig Gramm Fleisch, einem halben Pfund Maismehl und hundert Gramm Weizenmehl pro Kopf und Tag. Maisbrot und Zucker­sirup waren bis zum Früh­jahr, wenn die ersten Kartoffeln geerntet werden konnten, die einzige Nahrung. 150 Jahre nach Bos­wells Besuch bei Frasers in Schottland.

Eine weitere Verschärfung der wirtschaftlichen Abhängigkeit Irlands ent­stand durch die »Penal Laws« von 1690, die die Entrechtung der katho­lischen Iren festschrieben. Unter diesen Straf­gesetzen wurde den Katholiken das passive und aktive­ Wahlrecht bei Parlamentswahlen aberkannt. Sie durften weder als Richter noch als Anwälte tätig­ sein und auch nicht die einzige irische Universität, das Trinity College in Dublin, besuchen. Sie durften nicht in der Marine oder in irgend­welchen anderen öffentlichen Institutionen dienen, durften keine Schule leiten oder Waffen besitzen, keine­ Protestantin heiraten, kein Land kaufen und kein Pferd besitzen, das mehr als fünf Pfund wert war.

Der Teil der »Penal Laws«, der sich gegen die arbeitende Bevölkerung richtete, wurde nur halbherzig angewandt, denn die Oberschicht ­benötigte den verarmten und recht­losen katholischen Landarbeiter und Pächter. Deranglikanische Herzog von Drogheda blickte durch:
»Ich freue mich, wenn die protestan­tische Religion stärker wird, aber woher nehmen wir dann unsere Holzhacker, Wasserträger, Pflüger und Drescher?«

Philip Luckombe meinte 1780, daß »die ärmsten Knechte in England immer noch besseres Essen, bessere Unterkünfte und bessere Kleidung hätten als die wohlhabenden Bauern« in Irland. Und: Die Landlords in Irland bekommen alles, was auf ihrem­ Land wächst, und die Pächter bekommen die Armut­ und die Kartoffeln.

Selbstverständlich betätigte sich die angli­ka­nische Kirche an der Ausbeutung der katholischen Iren durch Erhebung des Zehnten; die Eintreiber des Kirch­geldes wurden »tythe proctors« (Steuer­pächter) genannt. Der FranzoseDuver­gier schreibt im Jahr 1829:

»Dann kommt der protestantische Pfarrer, um seinen Anteil zu kassieren. Von zehn Kartoffeln gehört eine ihm, dem Vertreter einer feindlichen Religion.« [50]

Albrecht Thaer:
»Ein anderes Hinderniß eines jeden energischen Ackerbaus ist in England, fast allgemeiner noch wie in Teutschland, verbreitet, und dieß ist: der Zehnte. Er ruhet ursprünglich auf allen Acker von ganz England. Der Zehnte ward bekanntlich durch Vermittelung und Drohungen des Pabstes der Geistlichkeit von allen und jeden Ländereyen zugestanden, und ungeachtet die Macht des Erstern aus England verbannt wurde, so hat sich doch letztere genugsam in Ansehn zu erhalten gewußt, um sich diese große Revenue, den wirklich zehnten Theil aller Ackerfrüchte, zu sichern. Die Geistlichkeit ist also im Durchschnitt Zehntbesitzer, und nur hin und wieder ist dieses Eigenthum durch Kauf, Tausch oder Dienstleistungen in die Hände anderer, die Ley-impropriators heißen, gekommen.«

David Ricardo, einer der Begründer der modernen Nationalökonomie, kriti­sierte 1823 die Praktiken der Engländer, weil nach seinem »ehernen Lohn­gesetz« die Landarbeiter exakt ihr Existenzminimum verdienen müßten, nicht weniger, aber – wie es manche landlords machten – auch nicht einen penny mehr:
»Irische Grundbesitzer scheinen ihre Leute als Angehörigen einer anderen ... Specie zu sehen.«

Der EngländerArthur Young, der von 1776 bis 1779 die irische und englische Landwirtschaft studierte, beschreibt die Eßgewohnheiten der Iren wie folgt:
»Man sieht den Kartoffeltopf der Iren auf dem Fußboden, die ganze Familie ist, auf ihren Schenkeln sitzend, darum versammelt, und weiter, wie sie eine fast unglaubliche Menge von Kartoffeln ver­schlingt; der wandernde Bettler nimmt nach herzlicher Be­grüßung inmitten der Familie Platz, überdies das Schwein ebenso wie die Frau [51], die Hähne,­ die Hennen, die Truthähne, die ­Gänse, der Köter, die Katze und vielleicht auch noch die Kuh – und alle nehmen sie am gleichen Gerichte teil. Jedermann, der dies öfter ge­sehen hat, wird von der dabei herrschenden Stimmung überzeugt sein.«

Ein altes irisches Sprichwort ergänzt:
»Iß eine Kartoffel, schäle eine zweite, habe eine dritte in deiner Faust und deine Augen sollen auf der vierten ruhen.«

Dazu ein weiteres:
»Lorbeer macht nicht satt;

besser man Kartoffel hat«

Arthur Young reiste auch durch Wales, England und Schottland [52] und stellte fest, daß die Kartoffel von irisch-stämmigen Landarbeitern in Essex und Middlesex für den Londoner Markt angebaut werden würden; in allen anderen Gegenden Englands findet er Kartoffeln nur in den sog. Küchengärten. Die Kartoffel wird nur nördlich der sog.»Coal Line« angebaut, dem Industriegebiet in den Mid­lands.

Philip Luckombe meint, daß die Kartoffel kein »unbekömm­liches Essen« sei und führt als Beweis heran, daß die Iren sehr »stark, ansehnlich und kräftig mit vielen Kindern« seien.

In Manchester dominierte die Textilindustrie; insbesondere der Import der Baum­wolle aus den Kolonien und die Verarbeitung konzentrierte sich in Mittel­england. Hier entwickelt sich die häus­liche Textil­produktion, so daß be­reits zum Ende des 16. Jahrhunderts die Wollhändler und Weberei­unternehmer eigene Webstühle und Rohstoffe zur Ver­fügung stellen und In­dustrie­arbeiter die bis dahin verhältnismäßig unabhängigen Weber verdrängen.
 

Der »Zusammenschluß« Irlands mit England ­unter William Pitt 1801 zum »Vereinigten Königreich« führte­ zur Zerstörung der schmalen industriell-hand­werk­lichen Basis im Süden des Landes: Waren 1825 in Cork noch rund zweitausend­fünf­hundert Leine­weber tätig, so waren es aufgrund der mäch­tigen Textilindustrie Englands 1840 nur noch etwa einhundert Weber.

Der Vollständigkeit halber sei hier darauf hingewiesen, daß es den eng­lischen Unterschichten auch nicht besser ging: So lagen die Löhne der Kunst­tischler um 1830 mehr als dreihundert Prozent über denen des Jahres 1850, die Anzahl der Fürsorgeempfänger stieg jährlich um sieben Prozent. Henry Mayhew, Mit­begründer des »Punch«, führt die Verschlechterung der Arbeits­bedingungen auf einen Wechsel der Arbeiteranwerbung und Arbeits­ver­teilung zurück: Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die bis dahin üblichen Arbeits­kon­trakte über zwölf Monate (befristete, »unkündbare«­ Arbeitsverträge) durch täglich neu ­abzuschließende, vom Arbeitsanfall abhängige »Verträge« ab­gelöst. Stückarbeit und Verlagssystem nahmen deutlich zu [53].

Mayhew ging von einem ethno­graphi­schen Ansatz für das Londoner »street folk«, für die Unter­schichten, aus und betrachtete die einzel­nen Volksgruppen wie ein Ethnologe, der in Afrika­ einen neuen Stamm entdeckt: »The metropolitan people differ from one another ... as much as if they belonged to different races« [54]. Das erinnert an die bundes­republikanische Arbeitsmarkt­politik der 1990er Jahre mit Schein­selbständigen, mit 630-Mark-Kräften und an den sogenannten zweiten Arbeits­markt und zukünftig mit einem Zweitregister für die Mehrheit der Arbeit­nehmer, die vom Lohn nicht mehr leben können und deshalb höhere­ staatliche Sozial­transfers erhalten müssen: Katholische Sozialethik in der Bundesrepublik hat dazu geführt, daß eine Familie Vater, Mutter, zwei Kinder) rund 2800 Mark (netto) monatliche Sozialhilfe erhalten kann und durch »Schwarzarbeit« noch Etliches dazu.

Noch 1902 kann (oder muß) Jack London (in»Menschen der Tiefe«) über die Ernährungssitua­tion in London schreiben:
»Die Speisenkarte eines Tages sah folgendermaßen aus:

Frühstück: 3/8Liter Grütze und trockenes Brot

Mittag: 3 Unzen Fleisch, 1 Scheibe Brot,

  ½ Pfund Kartoffeln

Abendbrot: 3/8Liter Grütze und trockenes

 Brot«

Ein englischer Adliger verzehrte in diesem Jahr dreimal so viel Fleisch wie ein Arbeiter. In der streng hierarchisch strukturierten Feudalgesellschaft Euro­pas – nicht nur in England – verliefen die kuli­na­­rischen Grenzen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen den Ständen: Der Bauer hatte sich mit Getreide­brei zu begnügen, der Ritter und Landlord durfte die Fleischberge bezwingen.

Robert Thomas Malthus in seinem 1788 erschienenen »An Essay on the Prin­ciple of Population [55], as its Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other Writers«.«:
»Ein Gesetz, welches verböte, nicht nur für den gegenwärtigen Augen­blick, sondern für immer, den Armen andere Nahrungs­mittel zu reichen als Kartoffeln, Reis und Rumford­sche Suppe würde ich für sehr zweckmäßig halten.

Wenn das gemeine Volk eines Landes im allgemeinen von dem teuersten Getreide lebt, hat es in Notzeiten große Reserven; Gerste, Hafer, Reis und billige Suppen und Kartoffeln erweisen sich als weniger kostspielig und sind zugleich vollwertige Nahrungsmittel.«

Der englische Schatzminister Charles Edward Trevelyan, dem das Gebot des freien Marktes heili­ger war als das der christlichen Nächstenliebe, schreibt, daß es im
»Westen Irlands kaum eine Bäuerin gäbe, deren kulinarische Fähig­keiten über das ­Kochen von Kartoffeln hinausreiche. Brot bekäme man fast nie zu sehen und der Ofen ist ihnen unbekannt.«

Irlands Antwort an die Engländer wegen der Besetzung der Insel durch die »baronets« war und ist die Entsendung junger Irinnen nach Britannien,­ die sich dort als Haus- und Gesindemägde ver­dingen: Die englische Küche einhundert­fünfzig Jahre später immer noch auf irischem Niveau? Obwohl im »Küch- und Keller-Dictio­na­rium« von Paul Jacob Maperger aus dem Jahr 1713 nachzulesen ist:
»Die Englischen Köche haben sich allbereit in die Renommée gesetzet, daß sie die Speisen sehr schmackhaft zuzurichten wissen, dahero man auch viele Königliche und Fürstliche Höfe findet, da neben denen Teut­schen und Frantzösischen auch Englische Köche gehalten wer­den.«

Heutzutage fällt man als Tourist in England sicher­lich in einem »greasy spoon« der englischen Küche zum Opfer, wenn man spam [56] serviert bekommt. Schon im 16. Jahrhundert heißt es in einem­ englischen Sprichwort:
»Gott sendet einem Mann ein gutes Essen, aber der Teufel sendet einen bösen Koch, dieses zu zerstören.«

In den einhundert Jahren von 1724 bis 1825 gab es in Irland mehr als sieben­undzwanzig Mißernten; einige dieser Mißernten, zum Beispiel 1784 oder 1821, waren so schlimm, daß selbst die von Engländern dominierten Behörden von»Hungersnot« sprachen und Getreideexporte von Irland nach Eng­land untersagten [57].

Zwischen 1825 und 1849 wurden vierzehn Jahre als »Hungerjahre« bezeichnet; die englischen Behörden hatten wahrscheinlich nicht bemerkt (wollten nicht bemerken), daß die Kartoffel inzwischen das alleinige Nahrungs­mittel für die irische Bevölkerung geworden war.

Friedrich Engels, 1845:
»Die Kartoffeln, die der Arbeiter kauft, sind meist schlecht, die Gemüse verwelkt, der Käse alt und von geringer Qualität, der Speck ranzig, das Fleisch mager, alt, zäh, von alten,­ oft kranken oder ver­reckten Tieren – oft schon halb faul.«

Einzige Ursache für die Hungerjahre waren Krank­­heiten der Kartoffel, die die Ernte entweder drastisch verminderte oder sogar völlig ausfallen ließ. Mitte des 18. Jahrhunderts tauchte die Trocken­fäule (hervorgerufen durch den Pilz Fusarium caeruleum) auf, eine Krankheit, die eingelagerten Kartoffeln befällt und sie zu einer holzähnlichen ungenießbaren Masse werden läßt.
 

Father Mathew berichtet,daß er auf einer Reise von Cork (nicht mit der Titanic, die von hier aus in den Untergang dampfte) nach Dublin am 27. Juli 1845 durch herrlich grünende und blühende Kar­tof­fel­felder ge­kommen sei; auf der Rückreise am 3. August habe er nur Felder mit faulen­den und stinkenden Pflanzen gesehen. Anfang September berichtete das in Dublin erscheinende »Freeman’s Journal«, eine Zeitschrift für Landwirte, daß in Irland eine Kartoffel­krank­heit aus­gebrochen sei, die man »Cholera« nenne.

Liam O’Flaherty beschreibt in »Hungersnot« das Anwachsen der Braunfäule:

»... sahen sie das Böse auf den Blättern erscheinen. Eine Anzahl kleiner brauner Flecken war zum Vorschein gekommen, die sich, während sie hinblickten, wie durch Zauberei vermehrten und ausbreiteten. Es war, als würde ein flaches sandiges Ufer von der einsetzenden Flut überspült. Es herrschte ein Gestank, wie ihn nur ein in Gang befind­licher Verwesungsgeruch verbreiten kann.«

Auch in Deutschland kam die Braunfäule über die Kartoffeln. Der Landrat von Lüdinghausen im Westfälischen schreibt am 18. August 1845, man bemerke
»auch hier seit etwa sechs Tagen, daß das Kartoffellaub auf einzelnen Sträuchern ganz schwarz wird und bald verdörrt, und daß die nächststehenden Sträucher allmählich fortschreitend von derselben Krankheit befallen werden. Ich habe gestern mehrere noch nicht reife Kartoffeln unter solchem verdorrtem Strauche aufgenommen und an denselben äußerlich nichts Auffallendes wahrgenommen, dagegen in denselben je einen kleinen schwarzen oder gelb fahlen, an sich nicht be­achtenswerth scheinenden Fleck gefunden, der sich, nachdem die Kartoffel länger durchschnitten war, sichtbar vergrößert und mehr geschwärzt hatte.«
 
Im November 1844 erhielt der englische Premierminister, Robert Peel, einen Bericht, daß eine unbekannte Krankheit große Teile der nordamerikanischen Kartoffelernte vernichtet hätte. Das war weit weg von den britischen Inseln; deshalb unternahm die Regierung nichts gegen die sogenannte »Amerikanische Kartoffelpest«. Richtig gewesen wäre eine Importsperre für amerikanische Kartoffeln.

Der irische Sommer von 1845 war heiß und nicht zu trocken gewesen, an sich ideales Kartoffelwetter, das eine große Kartoffelernte erwarten ließ. Das »Freeman’s Journal«, schrieb Mitte Juli:
»Der Reichtum des armen Mannes, die Kartoffelernte, schien nie so groß wie in diesem Jahr.«

Doch das irische Wetter ist unbeständig. Von einem Tag auf den anderen änderte sich das Wetter. Anfang August gab es einen Kälteeinbruch mit Hagel und starken Regenfällen [58]. Es regnete drei Wochen, die Felder standen unter Wasser, das Vieh ertrank, die Hütten der irischen Armen standen voll Wasser, und es blieb kalt und neblig. Unter dem schlechten Wetter litten die Kartoffeln, sie wurden von der Braunfäule befallen [59].

Dr. John Lindley, Professor für Botanik an der Londoner Universität, stellte in einem Artikel am 17. September in der renommiertesten landwirtschaftlichen Fachzeit­schrift »Gardener’s Chronicle and Horticultural Gazette« fest:
»Eine bedrohliche Krankheit grassiert unter den irischen Kartoffelpflanzen, aber wir kennen kein Mittel dagegen. ...

Wir schließen diese Ausführungen mit der überaus bedauerlichen Feststellung, daß die Kartoffeln in Irland ohne jeden Zweifel von der Potato Murrain befallen sind. Doch was soll im Falle einer landesweiten Kartoffelfäule aus Irland werden?«

Anfang Oktober 1845 be­richtete der »Cork Southern Chronicle«
»Wenn sie geerntet werden, scheinen die Kartoffeln prächtig zu sein, aber bei ­genauem Hinsehen zeigen sie kleine runde Flecken. Innerhalb weniger Tage sind sie dann vollständig zerstört.«

Und im »Freeman’s Journal« wurde im selben Monat der Brief ­eines Priesters veröffentlicht
»Es schmerzt mich, mitteilen zu müssen, daß die Kartoffelfäule selbst bei Pflanzen umgeht, die noch vor acht Tagen völlig in Ordnung waren.«

Die »Times« schrieb Mitte Oktober, daß die Erkrankung der Kartoffel überall zu sein scheint, Felder, die den einen Tag noch gesund aussehen würden, wären am nächsten Tag unwiderruflich geschädigt, und die Kartoffel sei sogar nicht mehr ge­­eignet als Vieh­futter.

Die Kartoffeln in Irland waren befallen von einem Sporenpilz, der wohl mit einer Schiffsladung Getreide aus Amerika eingeschleppt worden war. Das schlechte Wetter, der Regen, war nicht der Auslöser für die Kartoffelpest des Jahres 1845, bewirkte jedoch eine schnelle Verbreitung des Erregers, da dieser auf Feuchtigkeit angewiesen ist.

Der irische Unterhausabgeordnete Daniel O’Con­nor forderte im House of Commons von der Regierung, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung einer Hungersnot:

»Die Bevölkerung trifft keine Schuld. Das Schicksal hat ihnen dieses Unglück aufgebürdet.«

Lord Heytesbury, Lord Lieutnant von England, der von der tatsächlichen Ursache der Kartoffelpest nichts wissen konnte, meinte unter­stützend

»Das Wetter war so ungünstig – es gab zu wenig Sonne –, daß die Kartoffeln nicht ausreifen konnten.«

Ende Oktober empfing die irische Regierung eine Delegation angesehener Bürger. Das »Free­man’s Journal« berichtete:
»Dann verhungern sie eben, lautete die sinngemäße, wenn auch nicht wörtliche Antwort des englischen Vizekönigs an die Abordnung, die darum betete, daß das Grundnahrungsmittel des Landes nicht völlig verdirbt, damit die Menschen nicht verhungern müssen.«

Gleichzeitig trafen in Irland Berichte ein, die über den Ausfall der Getreide­ernte keinen Zweifel ließen. Die Kornpreise stiegen dramatisch an, was den Spekulanten nur recht war [60]. Die englische Regierung nahm zur Unter­stützung ihrer irischen Provinz eine Anleihe von acht Millionen Pfund auf, ein Pfund für jeden Iren. Dagegen kann man aufrechnen, daß die irischen Pächter im Jahr 1842 zusammen sechs Millionen Pfund an Pacht­gebühren an die in England lebenden landlords abliefern mußten, Pacht­gebühren, die fast aus­schließ­lich aus dem Verkauf von angebautem Weizen stammten.

Der Ausfall der Kartoffel­ernte (und damit der Wegfall der Pacht­zahlungen) machte aus dem»Goldesel« einen Almosenempfänger. Der Premier­ministerihrer Majestät,Sir Robert Peel, bestellte immerhin im Oktober 1845 für einhunderttausend Pfund [61] amerika­nischen Mais (»indian corn«) [62], ließ es aber in staatlichen Depots einlagern und nicht verteilen. Jedes andere Getreide hätte den Profit der englischen Getreide­händler vermindert.Gleichzeitig – so erinnern irische Natio­na­listen – haben Getreideschiffe schwer beladen mit Korn und Vieh irische Häfen in Richtung Großbritannien verlassen, während andere dem ent­gegen­halten, daß ein Export­stop die Hungersnot nicht verhindert hätte. Andererseits: Hätte sich die englische Regierung erlauben können (und gewollt), eine Million Menschen in Manchester, in London, in Birmingham umkommen zu lassen?

Die Iren waren bereits nach den Mißernten 1845/1846 genötigt, selbst die Saatkartoffeln zu essen und damit endgültig ihre Aussichten auf eine bessere Zeit zu»vernichten«:
»Alle Berichte aus Irland haben eine aus­geprägte Tendenz zur Übertreibung und Ungenauigkeit, so daß Abwarten stets sinnvoll ist«,

erklärte der Premierminister und Vorsitzende der Konservativen,Robert Peel, zu der Hungersnot in Irland. Charles Edward Trevelyan, zuständig für die öffentlichen Arbeiten und für Hilfen für Irland, meinte ergänzend:
»Das größte Übel, mit dem wir zu kämpfen haben, ist nicht die Hungersnot, sondern der egoistische, verderbte und aufrührerische Charakter des irischen Volkes.«

Trevelyansperrte die öffentlichen Zuschüsse für Straßenbauten in Irland, undPeel ordnete vorsorglich an, Arbeitshäuser für die nahrungsuchenden Iren zu bauen: Im Dezember 1846 waren allein in der Grafschaft Fermanagh 5063 Menschen mit öffent­lichen Arbeiten beschäftigt, die nun weg­fielen. Ohne Arbeit – und wenn sie noch so sinnlos war (»Public Follies« genannt) – gab es auch keine Suppe, denn die Engländer gingen davon aus, daß alle Iren faul waren. Trevelyan, der entscheidende Mann in der englischen Regierung, sperrte die vorhandenen Lagerhäuser für Lebensmittel (u.a. mit dem aus Amerika importierten Getreide) und meinte:
»Die einzige Möglichkeit, zu verhindern, daß die Iren sich auf Dauer auf die Hilfe der englischen Regierung verlassen, besteht darin, diese Depots zu schließen.«

was er dann auch am 15. August 1846 veranlaßte.

Peel und anderen»Freihändlern« gelang es im Juni 1846 (nach jahrzehnte­langen Kämpfen), die sog. corn laws, Einfuhrzölle auf Getreide zum »Schutz« der einheimischen Großagrarier, ab­zuschaffen. Daraufhin wurde die Regierung gestürzt und von Lord John Russel abgelöst; der Duke of Wellington meinte: »Die faulen Kartoffeln besiegten alles, sogar Peel.«. Als im September 1846 abermals die Kartoffelernte ausfiel, lehnte John Russel »eine Einmischung in der üb­lichen Art und die Einfuhr von Mais und Getreide nach Irland« ab.Russel bestellte zwar Mais aus Amerika, aber wegen der üblichen Winterstürme konnte er nicht geliefert werden; im übrigen wurde Mais von den Iren abgelehnt – sie nannten ihn »Peels Schwefel«, wegen der gelben Farbe des Maises.

Die neue Politik – eine Philosophie des laissez-faire – setzte sich durch und bestimmt das Handeln der Politiker und Ökonomen bis in ­unsere Tage; Margret Thatcher und Helmut Kohl – wenn sie denn überhaupt von moderner Ökonomie ­etwas ver­standen – treue und blinde Nachfolger von Lord Russel: Diese heutige industrielle Revolution durch Mikroprozessoren und neue Kommunikationstechniken bedarf einer umsichtigen Hand und nicht einer »invisible hand«.

Schon 1789 stellt der französische Konsul in Dublin fest, daß die Iren nur deshalb Weizen ausführen können, weil sie sich den Weizen aus Geldmangel nicht leisten können. Und weiter:
»Nicht der Überfluß geht außer Landes, sondern das, was überall sonst als das Notwendigste angesehen würde. Das Volk begnügt sich auf drei Vierteln des Landes mit Kartoffeln und im nördlichen Teil mit Hafer­schrot, den sie zu Fladen und Mus verarbeiten. So ernährt ein armes, aber an Entbehrungen gewöhntes Volk eine Nation (England), die über weit größere Naturschätze verfügt.«

Die Kornpreise stiegen von etwa 25 Shilling je Quarter Weizen bis 1847 auf über 120 Shilling und fielen erst im September durch amerikanische Importe beeinflußt wieder auf einen Durchschnittspreis von fast 49 ½ Shilling zurück. Nun fallierten auch die großen und kleinen Kornspekulanten und Kornhändler, die auf weiter hohe Preise gesetzt hatten. Da war keine Zeit, der katholischen Iren zu gedenken. Den Falliten, aber auch den normalen Bürgern, fehlte durch den Wegfall der irischen Einnahmen die wirtschaftliche Grundlage. Gut zwan­zig Prozent der landlords gingen während oder nach der »Great Famine« in Konkurs. William Bence Jones, einer der landlords, stellte fest, daß diese Hungersnot alle früheren sozialen Bedingungen verändert habe.

Für die viktorianischen Pfeffersäcke mit ihrem Credo von der freien Markt­wirtschaft bestätigte sich mit der Hungersnot in Irland die Malthussche Theorie: Wenn eine Bevölkerung sich zu stark vermehre, dann sei irgendwann der Punkt erreicht, da das Land die Menschen nicht mehr trug; Kriege und Hungersnöte seien das natürliche Regulativ (heute »hilft« der HI-Virus, das Bevölkerungswachstum in afrikanischen Ländern zu begrenzen). Deshalb war Malthus ein erbitterter Gegner des Kartoffelanbaus, denn mit der Knolle wäre ein zweites Grundnahrungsmittel auf den britischen Inseln vorhanden gewesen; die »Überbevölkerung« war somit voraussehbar, da die Kartoffel die ökonomischen Beschränkungen aufhob:
»Die Neigung der unteren Schichten Irlands zu Trägheit und Regellosigkeit ist unausrottbar, solange das System des Kartoffelanbaus es ihnen ermöglicht, sich weit über die normal benötigte Zahl an Arbeitskräften hinaus zu vermehren.« [63]

Die Kartoffelfäule – so der Landbeauftragter W. Steuart Trench – sei Gottes strafende Hand; eine Kartoffel ist gesund, wenn Wurzelwerk und oberirdisches »Geäst« gleich sind. Die Iren, so meinte man, seien so faul, wie man immer an­genommen habe. Warum auch sonst hätten sie die wenig arbeits­intensive, laut William Cobett »amoralische« Knolle zur Hauptnahrungsquelle gewählt.

Bis vor kurzem, fast einhundertfünfzig Jahre nach der Hungersnot, durfte im englisch besetzten Nord­irland die »Great Famine« nicht in Schulbüchern erwähnt wer­den [64]. Die große Hungersnot war ein Tabu-Thema, »um die Iren nicht gegen die Engländer aufzubringen«. In der nordirischen Politik beschreibt das Wort »Tradition« alles, was die Presbyterianer anleitet, gegen ihre katholischen Mitbürger zu streiten.

Die Bankrotte der Kornhäuser zogen – in Verbindung mit faulen Krediten aus den Aktienspekulationen – eine Finanzkrise nach sich, die sich auf dem Kontinent fortsetzte und in Frankreich die Februar-Revolution, in Deutschland und Österreich die März-Revolution auslösten und das Frankfurter Pauls-Kirchen-Parlament vom Deutschen Reich träumen ließ. 1849 kam es in Sachsen, Hessen, Kurpfalz und Baden (in den Ländern, in denen die Kartoffel weit­verbreitetes Nahrungsmittel war und die durch die Mißernten besonders betroffen waren) zu mehreren Aufständen [65], die von preußischen Truppen nieder­geschlagen ­wurden.

 

Ein Erntejahr ausfallen lassen zu müssen, war für die von vielen anderen Nahrungspflan­zen ausgeschlossenen Iren schon schlimm genug – zwei fehlende Ernten hintereinander führten zur Kata­strophe [66], denn auch 1846 wurden die Kartoffeln von der Braunfäule befallen.

Nach einem milden Frühjahr brach erneut eine Kälteperiode aus. Wieder fiel Regen in unerhörtem Maße und verdarb die Kartoffelsaat.

Vor allem im Westen und Süden Irlands waren örtlich begrenzte Aus­fälle der Kartoffelernte und anschließende »kleine Hungersnöte« ­unter Kleinbauern und Pächtern nichts Neues.

Es kam in den vielen Jahren immer wieder einmal vor, daß der Regen zu früh oder zu spät eingesetzt hatte, die Sonne zu lange schien oder gar nicht. Regional begrenzte Ernteausfälle konnten in »normalen« Jahren durch Kartoffeln aus anderen irischen Gebieten ausgeglichen werden. Diesmal hörte das Schlagen der Totenglocken überhaupt nicht mehr auf. Diesmal hatte der »Genius Loci« die Iren wirklich verlassen. Diesmal fand man nicht mal am Ende der boreen, wo die Zwerge und Gnome und die Elfen wohnten, irgendwelche Nahrung. 1845 bis 1849 sind in die irisch-katholische Geschichte als die »großen Hungerjahre«, »The Great Famine [67]«, »An Gorta Mór« eingegangen.

Obwohl englische Gesetze bestimmten, daß in den Arbeits­häusern eine äußerst harte Behandlung der Insassen zu erfolgen habe, drängten die Iren in Massen in diese Einrichtungen; Ende November 1846 stürmten viertausend Menschen mit den Wort »Brot oder Blut«das Arbeitshaus von Listowel in der Grafschaft Kerry [68]. Die Epidemie hatte sich auch deshalb so schnell ausgebreitet, weil der Winter 1846/1847 bereits ­frühzeitig eingesetzt hatte und die entkräfteten Iren nicht in der Lage gewesen waren, rechtzeitig und ausreichend Torf für die Beheizung ihrer Hütten zu beschaffen.

Auch die englischen Felder wurden von dem Pilz »Phytophthora infestans« befallen. Wenige Jahre später vernichtete die Kartoffelfäule auch die belgische Ernte, aber – anders als in Irland – verhungerte niemand, weil die Kartoffel hier ein wichtiges, aber nicht das einzige Nahrungsmittel der ­armen Leute war.

Knollen, die scheinbar gesund geerntet worden waren, wan­delten sich innerhalb weniger Tage in eine ­klebrige, übelriechende, schwarz­braune Masse, die nicht mehr eßbar war.

Benjamin Disraeli schrieb ein Jahr vor seiner ersten Wahl zum Premierminister in seinem 1847 veröffentlichten Roman »Tancred or The New Crusage«:
»So wollen wir sehen, wie es damit bei einer zweiten Sintflut bestellt sein wird. Beherrschung der Natur! Da ist nun die bescheidenste Wurzel, die dem Menschen Speise schafft, in ganz Europa auf geheimnisvolle Weise verdorrt, und schon erbleicht man ob der möglichen Folge.«

Der Mangel an Kartoffeln zog alle anderen Nahrungsmittelpreise – bestimmt von englischen Grundherren – in die Höhe. Die Weizenpreise stiegen von dreizehn Pfund für eine Tonne auf ­dreißig Pfund, und erst im September 1846 fielen die ­Preise wieder auf ungefähr zehn Pfund für eine Tonne. In Anbetracht der Pauperisierung der irische Bevölkerung war Getreide keine Alternative – das Geld, das sie eingenommen hatten, reichte gerade für die Bezahlung der Pacht. Jetzt rächte sich die Politik der englischen Grundherren, die dazu geführt hatte, daß die Geldwirtschaft an Irland vorbeigegangen war; aber selbst eine solche Basis für eine intakte Volkswirtschaft entstand aus eigensüchtigen Gründen auf englischer Seite nicht. Irland wurde wie die Kolonie Indien behandelt.

 Ende August sah man überall die schwarzen Kartoffelfelder. Und man konnte die einzelnen Getreidefelder sehen, deren Ernte jedoch für den Export vorgesehen war. Trevelyan: »Wir können dem Verbot des Exports nicht zustimmen. Der freie Handel ist der richtige Weg.« Auf dem Höhepunkt der irischen Hungersnot wurden 63.000 Zentner Weizen, 700.000 Zentner Gerste und 250.000 Zentner Hafer bzw. Hafermehl nach England exportiert. Während die Iren verhungerten, gewannen die englischen Getreidehändler ein Vermögen.

Noch nach der Hungersnot, 1852, beginnt ein Buch über Irland von Nassau William Senior mit den Worten:
»Der Hauptzweck und die größte Schwierigkeit der Regierung ist es, die individuelle Armut [der Iren] zu erhalten.«

Für die Engländer waren die Kartoffelkrank­heiten die Strafe für die »arbeits­scheuen« Iren, für ihren Papismus, für ihre Rückständigkeit und ­ihren Aberglauben, aber es hieß auch, der Rauch der Eisen­bahnlokomotiven sei Ursache der Mißernten. Für die katholischen Iren war die Hungersnot eine frühe Form des Völker­mordes, bewußt herbei­geführt von den protestantisch-englischen Eroberern, die fast tatenlos zusahen, wie das irische Volk ver­hungerte. Die Besitzverhältnisse, die Bevölke­rungs­­zahl, der Haß der Anglika­ner auf die »papistische« Religion und die Abhängigkeit von nur ­einem Nahrungsmittel waren Ursache der »Great Famine«.

Der irische Freiheitskämpfer John Mitchel schrieb:
»Der Allmächtige brachte uns die Kartoffelfäule, aber die Engländer brachten den Hunger.«

Es heißt, die Engländer hätten an irische Kinder Suppe ausgegeben, um sie zu Protestanten zu »bekehren«; die zwangsbekehrten Iren wurden (die Nachkommen sogar noch in den 1960er Jahren) »soupers«, »jum­pers« oder »turners« genannt. In protestantischen Gegenden Irlands wurde schon anläßlich der Wahlen 1765 gesagt: »Keine Kartoffeln, kein Pfaffentum«..

Jonathan Swift, Autor von Gullivers Reisen, 1667 in Dublin geboren, entwirft 1729 angesichts seines (düsteren) Bildes von der englischen Oberschicht einen
»bescheidenen Vorschlag, wie man verhindern kann, daß die Kinder der Armen ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie vielmehr eine Wohltat für die Öffentlichkeit werden können ... Ein junges, gesundes, gutgenährtes, einjährige Kind ist eine sehr wohl­schmeckende, nahrhafte und bekömmliche Speise«.

Eine Satire, wohl war, aber kennzeichnend für die Situation in Irland.

Nur die »Religious Society of Friends«, die Quäker, arbeiteten nach der strengen Regel, daß »bei der Verteilung der Hilfe keine Vorteile aufgrund des religiösen Bekenntnisses gewährt werden dürften [69].« Die »Times« schrieb, die Massenflucht von der Insel führe dazu, daß es in Irland bald nur so viel Iren gäbe wie in Amerika Rothäute. Und gleichzeitig hatte das großbritannische Königreich Getreide en masse, das von den Engländern nach Kontinental-Europa exportiert wurde. Diese Ex­porte trieben zugleich die Getreidepreise hoch, so daß es unmöglich für die katholischen Iren wurde, es zu kaufen. Die Iren begannen, sich zu wehren: Getreidespeicher und Kornschiffe wurden gestürmt, das Getreide verteilt.

Es gab keine Krankenhäuser, keine Ärzte, nur wenige Apotheken in Irland. Im englischen Parlament hieß es noch Ende Januar 1847, es gäbe ­keine Epidemie; erst im Februar 1847 wurden dann in den Arbeitshäusern sog. Fieberstationen eingerichtet: Kranke und Tote lagen zusammen ohne eine zureichende ärztliche Betreuung; im Mai 1849 starben im Arbeitshaus von Ballinasloe in der Grafschaft Galway innerhalb einer Woche vierhundert­undneunzig Menschen. Heute gibt es dort nur noch verlassene Cottages, keine jungen Menschen, ­keine Kartoffeln, kein frischer Fisch in den Dorfläden, selbst die Grundherren haben sich verflüchtigt.

Im Gefolge der Braunfäule kommen wieder Skorbut, Cholera, Dysenterie, Typhus und Fleckfieber. Fleckfieber [70] führte im Hungerwinter 1846/1847, ver­bunden mit der Unterernährung, fast immer zum Tod. Zwei Millionen Tote in drei Jahren; es waren so viele, daß viele Beerdigungen am Rand der Friedhöfe, den kyles, stattfanden, dort, wo in besseren Zeiten nur die ungetauften Kinder, Selbstmörder, Bettler und Fremde beerdigt wurden [71]. Um die unablässigen Beerdigungen zu bewältigen wurden Särge ohne Holzboden benutzt, die man nach einem Begräbnis wieder verwenden konnte. Die Epidemien [72] wurden »road fever« genannt, weil es von denen verbreitet wurde, die sich über die Landstraßen schleppten, im Freien nächtigten und auf Hilfe in den Städten hofften, aber vorher starben. Nach einer zeitgenössischen Schilderung waren ihre Münder noch grün von den Gräsern und Disteln, die sie in ihrer Not gegessen hatten, und sie sangen:
»1. Oh the praties they are small, over here,

over here

 Oh, the praties they are small

and we dig them in the Fall

 And we eat them skin and all, over here,

over here.

2. Oh, we wish that we were geese,

night and morn, night and morn,

Oh, we wish that we were geese and

could live our lives in peace

Till the hour of our release, eating corn,

 eating corn.

3. Oh, we’re down into the dust,

over here, over here,

Oh, we’re down into the dust,

but the Lord in whom we trust

Will repay us crumb for crust, over here,

 over here.«

Ein Augenzeuge berichtete:
»Die Straßen sind voll zerlumpter Skelette. Gott helfe diesem Volk.«

Und sie aßen nicht nur Disteln und Gräser, sondern auch ihre Haustiere und ihre Nachbarn.

Die von Russel schließ­lich ge­nehmig­ten Armen­küchen wurden befristet eingerichtet, aber gleichzeitig wurden alle Arbeits­beschaffungs­maßnahmen eingestellt und eine neue (lokale) Armen­steuer eingeführt, aus der alle Hilfsmaßnahmen finanziert werden sollten. Ver­schie­dene Hilfsorganisationen sammelten Geld, da weder die angli­ka­nische Kirche noch die englisch beeinflußten Behörden willens waren, den Iren zu helfen;Queen Victoria soll zweitausend Pfund gespendet haben. Nach anderen Belegen soll sie sogar fünftausend Pfund gespendet haben; irische Nationalisten be­haupten dagegen, es habe sich nur um fünf Pfund gehandelt. Irisch-stämmige Soldaten in Indien sammelten von ihrem kargen Sold vierzehn­tausend Pfund und schickten diese ­Summe in die Heimat. Und gleichzeitig verwandelten die englischen Verwalter öffentliche Gelder in private Gelder – für sich.

In der Grafschaft Fermanagh organisierten Rode­rick Gray und Captain Hancock noch vor ­einem ent­sprechenden Regierungsbeschluß im Januar 1847, dem»Soup Kitchen Act«, Küchen für die Armen, die dort für einen Penny Suppe erhalten konnten. Aber selbst das half nicht wie ein Reporter des»Imperial« schrieb:
»Wir haben aus zuverlässiger amtlicher Quelle erfahren, daß zwei Kinder mit dem Namen Philips in Enniskillen vor Hunger starben, weil sie keinen Penny zum Kauf einer ­Suppe hatten.«

Dabei halfen die Landlords dieser Grafschaft [73] ihren Pächtern noch stärker als es in anderen Grafschaften der Fall war: Sir Arthur Brooke spendete fünf­hundert Pfund zur Finanzierung der Suppenküchen und William Jones, der Landlord von Lisgoole, schuf Arbeitsplätze in der Flachs-Spinnerei, obwohl dies zu jener Zeit ein Zuschußgeschäft war. William Parsons, der dritte Earl of Rosse, unterbrach sogar seine astronomischen Forschungen für längere Zeit, um die Not seiner Pächter zu lindern. In Enniskillen [74] halfen die Suppenküchen mehr als zweitausend und in Maguiresbridge sogar mehr als zweitausend­siebenhundert Menschen, mit diesen Suppenküchen zu überleben.
 

1848 kam die Kartoffelpest wieder. Auf den Feldern waren die schwarzen Blätter der Pflanzen abgefallen. Es war das dritte Hungerjahr hintereinander. Die Menschen aßen die Rinde von den Bäumen und ohne die schützende Rinde gingen auch diese Bäume ein.

Der Franzose Alexis Soyer machte 1848 der Regie­rung den Vorschlag, in Dublin große Volksküchen zu eröffnen. Mit allen Vollmachten ver­sehen und unter dem Patronat des Erzbischofs und des Vizekönigs bereitete er auf einem der größten Plätze (vor den Royal Barracks) acht Kessel mit acht verschiedenen Suppen vor; am ersten Tag gab es Kohlsuppe, Erbsensuppe, Zwiebelsuppe, Bohnensuppe, Linsen­suppe, Hammelbouillon und Ochsenbouillon. Die Armen erhielten Gutscheine von der Stadtverwaltung und ­einige Tage lang kostenlos die von Soyer hergestellten Mahlzeiten. Doch die Suppe konnte die sieben Pfund Kartoffeln, die ein irischer Arbeiter angeblich üblicherweise an einem Tag aß, nicht ersetzen.

Soyer beschrieb seine Erfahrungen in einem Buch (»Die Küche der Armen«), in dem er darauf hinweist, daß seine Suppen kräftigend und wohlschmeckend seien, obwohl sie kein Fleisch enthielten; der letzte Punkt wurde zum Anlaß genommen, ihm vorzuwerfen, daß er – im Auftrag der englischen Regierung – mit diesen Hungersuppen das irische Volk ausrotten wolle. Trevelyans Sekre­tär bemerkte dazu:
»Es gibt Grund zu der Annahme, daß diese Hilfe ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllt, sondern lediglich die Bequemlichkeit der unteren Schichten befördert. Sie kommt allein den Bauern und den Arbeitgebern zugute und nicht wie eigentlich beabsichtigt, den wirklich Bedürftigen.« [75]

Die Suppenspeisung wurde eingestellt (dafür gab’s wieder die»irische Diät«: Kartoffeln, Essig und Wasser), was ja wohl auch im Sinne eines Robert Malthus gewesen ist [76]. Trevelyan:
»Meiner Meinung nach wurde bereits zu viel für diese Leute getan. Es hat nur dazu geführt, daß es ihnen schlechter statt besser geht.«

Dennoch: Man nimmt an, daß die Suppen­küchen von Soyer – bei aller Kritik – rund drei Millionen Iren das Leben retteten.

Und gleichzeitig gab Lady Mayoress aus Dublin einen großen Ball und auf der Gesellschaftsseite einer Dubliner Zeitung konnte man lesen:
»Es wurde bis spät in die Nacht getanzt. Dazu gab es vorzügliche Speisen und Getränke in schier unerschöpflicher Menge«

Im Herbst 1849 war die Kartoffelpest überstanden. So plötzlich wie die Pest kam, war sie auch wieder weg. Was den »Phytophthora infestans« stoppte, ist bis heute unbekannt.

 

Ganz Europa erlitt in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre Hungerjahre, die irische Katastrophe ist nur besser dokumentiert, weil es auch die englischen Bürger indirekt betraf und weil ­neben der Hungersnot auch noch eine besondere politische Komponente eine Rolle spielte. Auch über die heutzutage unvorstellbare Not der Kätner und Häusler in Schlesien und in Sachsen liegen Dokumente vor. In den Insten-Häusern herrschte Schmalhans als Küchenmeister.

Während in Irland und anderswodie Kartoffel auf den Feldern verrottete, kam es im August 1845 zu einer wirtschaftlichen Krise in England, da die seit 1843 grassierende Spekulation in Eisenbahn­aktien ein jähes Ende fand [77] und einige Spekulanten (aber auch»normale« Bürger) ihr mühevoll erworbenes Geld verloren und bankrottierten.

Da konnte die Hungersnot in Irland niemand berühren.

Hungersnöte entstehen dem indischen Wirtschaftswissenschaftler Amarthya Sen zufolge nicht durch Nahrungsmittelknappheit, sondern dadurch, daß die Menschen nicht in der Lage sind, die an sich verfügbaren Nahrungsmittel zu kaufen. Es ist richtig, daß Irland zu diesem Zeitpunkt nicht genügend Nahrungs­mittel hatte, aber dieses Land gehörte zu Großbritannien, und im Königreich war ausreichend Nahrung vorhanden. Die Politik Londons gegenüber ihrer Kolonie Irland war von Rassismus geprägt; Karikaturen zeigten die Iren als Affen und»Wilde« und noch heute wird in der englischen Presse die IRA mit Begriffen wie»beast« und»monster« bezeichnet. Daran ist erkennbar, daß die Beschimpfung und Beleidigung kontinental-europäischer Politiker durch die englische ­Presse eine lange Tradition hat, die man aber bei den Inselaffen auch nicht überbewerten sollte.

 

In den Jahren 1850 und 1851 kriselte in England zu­sätzlich die Textilindustrie, da die Baumwoll­ernte weltweit unter dem lang­jährigen Jahresmittel lag. Fast der gesamte Handel zwischen England und Irland kam 1849 zum Erliegen. Sidney Godolphin Osborne schreibt über den Westen Irlands 1850, daß er nicht wisse, wie ein Land aussehen müsse, durch das ein Feind gezogen sei, aber er denkt, er habe jetzt ein Beispiel dafür gesehen.

Mit der Kartoffelkrankheit war ein Grund­pfeiler des englischen Bürgertums getroffen, mit dem Verfall der Baumwollindustrie der zweite. »Die Produktivität der englischen Industrie hing von der Behandlung der Sklaven in Texas, Alabama und Louisiana ab«, schrieb der »Economist« im September 1850 [78].

Es war wieder keine Zeit, der katholischen Iren mit ihrer Hungersnot zu gedenken. Noch heute wird in England gesagt – in Erinnerung an die Hun­gersnöte: »If you don’t eat potatoes, you shall die«. Von Mai 1851 bis Juli 1865 wanderten als Folge der Kartoffelpest 1.591.487 Iren (so schreibt es Marx) nach Nordamerika als sog. Zwischendeckpassagiere [79] aus, und von 1865 (nach dem Ende des Bürgerkriegs) bis 1874 gingen noch einmal fast eine Million Iren nach Nordamerika [80]. 1847 heißt es in ­einem Lied:
»The first downfall that Ireland got, the lumpers [81] they were black / When I am hired with Captain Murphy to work my passage to new York.«

James Joyce im »Ulysses«:
»Sie haben die Bauern stammweise vertrieben. Zwanzigtausend von ihnen sind auf den Sargschiffen [82] gestorben. Doch die das Land der Freiheit erreichten, gedenken des Landes der Knechtschaft.«

Die irische Bevölkerung betrug 1841, also vor der Braunfäule, 8,2 Millionen, 1851: 6,6 Millionen und 1866 nur noch etwa 5,5 Millionen. Karl Marx schreibt ironisch im »Allgemeinen Gesetz der kapi­talistischen Akkumulation«:

»Die Hungersnot erschlug 1846 in Irland über eine Menschenmillion, aber nur arme Teufel«.

Und zur Ernährungssituation in Irland schreibtMarx im»Dritten Manuskript« zur»Kritik der Nationalökonomie«:

»Der Irländer kennt nur mehr das Bedürfnis des Essens und zwar nur mehr des Kartoffelessens und zwar der nur der Lumpenkartoffel, der schlechtesten Art von Kartoffeln.«

Der englische Fabrikinspektor Robert Baker berichtet, daß trotz ihrer wirt­schaft­lich miserablen Lage die vom Land in die Stadt vertriebenen Iren versuchten, ihren Kindern ein Minimum an Schulbildung (Flaubert: »Braucht das Volk nicht zu seiner Ernährung«) zu ermöglichen.

Baker zitiert einen »Wäscheklopfer« (mit 97 Arbeitsstunden in der ­Woche):

»Für diese Arbeit erhalte ich zehn Schilling und sechs Pence wöchentlich. Im Sommer ernten wir einige Kartoffeln, womit wir selbst ein Bodenfetzchen bepflanzen, und wenn sie zu Ende sind, gehen wir zu Brei zurück. Drei unserer Kinder besuchen die Schule, wofür wir einen Penny per Kopf wöchentlich zahlen.«

Die irische Hungersnot wirkte langfristig: Die katholischen Iren heirateten spät oder gar nicht oder wanderten aus. Hatte Irland 1801 rund 5,3 Millionen Einwohner und 1911 etwa 4,4 Millionen, so beträgt die Bevölkerung zum Ende des 20. Jahrhunderts nur noch 3,2 Millionen Menschen, die»Grüne Insel« ist damit das einzige Land Europas, in dem die Bevölkerung in den letzten einhundertfünfzig Jahren abnahm. Aber es hatte auch Auswirkungen auf die Sprache: Die Auswanderung beschleunigte den Untergang der gälischen ­Sprache. Irisch wurde die Sprache der Armut. Bis in die 1950er Jahre hinein war englisch in Irland an den Schulen und in den Familien eine verpönte ­Sprache und dennoch hatte gälisch keinen Erfolg.

Im St.-Lorenz-Strom in Kanada steht ein Kreuz, das an die Hintergründe der Auswanderung er­innert:

»thousands of the children of the Gael were lost on this island while fleeing from foreign tyrannical laws and an artificial famine in the years 1847–48.«

Gestärkt ging die katho­lische Kirche aus der Hungersnot hervor: Sie verringerte den Anteil und die Anzahl der länd­lichen Armen, unter denen der Einfluß der katholischen Kirche damals am schwächsten war zugunsten der wohlhabenderen Bauernklasse, die die Hun­gers­not besser durchstanden.

Weideland für die Schafzucht wuchs Anfang der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Irland um 127.470 acres, der Ertrag aus dem Kartoffelanbau sank von rund 4,3 Mio. to auf etwa 3,8 Mio. to (minus 10 Prozent), obwohl sich die Anbaufläche um etwa 2,5 Prozent vergrößerte. Marx schreibt, daß trotz des Aderlasses an Menschen (in zwanzig Jahren – 1851 bis 1871 – wanderten rund 2,3 Millionen Menschen aus) der Reichtum Irlands nicht sank: Die Aus­gewanderten schickten mühsam gesparte Geldsummen an die Zurück­gebliebe­nen und berichteten über die Möglichkeiten in Amerika. Die erheblichen Spenden nordamerikanischer Iren haben also eine lange Tradition und setzen sich in der Unterstützung für die IRA bis heute fort.

Eine notwendige Ergänzung: In heutigen protestantischen Schulen in Nordirland beträgt der Anteil katholischer Lehrer über fünfzehn Prozent, in katholischen Schulen beträgt der Anteil protestantischer Lehrer unter fünf Prozent, weil diese das geforderte Leumundszeugnis vom örtlichen Kaplan ihres Wohnortes selten beibringen können, aber müssen.

 

In Amerika führte die massive Einwanderung [83] der Iren zu einer merklichen Veränderung des politischen Lebens: Die irischen Einwanderer verstärkten die bereits 1791 gegründeten »Vereinigten Iren« unter Theobald Wolfe Tone, deren Hauptziel es war, die Engländer aus Irland zu vertreiben [84], aber zugleich ein Machtfaktor in den Vereinigten Staaten wurden und blieben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es, ausgehend von den pro­testan­tischen US-Amerikanern, zu fremdenfeind­lichen, auch religiös motivierten, Aus­einander­­setzun­gen gegen Iren, Italiener, Ungarn, Polen, Rumänen, Deutsche [85] und rus­sischen Juden. 1844 – zum Beispiel – kam es zu bewaffneten Zusammen­stößen zwischen Katholiken und Protestanten. Die»gelbe Gefahr« (und damit war nicht der Kartoffel­käfer gemeint) mußte her­halten wie auch Warnun­gen vor der»indianisch-negroiden Durchmischung« [86]. Rassismus ist keine europäische Erfin­dung des 20. Jahrhunderts. Die Iren gingen in die Polizei [87], Italie­ner und Meyer Lansky auf die andere Seite.

Die Kartoffel war und ist unabdingbarer Bestandteil der irischen Volksküche, Eine Unter­suchung des irischen Amtes für Gartenbauentwick­lung am Ende des 20. Jahrhunderts ergab, daß etwa vierzig Prozent der Iren immer Kartoffeln auf­tischen (sowohl in den ländlichen Gebieten wie auch in Dublin), mehr als die Hälfte der über 50jährigen nur die Kartoffel als Sättigungsbeilage kennen (bei den jüngeren sind es nur noch ein gutes Viertel) und die Armen zu zwei Dritteln nie ein an­deres Lebensmittel als Ersatz für die Kartoffel ser­­vieren (nur 25 Prozent in der obersten Ein­kommens­gruppe).

Wenn es eine Alternative zu Kartoffeln gibt, dann höchstens ein- bis zweimal je Woche. Im Belfast von heute bekommt man zu jeder Mahlzeit Kartoffeln, und selbst beim Chinesen stehen gekochte oder gebratene Kartoffeln oder pommes frites auf der Speisenkarte. Reis ist gesondert zu bestellen, wie übrigens auch in Schottland. Bei ­einer Feldstudie in Schottland bemerkte der Autor erstaunt, daß dies in der Tat in allen Restaurants üblicher Brauch ist; ausgenommen waren lediglich die Restaurants »Wimpy«.

Inzwischen ist die Kartoffel Teil der working classes geworden: Der britische Sonntag besteht aus der Lektüre der Sonntags­zeitungen und dem Genuß eines um 3.00 p.m. angesetzten (aus Roastbeef und in Fett gegarten Röstkartoffeln und Teigpasteten bestehenden) »Sunday dinner«, dessen Krönung der Nachtisch »trifle«, ein süßer Eintopf, ist. Und wenn’s ‘mal ‘was besonders Feines geben soll, dann geht der englische Arbeiter mit seiner Familie um die Ecke zum Mash-and-Pie-Shop und ißt Hackfleischpasteten, ein altes englisches Gericht aus billigstem Rindfleisch (wenn man die Pasteten anschneidet, läuft eine braune Brühe heraus – das hat doch was!).

 

In Schottland entwickelte sich der Kartoffelanbau außerhalb von botanischen Gärten sehr zögerlich. Zwar berichtet bereits 1683 der Obergärtner der könig­lichen Gärten, James Sutherland, in dem »Cata­­logue of The Plants in The Physical Gardens of Edinburgh«, daß dort sowohl die Kartoffel wie auch die Süßkartoffel angepflanzt werde, aber das war es denn auch. Im selben Jahr schreibt John Reed im »Scots Gardener«, die Kartoffel wachse in manchen Küchen­gärten, aber noch 1716 war die Kartoffel ein »rares Museumsstück« wie George Preston im »Catalogue of Plants« schreibt. Ähnlich äußert sich James Reid 1697 im »Husbandry Anatomised«:

»Manche machen Brot von ihnen (den Kartoffeln) und vermischen sie mit Hafer oder Gerstenmehl, andere ­essen zerdrückte Kartoffeln mit Fleischbrühe und Grünkohl.«

Verständlich, daß die Kartoffel anfänglich keinen Erfolg hatte. Daniel Defoe spottet 1706 über die Highlander:

»Es sind beeindruckende Burschen und ich wünschte, Ihre Majestät hätte 25.000 davon in Spanien. Aber gewißlich ist es lächerlicher Un­sinn, zu sehen, wie ein Mann in seiner Tracht [88], bewaffnet mit Breit­schwert, Armbrust, einem Dolch am Gürtel und dazu ­einen Stock, aufrecht und anmaßend stolz die High Street entlanggeht wie ein Lord und dabei ein Rindvieh treibt. Gott schütze uns – das sind wirklich Herren.«

Und diese Herren, so sagten wieder einmal überheblich die Engländer über einen anderen «Volksstamm», waren unsäglich träge und mit an­gebore­ner Faulheit geschlagen. Da wäre – an sich – die Kartoffel mit ihrem zeitlich geringen Aufwand genau das Richtige gewesen. Aber es gab tatsächlich nur geringfügigen Kartoffelanbau in Schottland, allenfalls auf den westlichen Inseln, zum Beispiel auf der Isle of Skye, wird Knollenanbau seit dem Jahr 1695 nachgewiesen. Insgesamt ­waren die Schotten aber nur für die weniger beschwer­lichen Aufgaben geeignet. Die in der zweiten ­Hälfte des 15. Jahr­hunderts immer wieder in Schottland auftretenden Hungersnöte setzen eine Auswan­de­rungswelle in Gang. In allen europäischen ­Kriegen – ins­besondere im Dreißigjährigen Krieg – dienten schottische Söldner; selbst nach dem Jahr 1700 gab es kaum eine Armee ohne schottische ­Offi­­­zie­re [89].

Die ersten Schotten wurden unter Jacob I. (in Schottland der VI.) in Ulster, Aards of Down und in der Nachbarschaft Belfasts angesiedelt [90]. 1612 wurde die Ansied­lungspolitik verstärkt, so daß zum Ende dieses Jahrhunderts etwa einhundert­tausend Schotten in Irland lebten. Ihre enge Bindung zum Highland und zu den Inseln blieb bestehen. 1709, einem Hungerjahr nach einem bitter­kalten Winter in Schottland, wurden den­noch keine Kartoffeln in die frühere Heimat geschickt, wohl auch deshalb, weil die Highlander unter dem Einfluß ihrer Kirche gottesfürchtig die neue Knolle ab­lehnten und lieber hungerten.

Dennoch kamen die Kartoffeln über Irland nach Schott­land: Calvinistische Siedler, die im Gefolge des holländischen Statthalters William von ­Oranien von Schottland nach Ulster gebracht wurden, schickten sie in ihre Heimat zurück.

Im Frühjahr 1743 besucht der Schotte Old Clan­ronald seine Verwandten in Irland, die Mac­Donalds of Antrium. Mit Erstaunen soll er das neue landwirtschaftliche Produkt, die Kartoffel, gesehen und gegessen haben; er nimmt mehrere Säcke mit Knollen mit zurück nach Schottland, gibt sie seinen Pächtern und läßt sie anbauen. David Stewart notiert nachträglich (1802), die Schotten seien aber der Auffassung gewesen, daß die Kartoffel nicht kräftigend genug sei für einen hart arbeitenden Mann.

Die»crofter« und »cottars« bauen auf dem kargen Land Kartoffeln an, bis sie von den Grund­herren im Zuge der »Highland Clearances« nach der Niederlage 1746 auf den »Culloden Fields« (bei Inver­ness) zwischen 1750 und 1850 ver­trieben wurden [91].

Selbst aus ihren Häusern wurden sie vertrieben, obwohl ein altes Recht besagte, daß ein Cottage, das an einem Tag errichtet wurde (und die Nachbarn halfen), Eigentum des Erbauers wurde. Einer der argsten Grundherren war Georg Leveson-Gower; er ließ rund fünfzehn­tausend Bauern und Pächter aus ihren ärmlichen Hütten und aus ihren Dörfern in unfruchtbarere Landesteile treiben. König William IV. ernannte ihn zum Herzog von Sutherland – trotz oder wegen dieser unmensch­lichen Politik? Der Landlord Major Denis Mahon, der einhundert Jahre nach der Niederlage der Schotten bei Inverness »nur« drei­tausend Bauern von »seinem« Land vertreiben ließ, wurde dafür am 2.November 1847 in Trokestown erschossen.

1776 schreibt der Engländer Blair Brummond, daß die »Kartoffel ein be­quemes Nahrungsmittel für das niedere Volk« in Schottland seien. Pro­ble­ma­tisch sei aber, daß das Volk nicht lerne, die Kartoffeln ordnungsgemäß zu lagern, so daß regel­mäßig im Frühjahr – vor den neuen Kartoffeln – die Nahrung nicht ausreiche. Auf seiner schottischen Reise 1773 erwähnt James Boswell in seinem Tagebuch auch mehrmals, daß er des Abends Bratkartoffeln (mit dem schottischen National­gericht»Haggis« [92]) gegessen habe; vor diesem Zeitraum (Boswell wurde 1740 geboren und schrieb seit 1762 sein Tagebuch) wird nur einmal von der Kartoffel berichtet. Die Kartoffel ist demnach in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hunderts ein auch in London bereits bekanntes und übliches Gemüse gewesen und nicht nur für das niedere Volk.

Hinsichtlich der Zerstörung der sozialen Be­ziehungen, der Vertreibung der ur­sprünglichen Einwohner und der politischen Entmachtung der tradi­tionellen Herr­scher gleicht Schottland der»Grünen Insel«. Margret Thatcher, diese Krämer­­­tochter, verhielt sich nicht anders: Die Zerschlagung historisch ge­wachse­ner Gewerkschaftsstrukturen in den 1980er Jahren (auch wenn sie zum Beispiel wegen des berühmt-berüchtigten»bedding man« Reformen erforderlich machten) war die konsequente Fortsetzung der Kolonialpolitik im eigenen ­Lande.

In Tulloch, in der Nähe von Inverness, soll im Jahr 1722 ein Rückwanderer aus Irland die rich­tige Anpflanzung von Kartoffeln« in Schottland ein­geführt haben; erste Belege für einen feldmäßigen Anbau im Norden Schottlands finden sich jedoch erst in den 1740er Jahren. Wie in vielen anderen Ländern, in denen die Kartoffel angebaut wurde, geht auch in Schottland der Anbau von Getreide gleichzeitig zurück und damit die Gefahr von Hungersnöten. James Robertson stellt 1794 fest, daß der Kartoffelanbau »mehr zur Verhinderung der Aus­wanderung beigetragen habe als jede andere Maßnahme.«

1840 betrug im Norden Schottlands der wertmäßige Ertrag von Getreide (Hafer, Gerste, Weizen) rund vierzigtausend Pfund und der Ertrag aus dem Kartoffelanbau rund dreißigtausend Pfund; darin spiegelt sich der immense Anstieg der Kartoffelfelder innerhalb von fünfzig Jahren wider.

1845 bis 1847 waren in Schottland – wie in ­Irland und auf dem Kontinent – Krisenjahre; besonders der Norden (Orkneys, Caithness, Sutherland, Inver­ness, Ross) war stark betroffen. Hilfskomitees in Glasgow und Edinburgh sammelten rund einhunderttausend Pfund für die Hungernden. Aber es gab auch hier Anhänger des Malthus’, die zur gleichen Zeit meinten, daß es sich um einen natür­lichen Prozeß handele, da die Bevölkerung zu stark gewachsen sei.

 

England, Schottland, Wales und Irland nehmen eine wichtige Rolle ein in der Geschichte der Einführung der Kartoffel in Europa. Es ist fest­zuhalten, daß die Kartoffel hier wie auch anderswo als Zierpflanze anfing, über Gärten und Felder auf die ­Tische der Unterschichten und schließlich der Bürger wucherte. Das Vorgehen der englischen Oberschicht in Irland gegen die einheimische Bevölkerung mag in der Rückschau das damals überall ­übliche Verhalten von Siegern und Besiegten ge­wesen sein. Preußen war anders.

 

 

 

Die Kartoffel kommt nach Amerika

 

Wie die Iren wanderten auch die Schotten nach ­Amerika aus und nahmen die bereits 1613 in Nordamerika (wieder-)eingeführte Pflanze als Re-Import mit. In Nordamerika wurde die Kartoffel bereits 1635, also lange vor den Einwan­de­rungs­wellen aus Irland, Deutschland und Schweden»Irish Potato« genannt; die Amerikaner hatten vergessen, daß die Knolle eine ur-amerikanische Pflanze ist: Die Kartoffel hatte ihre Heimat verlassen und offenbar kein Heimweh.

Die»Karriere« der Knolle begann – wie in Europa – spät: Die Einwanderer ver­wendeten sie als Schweinefutter, da man behauptete, der Verzehr der Knollen verkürze das Leben. Auch alle traditionellen Vorurteile aus Europa fanden Platz in dem weiten Land: Kartoffeln hätten aphrodisische Wirkungen und seien nicht gott­gefällig. Was soll man auch von den dortigen Einwohnern halten, von denen fünfzig Prozent glauben, ihre Regierung in Washington verheimliche den ständigen Kontakt mit den Wesen aus den UFOs und die andere Hälfte sicher ist, daß die Mond­landung in Holly­wood produziert wurde? Und dabei würde doch eine Besichtigung der »Area 51« mit Scully und Mulder das Geheimnis endgültig enthüllen

 

Ein kleiner Ausflug nach Idaho ist an dieser Stelle angebracht. Der erste Kartoffelpflanzer in Idaho war ein Presbyterianer namens Henry Harmon Spalding, der 1836 die Indianer-Nation der Nez Percé missionieren wollte. Am Lapwai Creek ­baute er eine Missionsstation, um den Indianern (poli­tically correct: Amerindians) anstelle der traditionellen Büffeljagd das Geheimnis des Ackerbaus und insbesondere der Kartoffel nahezubringen – im Doppelpack mit frommen Sprüchen.

Spalding [93] pflanzte auf dem von unwilligen Indianern (es waren Jäger) um­­gegrabenen Land (fünfzehn acre) zwei Zentner Kartoffeln (sieben bushel). Die erste Ernte, 1837, fiel wegen einer Kartoffel­krankheit aus. Auch ein anderer ­Mis­sionar, Whitman von den Metho­disten, der im selben Jahr erstmals Kar­toffeln anpflanzte, war erfolglos. Erst die 1838er Ernte brachte den Durch­bruch. Als Whitman 1850 von den Indianern ­getötet wird, verläßt auch Spalding die ­Missionsstation; da ist aber der spätere Häuptling Hin-Mah-Too-Pah-Laht-Ket (was so viel heißt wie »Donner der Berge«) bereits so an die Kartoffel gewöhnt, daß er sich zum christlichen (»Chief«) Joseph umtaufen läßt, gegen die Ver­treibung seines Volkes aus ihrem Stammgebiet gewaltsam, aber vergeblich, protestiert und später mit einer Brief­marke der US-Post geehrt wird. Der Kartoffel­­anbau hat dazu geführt, daß sich Idaho (ein indianisches Wort für »Funkeln auf den Bergen«) den Namen »Gem State« gegeben hat, denn in diesem Staat werden auf den riesigen Kartoffel­feldern noch heute Edelsteine aus der Erde geholt.

1847 gründete Brigham Young seine erste Siedlung im Salt Lake Valley (Utah, ursprünglich »Dese­ret« nach dem Buch Mormon genannt), hatte den Tempel errichtet und die ersten Kartoffeln gepflanzt (»This is the place« soll Young gesagt haben). Das planmäßige Anwachsen der Siedler führte zu ­weite­ren Neu­gründungen von Mormonen-Siedlungen (vielfach mit dänischen und schwe­dischen Einwanderern) – Brigham Young soll 325 Siedlungen gegründet haben. Die Mormonen bauten bevorzugt Sellerie an, was in Anbetracht der ehelichen Verhält­nisse nicht unvernünftig war.

1860 wurde in dem Ort Franklin an der Grenze von Utah und Idaho, von William Goforth Nelson das erste Feld mit Kartoffeln bestellt; die erste Ernte umfaßte drei­unddreißig bushels Kartoffeln und ­einige wenige Zwiebeln. Die Kartoffeln der Heiligen der letzten Tage, »Brigham’s Potatoes«, wurden verkauft an Goldgräber (in Idaho war 1860 Gold gefunden worden), aber auch nach San Francisco und ­Chicago geliefert. Die Wanderung der Mormonen in den Westen war wohl organi­siert und entlang des »Mormon Trail« wurden in den Ver­sorgungs­statio­nen Kartoffeln ausgegeben. Der Anbau der Kartoffel in Mormonen-Siedlungen war kein isoliertes Einzelexperiment, sondern ein kalkulierter Ver­such, wirt­schaft­­lich autark zu werden.

 

1890 gewann ein Henry Drake in Idaho einen Preis für die drittstärkste Ausbeute an Kartoffeln »Drake’s Idaho«, auf einem acre in den Vereinigten Staaten. Bereits 1872 begann Luther Burbank in einem Garten in New England eine besonders große Kartoffelsorte zu züchten [94]. Einige Jahre später wanderte er aus nach Idaho und wird heute als »Vater der Idaho®Potato« bezeichnet.

Diese riesigen Kartoffeln der Sorte »Russet Bur­bank«, in Silberfolie und mit Kräuterquark, gerühmt in allen Steak-Restaurants, bekommen jetzt deutsche Konkurrenz: Im Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie in Golm bei Potsdam ist ein Gen aus dem Zucker­stoffwechsel des Hefepilzes Saccharomyces in die Kar­toffel­pflanze ein­geschleust worden, mit dem Ergebnis, daß die Knollen bis zu dreimal so groß wie normal wurden und bis zu zwei Kilogramm wogen – damit kann man dann den üblichen unfreundlichen Kellner in der Service-Wüste er­schlagen! »Meine Vorstellung vom Himmel ist eine riesige gebackene Kartoffel und jemand, mit dem ich sie teilen kann«, sagte die amerikanische Talk­masterin Ophra Winfrey.

Die »Russet Burbank«, heute die wichtigste Kartoffelsorte auf dem nord­amerikanischen Markt, wird in der ersten Mai-Woche gepflanzt und in der ersten Oktober-Woche geerntet; sie benötigt viel Wasser [95] ist schwierig an­zubauen, und die Lager­haltung erfordert eine genaue Einhaltung der Luft­feuchtigkeit. Die Farmer auf dem Snake River Plain [96] in Nevada bekommen in guten Jahren zwischen zwei und drei Dollar je Zentner, für Lagerkartoffeln zumeist nur um die siebzig Cents. Da macht’s nur die Menge. Die Kartoffel ist so wohlgeformt, daß auch Marilyn Monroe Werbung für die Idaho-Kartoffel machte. Bedauerlicherweise sind an einer Pflanze weniger Knollen, so daß der Gesamtertrag gleichbleibt.

Als »Potato Country U.S.A« bezeichnet sich der Bundesstaat Washington (im Nordwesten der USA), der aufgrund seiner klima­tischen Bedingungen (reicher vulkanischer Boden, Wasser im Überfluß und lange Wachstumsphase) den durchschnittlichen Kartoffelertrag je acre in den Vereinigten Staaten um das Doppelte übertrifft. Die »Washington State Potato Commission« fördert die Kartoffel­forschung mit höheren Zuschüssen als andere Bundesstaaten. Der forcierte Anbau der Kar­toffel in diesem Bundesstaat begann durch den Bau des »Grand Coulee«-Damm am Columbia River. Wisconsin ist der ­größte Produzent roter Kartoffeln und der ­drittgrößte Produzent von Kartoffeln – hinter Idaho und ­Wash­­ing­­ton.

Trotz ihrer schnellen Verbreitung in Nordamerika wußten die Amerikaner die Kartoffel nicht zu schätzen. Thomas Jefferson, von 1784 bis 1789 als Nachfolger von Benjamin Franklin Botschafter in Frankreich, hatte die französische Küche kennengelernt und somit auch die pommes de terre. Als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1801–1809) propagierte er erfolgreich die Kartoffel. Jefferson wird zugeschrieben, daß er die pommes frites nach Amerika gebracht habe. Sicher ist, daß während seiner Präsidentschaft bei vielen Abendessen im Weißen Haus Kartoffeln in allen möglichen Zubereitungsarten serviert wurden. Über Jeffersons Präsidentschaft wird gesagt, daß sie genügsam, schlicht und unkompliziert war. Da war die Knolle genau das richtige Gewächs. Weil dieser amerikanische Präsident die Kartoffel so mochte, standen ihm auch die Bürger nicht nach. Die Kartoffel wurde populär – und Geld konnte man als Farmer damit auch noch verdienen.

2003, der Krieg gegen den Irak stand vor der Tür und die Franzosen drohten mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat, beschloß der Chef der Kantine im Repräsentantenhaus, die bisherige Lieblingsspeise der Beamten »French Fries« umzutaufen und daraus »Freedom Fries« zu machen. Es traf auch das »French Toast«, so daß festzustellen ist: Die Kartoffel hat keine Schuld an dem amerikanisch-»alt«europäischen Zerwürfnis.

Ein Quäker aus Vermont, John Calvi, textete ein Lied (mit Gitarrenbegleitung):

»Die Welt hat Probleme, das ist ja wohl klar Das Leben steckt voller Tücken

Wir wursteln uns durch, von Jahr zu Jahr

Was mich angeht: Ich esse Fritten.

Manche sind fromm, und sie knien sich rein Klar, Gott schenkt uns Güte und Gnade

In der Hölle wird stark unter Hitze gelitten Nur: Im Himmel, da gibt’s keine Fritten.

Manche glauben: Armee und Bomben

[und Flinten

Die retten uns alle, weil sonst keiner es kann

Ich glaube es nicht. Wirf den Herd schon mal

[an!

Mach Peace! Und ‘ne Großportion Fritten«

 

Die Franzosen waren die ersten europäischen Bewohner auf dem heute Prince-Edward-Island genannten Eiland. Sie nannten die Kolonie Îsle Saint-Jean und ihren Haupthafen La Joye, in der Nähe der heutigen Charlottetown. Es gibt jedoch keinen Beleg, daß die Franzosen die Kartoffel je auf Prince-Edward-Island kultivierten. Wie auch in den anderen Teilen Nordamerikas wurde die Kartoffel von den Briten eingeführt, die 1758 von den Franzosen die Insel übernahmen.

Vom Anfang an war es offensichtlich, daß die Insel eine ideale Lage für den Kartoffelanbau war. Der erste Gouverneur der Insel, Walter Patterson, berichtete 1771, daß die Kartoffel-Ernte ein »phänomenaler Erfolg« war. Nach 1790 wurden kleine Mengen von Kartoffeln in andere britische Kolonien ausgeführt. 1802 brachte Lord Selkirk Siedler aus dem schottischen Hochland in das Gebiet um die Orwell-Bay. Er versorgte seine Siedler mit Kartoffeln, und in den ersten Jahren überlebten ­diese Siedler fast ausschließlich durch eine Nahrung von Kartoffeln und Kabeljau. 1806 konnte John Stewart in seinem Buch über die Insel und über die Knollen sagen: »Kartoffeln werden in großem Über­fluß geerntet, und in keinem Land wachsen sie besser«.

Die Insel war fast ganz von einem dichten Wald bedeckt, und die ersten Siedler mußten diesen Wald Baum für Baum roden bzw. durch Brandrodung den Platz für ihre Bauernhöfe und für die kleinen Kartoffelfelder zu schaffen. Oft dauerte es ­mehrere Jahre, bis ein Feld völlig von den Baumstümpfen befreit war. Unter diesen Umständen pflanzten Siedler ihre Kartoffeln unter den Stümpfen.

Die Saatkartoffeln wurden eingebettet in die aschige Erde und blieben dort ohne jede weitere Bearbeitung bis zur Ernte. Diese Methode hatte den Vorteil, daß die Siedler Zeit ausreichend fanden, weitere Rodungen vorzunehmen. Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden Kartoffeln in dieser Weise gepflanzt. Walter Johnstone schreibt 1822 über die Erdhaufen, die die Kartoffeln bedecken, »sie ­sähen aus wie Maulwurf-Hügel.«

Statistiken aus dem Jahr 1805 zeigen, daß von den kultivierten insgesamt 10.000 Morgen auf Prince-Edward-Island fünfzehn Prozent mit Kartoffeln bebaut wurden. 1820 wurden über 40.000 Scheffel Kartoffeln exportiert, bis weit in die Karibik. Bis 1840 hatte diese Zahl auf 124.000 Scheffel zugenommen.

In den Jahren von 1845 bis 1850 fiel die Kartoffelernte auch auf Prince-Edward-Island drastisch. Die Kartoffelernte wurde von der gleichen schädlichen Krankheit befallen, die die Kartoffel-Hungersnot in Irland verursacht hatte. Wie in Irland dauerte es Jahre, bis die Kartoffel wieder frei von der Kartoffelfäule war.

Zwischen 1890 und 1920 gab es einmal wieder eine Verringerung der Kartoffel-Produktion auf Prince-Edward-Island. Diesmal war es jedoch ­keine Kartoffelkrankheit, sondern eine Änderung der Nachfrage.

Die moderne Kartoffel-Industrie für die Prince-Edward-Insel ist jetzt weltberühmt; sie begann in den 1920er Jahren, besonders nach der Einführung zweier neuer Kartoffel-Varietäten: Irish Cobbler (irischer Schuster)und die Green Mountain.

 


Anmerkungen
 

1 »Drei feine Dinge sind es, von denen sich die Welt ernährt: Von dem feinen Milch­strahl aus dem Euter der Kuh in den Eimer, von dem feinen Blatt des aus der Erde sprießenden Getreidehalms, von den feinen Faden in geschickten Frauenhänden« hieß es noch im 9. Jahrhundert in »The Triads of Ireland«. Es ist ganz schön bergab gegangen auf den britischen Inseln.


2 Ein unbekannter englischer Schriftsteller schrieb den vielgepriesenen Humor in seinem Land »unserer einfachen Ernährung« zu.


3 Es können natürlich auch die Pocken gewesen sein, die die hohe Sterblichkeitsrate verursachten. Der Geschichtsschreiber Thomas Macaulay: »Die Pocken waren immer da, füllten die Kirchhöfe mit Leichen, peinigten den Verschonten mit ständiger Angst, hinterließen an dem mit dem Leben Davongekommenen die scheußlichen Spuren ihrer Macht, verwandelten den Säugling in einen Wechselbalg, vor dem die eigene Mutter zurückwich, und ließen die Wangen der Verlobten dem Bräutigam zur Abscheu werden.«

Im 17. Jahrhundert sollen die Pocken den anderen Epidemien als tödlichste Krankheit den Rang abgelaufen haben. Wer mit dem Leben davonkam, erwarb sich neben den kennzeichnenden Narben eine 15 bis 20 Jahre anhaltende Immunität, weshalb die Krankheit zumeist Kinder im Alter von ein bis vier Jahren traf und in vier- bis achtjährigen Zyklen aufflammte, sobald wieder ein ausreichendes Potential anfälliger Kinder geboren worden war. Die Pocken traten häufig im Winter und im Frühling auf.

4 Als Jahr dieser ersten Lieferung wird verschiedentlich 1545 angegeben – in diesem Jahr war Hawkins erst dreizehn Jahr alt – richtiger ist wohl 1565!

5 Drake war der erste, der von einem britischen Weltreich träumte und begann, es in die Tat umzusetzen, und er war wahrscheinlich der Entdecker der »Magellanstraße«, was damals verheimlicht wurde.

6 Warum haben Iren rote Haare? Es ist eine Sinnestäuschung, denn nur etwa vier Prozent der Iren haben rote Haare, tatsächlich sind die meisten Iren dunkelhaarig, was damit zusammenhängen soll, daß die Schiffsbesatzungen der spanischen Armada die Irinnen geschwängert haben sollen (was falsch ist, denn die meisten Eindringlinge wurden sofort beim Anlanden an der Küste getötet und gelangten gar nicht bis zum nächsten Dorf). Schwarzhaarigkeit ist biologische Normalität. Rotes Haar beruht auf einer Mutation des für die Haarfarbe zuständigen Gens MCIR auf Chromosom 16. Sie soll erstmals von 50.000 Jahren stattgefunden haben (sagt der englische Forscher Jonathan Rees). Rote Haare und die damit einhergehende helle Haut führen im übrigen zu Hautkrebs, was insbesondere aus Irland stammende Australier, aber auch Urlauber auf Mallorca feststellen müssen. Mehr Rothaarige als in Irland gibt es in Schottland und auf den westschottischen Inseln, wo das Wetter noch schlechter (wolkenverhangener) ist als auf der Grünen Insel.

7 Als 1707 Admiral Sir Clowdisley Shovell mit vier von fünf Kriegsschiffen im dichten Nebel auf den Scilly-Inseln strandet und zweitausend Seeleute wegen fehlerhafter Navigation (man konnte jener Zeit noch nicht den Längengrad bestimmen) ertranken, wurden nur zwei Männer an den Strand gespült. Sir Clowdisley und ein Matrose. Und was passiert? Es taucht eine Strandräuberin auf, die den Admiral totschlägt, um sich dessen Smaragdring zu nehmen. Die Spanier der »Kartoffelarmada« erläuterten vor ­ihrem Totschlag noch den Kartoffelanbau.

Erst mit den Ideen der französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und der späteren Übernahme dieser Gedanken in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts hörte die Strandräuberei an der Nordsee-Küste auf. Die Freiheit des Bürgers und seines Eigentums vertrug sich nicht mehr mit dem Anlocken von Schiffen durch falsche Leuchtfeuer und der daraus folgenden Plünderei des Wracks. Die Dampfschiffahrt beendete diese Form der Piraterie endgültig.

8 »›Zuerst wollen wir Piraten sein.‹ Der Commissaris humpelte begeistert herum. ›Ein weiterer unerfüllter Kindertraum. Wißt ihr, daß ich als Kind heimlich eine Augen­klappe trug, mit dem Armeesäbel meines Großvaters ­spielte und mir den Namen Francis Drake gab?‹«

Die Zee-rovers waren vor Westindien besonders aktiv. Und ihre Brutalität war berüchtigt: »Da schlitzte er einen von ihnen bei lebendigem Leib, riß ihm das Herz heraus, biß hinein und warf es einem anderen ins Gesicht.«

Henning Venske:

»Wer wissen will, warum die Engländer schon vor Jahrhunderten aus­zogen, um Kolonien zu erobern und ein Weltreich zu gründen, der muß nur drei Dinge tun: englisches Essen probieren, in englischen Betten liegen und englische Frauen bei der Morgentoilette zu beobachten«. Ein Franzose warf den Briten vor, sie trügen erbärmliche Unterwäsche, und die Australier sagen über ihr ehemaliges Mutterland, die Briten »halten ihr Geld unter der Seife versteckt«, womit die mangelnde Hygiene und der sprichwörtliche Geiz vereint werden.

9 Das aus dem Mittelniederdeutschen stammende vribute meint, daß die Überfallenen die Beute frei – gaben, nicht gemeint war die Freiheit der Meere.

Dann gab es außerdem die Strandräuber, die falsche Leucht­zeichen aufstellten und vorbeikommende Schiffe anlockten und Mann und Maus erschlugen, und das Holz der Schiffe verfeuerten.

Beispielhaft seien die Ritter von Lappe genannt, die einen um 1335/1340 erbauten Wohn- und Verteidigungsturm, dem späteren Schloß Ritzebüttel, bewohnten und von da aus die auf der Elbe vorbeifahrenden Schiffe der Hansestadt Hamburg überfielen. Dann langte es den Hamburgern und sie vertrieben 1393 zusammen mit 800 Wurstfriesen die Lappes. Von da an war Koogshaven, Kuckshaven, Cuxhaven bis zum Ende des 20. Jahrhundert teilweise hamburgisch. Die Insel Neuwerk an der Elbmündung ist der letzte Rest hamburgischer Herrlichkeit.

10 Am 28. November 1577 ankert Drake mit seinem Flaggschiff »The Golden Hind«, ursprünglich »Pelican«, vor der Insel La Mocha und nimmt Kartoffeln, Wurzeln (Rüben) und Vieh (»two very fat sheep«) an Bord.

11 Hariot war 1585 oder 1588 in Virginia, um die dortige Flora und Fauna kennenzulernen; sein veröffentlichter Bericht ist mit Zeichnungen von John White versehen. Bei seinem Bericht, 1590 gedruckt, handelte es sich um ein Schrift zur Anwerbung ­neuer Siedler für die Kolonien in Amerika. Hariot war im übrigen ein bemerkenswerter Mann: Er entwickelte die Algebra weiter und entdeckte in der Optik das Snellsche Brechungsgesetz, betrachtete den Mond mit einem Teleskop (vier Monate vor Galilei) und als erster Europäer Sonnenflecken. Nichts wurde veröffentlicht, weil er ein Zauderer war und immer auf die ­endgültige Gewißheit wartete. Auf dem Sterbebett bat er seine Nachlaßverwalter, seine Papier zu ordnen, vergeblich: Erst 150 Jahre später tauchten sie zwischen irgendwelchen Pferde­stallabrechnungen auf.

Hariot war der Auffassung, daß Raucher seltener krank werden, weil der Rauch »überflüssigen Schleim und andere unangenehme Körperflüssigkeiten abführt, öffnet alle Poren und Wege des Körpers.«. Um 1611 bekam der Raucher Hariot Nasenkrebs, an dem er nach vielen elenden Jahren starb.

Ein englischer Siedler an der Chesapeake Bay, der »tobacco coast«:

»Es gibt kein Land mit besseren Wasser­wegen. Ein Gentleman kann hier von London aus besser versorgt werden als jemand, der fünf Meilen im Landes­inneren von England lebt.«

Der Gouverneur der Plymouth Kolonie, William Braford, dankte jedoch nicht den Indianern: »Und sicher ist, daß es Gottes Vorsehung war, dieses Korn zu finden, denn wir hätten nicht gewußt, was wir sonst hätten tun können.« Dabei hatten die Kolonisten, im ersten Winterjahr nur deshalb überlebt, weil sie Vorratsläger der dort lebenden Indianer aufspürten und plünderten. Im übrigen lehnten die »Siedler« Venus- und Miesmuscheln ab und entschuldigten sich bei vorbeikommenden Besuchern, daß ihnen nur Hummer angeboten werden konnte.

12 1607 wird die erste heute noch bestehende Siedlung von Europäern in Nord­amerika gegründet, Jamestown. Später heißt es »This is the place, where a nation began.«

Die »Pilgrim Father« wollten Kabeljau fangen, waren aber keine Fischer, wollten Land bestellen, waren aber keine Bauern, wollten in Freiheit ­ihrem Glauben nachgehen und führten deshalb Hexen­prozesse durch.

13 Eine Ergänzung zum Tabak und zu Pocahontas. Schon recht bald waren die englischen Siedler in Virginia auf die Idee gekommen, einen kleinen Teil ihrer Felder mit Tabak zu bepflanzen. Der erste, der dies in großem Stil betrieb, war der Engländer John Rolfe. Dieser war im Jahr 1610 nach James­town gekommen. Ein paar Jahre später ­lernte er Pocahontas (1596–1617), die Tochter des Indianer­häuptlings Powhatan, kennen und lieben, obwohl sein calvinistischer Glaube nach Esra 10 gebot, nicht außerhalb seiner Rasse zu heiraten. Die hübsche, aber wohl »lieder­liche« Indianerin wurde daher schnell getauft und nahm den Namen Rebecka an. In der kleinen Holzkirche von Jamestown heirateten 1614 die beiden. Der frisch gebackene Ehemann erhielt vom Schwiegervater aus dessen Beständen die besten Tabaksamen.

Unter dem Gespött der anderen Kolo­nisten bebaute Rolfe sein gesamtes Land, das er mühsam gerodet hatte, mit einer besonders ertragreichen Tabaksorte. Bereits mit seiner dritten Ernte (1614) verdiente er so viel Geld, daß er es sich leisten konnte, 1616 mit seiner »Prinzessin« nach England zu reisen, wo – in dem feucht-kalten Klima – Poca­hon­tas-Rebecka alsbald an einer Lungenentzündung starb. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, welches Auf­sehen dieses Paar, der reichgewordene Pflanzer aus der Kolonie und die schöne Indianerin auf den großen Festen der Londoner Gesellschaft erregte.

Rolfes Beispiel machte Schule. Nicht so sehr, was die multikulturelle Ehe betraf, sondern den Tabakanbau. Die Siedler bebauten bald jedes verfügbare Stückchen Land mit Tabakpflanzen. Flachs und Baum­wolle, bis dahin die Hauptanbauprodukte ge­rieten ins Hintertreffen. Die Widerstände der englischen Krone und der Geistlichkeit gegen dieses so erfolgreiche Kraut waren bald hinfällig, zumal die Krone durch und am florierenden Tabakshandel mitverdiente. Den ­Bauern im südwestlichen England wurde sogar untersagt, Tabak an­zubauen, um den amerikanischen Kolonien keine Konkurrenz zu machen.

14 Raleigh schrieb ihr auch Gedichte: »Was Liebe ist? Dezember, mit ein bißchen Mai. Sonnen­licht, darin Regen. Zahnschmerzen, ohne Leid. Ein Spiel, das niemand ge­winnen kann.« Seine Geschichte über die Suche nach dem Goldland »Kurze wunderbare Beschreibung des goldreichen Königreiches Guyana in Amerika oder der neuen Welt, unter der linea aequinoctialis gelegen« erschien 1594 und wurde 1603 in Nürnberg in deutscher Sprache veröffentlicht.

15 Vielleicht ist das der Grund, daß die Protestantin Elisabeth die Maria Stuart – Papistin, Franzosen­kind, katholisch und sinnenfroh (das gehört zusammen) – sterben ließ?

Elisabeth I. war eine hochgebildete, polyglotte (griechisch, latein, französisch, italienisch, spanisch, englisch) und musikalische Frau (sie spielte mehrere Musikinstrumente und soll ganz passabel gesungen haben) Außerdem verfaßte sie metrische Versübersetzungen von Plutarch, Boëthius und Horaz ins englische. Selbstverständlich dichtete sie auch selbst. François d’Alençon, der Bruder des französischen Königs Henri III. und Sohn der Katharina von Medici, der um sie freien mußte und um des erhofften Geldsegens wegen auch wollte, verabschiedete sie am Ende der Cour 1582 mit einem Poem »Monsieur«, denn er war 22 Jahre jünger als sie, ungebildet und katholisch und häßlich: Von einem pockennarbigem Gesicht mit einer großen Knollennase (!) ist die Rede. Elisabeth nannte den französischen Galan ihren »lieben Frosch«. Bis heute bezeichnen die Engländer in einer Art von Haßliebe die Franzosen als »frogs«.

Das elisabethanische Zeitalter gilt als stabil. Doch diese vermeintliche Stabilität ist erkauft worden durch Verdrängung aller wichtigen und drängenden Probleme vom Steuerrecht bis zur Religionsfrage, verbunden mit einem publikumswirksamen Personenkult und einem altertümlichen Herrschaftsverständnis. Elisabeth Tudors Hauptverdienst sei angeblich die »Entdeckung« Shakespeares gewesen.

Der Historiker David Starkey über eine spätere Elisabeth: »Wenn man siebenmal gesalbt wird, wenn einem zwei Kronen auf das Haupt gesetzt werden, wenn man drei Zepter bekommt und ein Schwert, wenn man ungefähr fünfundvierzigmal gesegnet wird und die Großen und Mächtigen des Landes vor einem knien und einem Treue schwören und das Ganze fünfeinhalb Stunden dauert, vergißt man es nicht« und kann deshalb nicht zurücktreten.

16 Seiner Frau Anne hinterläßt der »wohlgenährte Spießer, der an Verdauungsstörungen litt«, nur das »zweitbeste Bett«. Der Theaterunternehmer Shakespeare legte im übrigen sein Geld in Grundstücke an und beteiligte sich an den Einhegungen der Weideflächen, der damit verbundenen Vertreibung der Kleinbauern und an Getreide-Spekula­tionen.

1848 stellt ein amerikanischer Oberst namens Joseph C. Hart fest, Shakespeares einzige Leistung habe darin bestanden, Obszönitäten in die Bühnenstücke anderer (zum Beispiel Bacons) einzubauen. Na und?

17 Der weltweite Erfolg dieser Restaurant-Kette hängt auch damit zusammen, daß Fleisch traditionell einen höheren Stellenwert als andere Nahrungs-Rohstoffe – zum Beispiel »Hendl« oder »Lachsersatz-Brötchen« – hat.

18 »Immer« hat sich »alles« ums Essen gedreht – nicht um die Moral.

19 Als Shakespeare seine Stücke schrieb, gab es noch nicht das berühmte Oxford-Englisch, wie man es in der deutschen Schule lernt, aber in England nicht spricht und das in Nord-Amerika lächerlich wirkt. Wenn dem Shakespeare ein Wort gut gefiel oder es des Reimes wegen nötig war, schrieb er es halt einfach hin; im übrigen erinnert seine Sprache an ein altertümelndes Cockney-Englisch. Darüber hinaus gab es – nicht nur bei Shakespeare – Wortspiele­reien: Die französische Burg Louvre wurde zu »Lover«, die vom französischen Dauphin gelieb­ten Huren und Pferde wurden in »Heinrich V.« zum zusammengesetzten »whore«. Ach, und die Schauspieler waren auch in den weiblichen Rollen alles Männer.

20 Robert Boyle gelobte freiwillig Keuschheit, weil er ­meinte, daß Frauen und Physik nicht zusammenpassen würden.

21 In Italien, in dem es auch eine Art »Bauernlegen« gab, wurde durch eine kleine semantische Ab­weichung aus »boschi comuni« (gemeinschaftliche Wälder) »boschi del comune« Wälder der Stadt und damit Wälder der dort Herrschenden.

22 Wir zitieren aus Albrecht Thaer: »Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirthschaft und ihrer neueren practischen und theoretischern Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung teutscher Landwirthschaft für denkende Landwirthe und Cameralisten«, Hannover 1804 bei den Gebrüder Hahn

23 Auch der zukünftige Charles III. (»Pritz Chuls«), der mannigfachen Anlaß hat, seiner Urgroßmutter berühmtesten Ausspruch zu tun: »We are not amused«, neigt der Landwirtschaft zu und unterstützt entsprechende Bestrebungen. Auf seiner in Cornwall gelegenen »Duchy Home Farm« verwirklicht er seine Vorstellungen von modernem, umwelt- und kultur­bewußtem Landbau und kämpft gegen »monströse Karbunkel«.

Im übrigen: Die heutige Behandlung des Prinzen und der Familie Windsors in der veröffentlichten Meinung Englands ist harm­los im Ver­gleich zu den Schmähungen, die das englische Königshaus in den zwei­hundert Jahren von Jakob I. bis zu Georg III. am Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte. Und da mußte man sich nicht erst am türkischen Pavillon convenieren! und dann gegen Personen niedrigeren Standes gewaltsam vorzugehen.

24 Im Bemühen, der englischen Landschaft neue Pflanzenarten zuzuführen, reiste der Vater bis nach Algerien und nach Rußland, der Sohn sogar nach Virginia; auf dem Grabstein der beiden Tradescant steht, daß »sie durch Natur und Kunst gewandert, wie ihre erlesene Sammlung an ­allem, was selten im Land, See und Luft ist, zeigt.«

Beide Tradescants waren Gärtner und Botaniker; der Vater hatte sogar das Amt eines Aufsehers über die königlichen Gärten, Reben und Seidenraupen in Oatlands Palace inne. Der ältere Tradescant sammelte im Haus der Familie, »The Ark«, in Lambeth Raritäten aller Art – wie es damals in den besseren Kreisen üblich war.

Für das Raritätenkabinett des Herzogs von Buckingham versuchte er,

»– eines Ellofanten Kopf mit gar gewaltigen Zähnen, darinnen,

– eines Flußpferdes Kopf der größten Art, die zu erlangen

– eines Seebullen Kopf mit Hörnern,

– aller Art große Schlangen und Häute von Schlangen & insonderheit von jener Art, die einen Kamm auf ihren Kopf hat, gleich einem Gockelhahn«

John Tradescant vermachte Elias Ashmole, einem Freund, eine Miniatur­schnitzerei auf einem Mandelkerns, auf dem sich eine komplette flämische Landschaft mit einem sitzenden bärtigen Mann und etlichen klar erkennbaren Tieren befindet. Miniaturenschnitzereien waren in finanziell besser gestellten Kreisen sehr beliebt.

25 Heute würde man dies einen paternalistischen Führungsstil nennen, da aber die Anzahl Frauen in leitenden Funktionen zunimmt, wohl eher maternalistisch. Adolf Freiherr von Knigge nannte im »Journal von Urfstädt« den Koch einen »Wanstmann«, was eine wohl treffliche Bezeichnung. für viele Köche ist.

26 Ein direkter Vorfahr von Diana, der »Königin des Herzens« (oder so ähnlich); so ist hiermit auch die Verbindung der Kartoffel zu diesem Thema hergestellt. Es sei hier darauf hingewiesen, daß man nach Althorp bei Northampton fahren muß, um die letzte Ruhestätte zu sehen, und nicht nach Althorpe bei Kingston upon Hull, wo man aber eine Kartoffelchipfabrik findet.

Barbara Cartland, die Stiefgroßmutter dieser «Königin der Herzen« auf die Frage eines Journalisten, ob im heutigen England die Klassenschranken gefallen seien: »Ja, natürlich, sonst würde ich mich doch mit Ihnen nicht unter­halten.«

27 Die frühen Kräutergärten in England (und anderswo) waren »physic gardens«, Arznei­gärten, die ersten Herba­rien Heilkundebücher auf Kräuterbasis. Apotheker und Bader wurden auch als »Mörder der Gesunden« bezeichnet.

28 Orangen waren ein beliebter Imbiß vor einem Theaterbesuch; Verkäuferinnen von Orangen hießen »Orange girls« – die (wie Nell Gwyn) es nicht nur wegen der symbol­haften Frucht bis zur Mätresse eines Königs (Charles II.) brachten.

29 »Den Porzellanbus fahren« – so nennt es der Ire, wenn er vom Pub-Besuch nach Hause kommt, die Kloschüssel beidhändig umfaßt und sich kniend in sie entleert. Die amerikanische Prohibition wurde eingeführt, weil mächtige Inter­essengruppen das Geld der Arbeiter umlenken wollten: Auf der einen Seite standen die Fabrikanten alkoholfreier Getränke und die Besitzer von Kettenläden und Kauf­häusern, die ihre Waren für 5 oder 10 Cent verkauften und auf der anderen Seite die Hersteller von Whiskey, Bier und harten Schnäpsen sowie die Weinproduzenten und Weinimporteure, die ebenfalls gute Puritaner waren. Es gelang in einem vier Jahre langen Kampf, die Münzen des kleinen Mannes umzulenken. In Europa errangen die Alkohol­gegner nie diese Erfolge, da es hier eine andere Kaufhaus-Struktur gab.

30 Die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft spielte im Prozeß der Industrialisierung Englands eine bedeutende, wenn nicht sogar die ausschlaggebende Rolle. Es wird oft übersehen, daß Großbritannien bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bei Nahrungsmitteln im wesentlichen Selbstversorger blieb. Trotz des raschen Bevölkerungswachstums war das Land nicht auf den Export industrieller Güter angewiesen, um damit den Import von Nahrungsmitteln zur Ernährung seiner Bevölkerung zu finanzieren. Fortdauernde Selbstversorgung war unter diesen Umständen nur möglich, wenn es gelang, die landwirtschaftliche Produktivität im Vorfeld und im Verlauf der industriellen Revolution so gewaltig zu steigern, daß sie mit dem raschen Bevölkerungswachstum zumindest Schritt halten konnte.

31 Der Franzose Michelet in seiner »Histoire de XIX siècle«: »Für die Engländer ist ­diese Nahrung vor allem Fleisch. Da es zur Arbeit, zum Reisen gezwungen war, gab sich England immer mehr dem Genuß des Fleisches« (»No sex, we are Britain«) »hin und machte daraus sozusagen eine ­Religion.« Der Ungar George Mikes nennt nur einen Satz, wenn er über das »Sexleben« der Briten schreibt: »Die Menschen auf dem europäischen Festland haben ein Geschlechtsleben, die Engländer haben Wärmflaschen.«

32 Im selben Aufsatz meint Engels, daß die »britische ­Nation .... die verbrecherischste der Welt geworden« sei. Als Beleg nimmt er die Anzahl der Verhaftungen für Kriminal­verbrechen, die von 1805–1842 in England erfolgten; ­Engels Schlußfolgerung aus di­e­sen Zahlen ist jedoch falsch, da sich im selben Zeitraum die Bevölkerung um 24 Prozent und die Verhaftungen um 20,5 Prozent, sich außerdem die Polizistenanzahl deutlich erhöhte und für andere Länder keine Zahlen vorgelegt werden. Diese Zahlenmogelei er­innert an des früheren deutschen Bundesinnenminister Kanthers Begründungen zum Großen Lauschangriff über die organisierte Kriminalität bzw. an die Kassenführung der hessischen CDU.

33 Im Hochmittelalter betrug der Fleischverbrauch pro Kopf und Jahr etwa 100 kg, Anfang des 18. Jahrhunderts nur noch rund 50 kg und am Ende jenes Jahrhunderts nur noch etwa 20 bis 25 kg.

34 Der »Merchandise Marks Act« von 1887 sollte die eng­lischen Qualitäts-Produkte insbesondere von dem minderwertigen Zeug der Deutschen unterscheiden.

35 Die FAZ im August 1998 im Zusammenhang mit der Firma Hohner: »Die Württem­berger waren die Chinesen des neunzehnten Jahrhunderts.«

36 Im selben Jahr wird festgelegt, daß Kandidaten für das House of Commons weder »blöd noch taub« sein dürfen; auf eine vergleichbare Bestimmung wollten sich deutsche Parlamentarier bisher nicht festlegen.

37 Eliza Gilbert alias Lola Montez alias Mrs. James alias Mrs. Bolton alias Gräfin Landsfeld alias Mrs. Heald verquickte Liebe, Politik und Tolldreistigkeit. Als sie 1861 in New York als wohlhabende Frau stirbt, hinterläßt dem »Magdalenenheim« dreihundert Dollar und der Rest geht an Mrs. Buchanan, Frau des 15. US-Präsidenten, mit der Bitte, diese möge es für wohltätige Zwecke verwenden.

König Ludwig hatte in den sechzehn Monaten, die »dös wüaste ­Luder« in München weilte, für sie fast 16.000 Gulden ausgegeben. Das Weib rauchte, trug Pistole und Dolch bei sich und stolzierte mit Bluthund und Reitpeitsche durch München, aber Ludwig hatte wohl nur zweimal ihre Huld gefunden.

38 Oliver Cromwell wurde als Sohn eines Landjunkers streng puritanisch erzogen. Geschäftssinn, Muckertum und selbstgefälliges Wesen waren die Kennzeichen der »In­depen­denten«, die innerhalb der Kirche nur die Gemeinde als »Hoheit« anerkannten. Ein solcher Mann, fest ein­gebunden in englisches Junker- und Groß­bürgertum (er war verheiratet mit der Tochter eines reichen Londoner Pelzhändlers) und streng antipapistisch, konnte für die katholischen Iren nur Haß aufbringen.

Als »Independent« gewährte er allen religiösen Gruppen außer den Anglikanern und den Katholiken religiöse Toleranz. Als Lord Protector führte er innenpolitische Reformen im Rechts- und Er­ziehungswesen durch. Cromwell ließ von seinen »gottesfürchtigen Männern« in seiner »betenden Armee« in Irland Männer, Weiber und Kinder abschlachten. Auf seinen Kanonen, mit denen er wahllos in die Dörfer und auf die Iren schießen ließ, stand der Bibelspruch: »Gott ist die Liebe«. Fanatiker wie Cromwell glauben an diese Sprüche vielfach sogar noch selbst. Es wäre zu fragen, ob Zyniker oder Fanatiker die argeren Bösewichter sind. Cromwell war wohl beides. Seine Ab­neigung gegen ein erbliches Königtum verhinderte nicht, daß nach seinem Tod sein Sohn Richard Cromwell »Lordprotektor« der Republik wurde.

Nach der Restauration der Stuart-Monarchie wurde am längst verstorbenen Cromwell und zwei weiteren Königsmördern die damals beliebte »Leichenhinrichtung« voll­zogen: Ausbuddeln und als Skelett hängen (bis daß der Tod eintritt oder so ähnlich).

Sebastian Haffner (in »Geschichte eines Deutschen«) meint, daß es eine spezifisch preußische Abart des Puritanismus gäbe, die vor 1933 die deutschen Geistesmächte ­beherrschte:

»Sie ist dem klassischen englischen Puritanismus verwandt, aber mit einigen charakteristischen Unterschieden. Ihr Prophet ist Kant, nicht Calvin; ihr großes Beispiel ist Fridericus, nicht Cromwell. Wie der englische Puritanismus fordert der preußische Strenge, Würde, Enthaltsamkeit gegenüber den Freuden des Lebens, Pflichterfüllung, treu und Ehrenhaftigkeit bis zur Selbstverleugnung, Weltverachtung bis zur Düsterkeit. Wie der englische Puritaner gibt der preußische seinen Söhnen aus Prinzip wenig Taschengeld und runzelt die Brauen über ihre jugendlichen Experimente mit der Liebe. Aber der preußische Puritanismus ist säkularisiert. Er dient und opfert nicht Jehova, sondern dem roi de Prusse.«

39 Ein gewiß unanständiges, sittengefährdendes Buch, wenn man sich – wie Sir Archi­bald 1922 – auf die vierzig Seiten mit Molly Blooms Monolog konzentriert: »unmitigates filth and obscenity« (Doch ehrlich: Ist das Buch von einem Normal-Sterblichen lesbar und nicht nur Schmackes für Literatur-Kritiker?)

40 Der schottischeCalvinismus ist – so wird gesagt – kraß, schlicht und schmuck­­los. Er hat nichts gemein mit der libera­leren Theologie der anglika­nisch-englischen Staatskirche, aber auch nichts mit dem englischen Klassen­bewußtsein oder dem hierarchischem Denken der katholischen Gesellschaft.

Die nach Irland umgesiedelten schottischen Siedler, die auftragsgemäß und aus eigener Not heraus die gleichfalls unterdrückten irischen Bauern im 17. Jahrhundert von ­ihren Höfen in Fermanagh vertrieben, schworen einen kollek­tiven Eid, ihr Land niemals an Katholiken zu verkaufen.

41 In den 1760er Jahren wanderten nochmals etwa zwanzigtausend Menschen über Ulster aus, die in Amerika Ulsterschotten genannt wurden.

42 Von Cromwell vertriebene katholische Iren kämpften als Söldner im Piemont gegen die Waldenser, und in ihrer antiprotestantischen Leidenschaft schreckten die Iren vor keiner Grausamkeit zurück.

In einer »Relation aus dem Parnasso« vom 26.Juli 1689, einer Zeitung im dänischen (Hamburg-)Altona, ist zu ­lesen:

»Andre Schreiben wollten melden: Ob hätten die Frantzosen in Irrland auf des Königs Jacobi Ordre alle Protestanten in denen Graffschafften Nord-Irland massacriren lassen und bey solcher Barbarischer Execution auch keines Alters geschont.«

43 Bei den Nazis wurde darüber nachgedacht, die deutschen jüdischen Bürger auf der Insel Madagaskar anzusiedeln. Im Mittelalter wurden die germanischen Ursprungsmythen (Odin und die anderen) abgelöst von der Idee eines biblischen Stammbaumes. Danach stammten die europäischen Völker von Noahs Sohn Japhet ab, die Asiaten von Sem und Afrikaner entstammten den Lenden Hams. Leichtfertiges Abschreiben der genealogischen Verwicklungen machte in England aus dem ursprünglichen Stammherrn aller Könige Sceaf erst Seth, dem Sohn Adams und Evas, und später Sem, dem Erstgeborenen Noahs. Deshalb lehnten die Engländer den Japhet als ihren Stammherrn ab (man hätte zuviel Stammbäume umfälschen müssen) – damit schloß sich England aus dem europäischen Kulturkreis aus, was man nicht nur an der Küche und der Euro-Abneigung heute noch merken kann. Cromwell setzte die Engländer an die Stelle der Juden, dem auserwählten Volk, mit einer universa­listischen Mission betraut von Gott direkt; noch heute glauben die US-Amerikaner, englisch erzogen und geprägt, daß sie die Auserwählten seien. Deshalb besteht eine ­besondere Affinität zwischen Israel und den Christlich-Konservativen Nordamerikas.

44 Bis weit ins 14. Jahrhundert schaffte man gerade ein Saatverhältnis von 3 : 1. Dieses Verhältnis verbesserte sich in den Jahrhunderten danach nur unwesentlich.

45 Reis erbringt etwa zehn Tonnen je Hektar, besondere Züchtungen kommen auf etwa achtzehn Tonnen; theoretisch denkbar sind unter Einsatz von chemischen Mitteln etwa fünfundzwanzig Tonnen je Hektar. Dann ist der Wunderreis am Ende und die Erde vergiftet.

46 Ein deutscher Offizier Ende des 19. Jahrhunderts in Ostafrika: »7 km war ich an diesem Abend durch Bananen marschiert. Es ist das einzige, was die faulen Neger hier pflanzen. Und warum? Die Bananen wachsen hier ganz von selbst, nicht einmal aus­putzen tut sie der Neger.» Klingt ähnlich.

47 Welche Bedeutung der Heringsfang für die Anrainer der Nordsee hatte, ist auch daran zu erkennen, daß um 1670 etwa achthunderttausend Friesen und Holländer mit dem Heringsfang beschäftigt waren. Heute ist »dank« der Überfischung der Nordsee zu beobachten, wie ein alter Industriezweig zugrundegeht, aber vielleicht liegt das auch nur daran, daß die Wassertemperatur gestiegen ist und deshalb nicht nur der Kabeljau die Nordsee meidet.

Auch menschlicher Samen stirbt ab, wenn die Temperatur in der Hose (durch enge Jeans) zu hoch ist. Der Ge­burten­rückgang in der industrialisierten Welt ist also nicht auf die chemische, sondern auf die textile Industrie zurück­zuführen. Die Verwestlichung der Dritten Welt durch Television, Film, Microsoft und McDonald wird das Malthus­sche Gespenst der Überbevölkerung bannen.

48 Der amerikanische Nahrungshistoriker John Cooper schreibt in seinem Buch »Eat and Be satisfied«, daß die jüdische Bevölkerung in Osteuropa zweimal so schnell wuchs wie die der christlichen Nachbarn und führt dies auf den Kartoffelverzehr zurück: »Ohne die Kartoffel konnte es keine enorme Bevölkerungs-Explosion in Ost-Europa gegeben haben«. Die Kartoffel sei einfach zu bekommen gewesen und billig. Als Beleg führt Cooper an, daß die jüdische Bevölkerung im polnisch-jüdischen Grenzgebiet zwischen 1825 und 1897 von 1,6 Millionen auf etwa 5 Millionen anstieg, obwohl gleichzeitig eine in die Hunderttausende zählende Auswanderung nach Amerika erfolgte. Bekanntlich sei eine Kombination von verhältnismäßig kaltem Klima und Armut für die Verbreitung der Kartoffel gut geeignet.

49 Die nach Irland umgesiedelten schottischen Siedler, die auftragsgemäß und aus eigener Not heraus die gleichfalls unterdrückten irischen Bauern im 17. Jahrhundert von ­ihren Höfen in Fermanagh vertrieben, schworen einen kollek­tiven Eid, ihr Land niemals an Katholiken zu verkaufen.

Noch heute – so wird gesagt – wüßten landlose Iren, ­welche Felder ihren Vorvätern gehört hätten – und sie würden ­ihren Anspruch darauf niemals aufgeben. In Nordafrika wird in den Familien der aus Spanien 1492 vertriebenen Juden der Türschlüssel ihres damaligen Hauses noch heute vom Vater auf den ältesten Sohn vererbt.

Friedrich Nicolai (1773-1776) in »Sebaldus Nothanker« über die Unbarmherzigkeit des deutschen Klein­­adels: «Die deutsche Sprache, an Konversations­ausdrücken sehr arm, hat kein eigent­­liches Wort für Sostenutezza, und doch ist an vielen gnädigen und nichtgnädigen deut­schen Herren und Damen die Sostenutezza eine der gewöhnlichsten Eigen­schaften.«

50 Ein Pfarrer aus Ulster sagt dem Fürsten Pückler bei ­einem Irland-Besuch: »Hier gibt es keine Christen mehr ... Katholiken und Protestanten haben nur eine und dieselbe ­Religion – die des Hasses.»

51 Nochmals die Reihenfolge: »... überdies das Schwein, ebenso wie die Frau, die Hähne, die Hennen ...«

52 Arthur Young unternahm drei große Reisen durch England, über die er drei Bücher herausgab: »Reise durch die nördlichen Teile von England«, 1772, »Die Reise durch die östlichen Teile«, 1775 und »Reise durch England«, 1780

53 Das ist das, was wir in Deutschland heute benötigen – weg mit diesem lästigen Kündigungsschutz und den langen -fristen. Soll doch jeder sehen, wo und wie er bleibt! Deutschland darf nur noch aus »Ich-AG« bestehen! So geht es voran (oder auch nicht).

Und weil wir gerade über die soziale Hängematte des deutschen Arbeiters klagen. Das mit dem Anspruch auf Altersrente für eingezahlte Beiträge muß auch dringend geändert werden. Doch: Der Sozialpolitiker Gerhard Mackenroth stellte bereits 1952 fest, daß jeder Sozialaufwand aus Mitteln bezahlt werden muß, der auch in der jeweiligen Periode erwirtschaftet werde müsse. »Kapitalansammlungsverfahren und Umlageverfahren sind also der Sache nach nicht wesentlich verschieden. Volkswirtschaftlich gibt es immer nur um ein Umlageverfahren.« Da hat Walter Riester bei seinen Studium auf der Frankfurter »Akademie der Arbeit« bei der Vorlesung über Sozialpolitik nicht richtig gehört.

54 Sergio Landucci: »Alle Forschungen des 18. Jahrhunderts zu den untersten Arten und ›Wil­den‹ hatten zum Ziel, ... das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu ent­decken.« Mensch (homo sapiens), Schimpanse (Pan troglodytes) und Bonobo (Pan paniscus) sind genetisch zu 99,4 Prozent ähnlich und müßten daher zu derselben Tiergattung gehören. Auch bei anatomischen Vergleichen bestätigt sich die nahe Verwandtschaft. Und die Verhaltensforschung sieht auch nur minimale Unterschiede.

55 Erstens wächst die Menge der Nahrungsmittel in absoluten Abständen (linear), aber die Bevölkerung – zweitens – in prozentualen Abständen (geo­metrisch), und drittens ­würde gerade die Verbesserung der Lebensumstände der Unter­schicht durch höhere Löhne oder durch eine Armen­fürsorge das Übel des Nahrungs­mangels ver­schlimmern, weil diese Unter­schichten sofort ihre Fortpflanzungs­rate er­höhen würden. Nun, das ist wahr­schein­lich das, was ­manche Arbeitgeber in der Bundes­republik heutzutage glauben. Richtig scheint jedoch zu sein, daß die »Unterschichten« es sich gar nicht leisten können, mehr als ein Kind zu nähren und zu kleiden, da mit dem Einkommen gerade das Auskommen erreicht wird.

Malthus ist nur der bekannteste aus einer Vielzahl von Autoren, die vor ihm ähnliche Auffassungen vertraten: Der Italiener Botero Anfang des 17. Jahrhunderts, der Eng­länder Holinshed in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (der die Vermehrung des Viehs für nützlicher hielt als die Zunahme der Menschen) und Walter Raleigh, der kein größeres Übel als den Hunger durch »Überbelegung« des Landes mit Menschen kennt.

56 Nach einer Zeichnung von Monty Phyton mit Hunde- und Kartendosen hat sich dieser Ausdruck für »Müll« und Abfall eingebürgert. Internetnutzer leiden immer häufiger unter spam-Mails.

57 Das war keine besondere irisch-englische Auseinandersetzung, sondern ein all­gemein üblicher Verteilungskampf: In Teuerungszeiten sperrten in England die Graf­schaf­ten gegeneinander, in der Schweiz die Kantone, in Bayern die Kreise, in Preußen die Provinzen, selbst im Frankreich von 1793 die Departements usw. Bei jeder Hungersnot wurden Export­verbote für Getreide erlassen. Heutige Hungersnöte sind nicht ein Problem der Menge, sondern der Verteilung der Nahrungsmittel: Die Lebensmittel finden nicht den Weg zum Endverbraucher. Amarthya Sen schreibt, daß das beste Mittel gegen Hungersnöte in der sog. Dritten Welt nicht die Lieferung von Lebensmitteln sondern Bargeld ist.

58 In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erneut eine ­kurze Eiszeit-Phase: Die Temperaturen waren insgesamt etwas niedriger als in den vorhergehenden Jahren.

59 Die Trockenfäule verursachte 1776 bis 1784 in Baden, 1770 bis 1784 in Württemberg, 1783 und 1784 im Erzgebirge und im Altenburgischen Osterlande Hungersnöte.

60 Erst 1879 ergab sich die Situation, daß sowohl die Getreide­- wie auch die Kartoffel­ernte schlecht war und die Preise dennoch nicht stiegen. Das Getreide wurde aus Amerika­ importiert und drückte damit die Preise – zum ersten Mal hatte der englische Landlord eine schlechte ­Ernte und niedrige Preise.

61 Für den Krimkrieg gab die englische Regierung immerhin siebzig Millionen Pfund aus.

62 Es war damals nicht bekannt, daß Maismehl frei von wichtigen Nährstoffen ist und in Kombination mit anderen Krankheiten zur Ruhr führte und damit auch zum Tod.

63 Es ging dem Malthus also nicht darum, die Überbevölkerung wegen der von ihm prognostizierten Nahrungsmittelknappheit zu fürchten, sondern um eine zu hohe Anzahl Arbeitswilliger.

64 Nur im Staat New York gehört (seit 1996) die »Great Famine« wie schon der »Holo­caust« und die Ausrottung der »Native Americans« zum Pflichtthema in den Schulen.

65 An 31 Orten (zwanzig Prozent aller jüdischer Gemeinden in Baden) wurden Aus­schreitungen gegen Juden bekannt: Haß der Schuldner auf ihre Gläubiger, der übliche christ­liche Antijudaismus, Angst vor der Gleichstellung in der örtlichen Gemeinde, aber auch Mißachtung der zumeist ärm­lichen Minderheit.

66 In der Definition der deutschen Versicherungswirtschaft bedeutet eine Katastrophe »ein schädigendes Groß­ereignis mit zwanzig oder mehr Toten«.

67 Die erste Definition des Begriffes »Famine« in »Webster’s Third New International Dictionary« lautete: »eine ­schwere Verringerung von Nahrungsmitteln, ein Zeitraum einer größter Verknappung von Nahrungsmitteln«. Die zweite Erläuterung beschränkt sich auf »Hunger« im Sinne von »verhungern«.

68 Im Arbeitshaus von Enniskillen in der Grafschaft Fer­managh starben die meisten Frauen an Unterkühlung; die Bettsachen der Kranken wurden zumeist mehr als drei ­Wochen nicht gewechselt; was aber nicht so ungewöhnlich war, denn der Zusammenhang von Hygiene auf die Gesundheit war noch nicht erkannt.

69 1647 wurden die »Quäker« vom Schuhmacher und Laienprediger George Fox in England gegründet und in Amerika vielfachen Verfolgungen aus­gesetzt. Sicherlich hat auch die pia causa, der Wunsch, gottgefällig zu sein und damit das Fegefeuer zu verkürzen, eine Rolle gespielt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich die englischen Behörden mit den Quäkern arrangiert, auch wenn es immer wieder Streitereien um die Verweigerung des Zehnten gab. Auch zogen sie vor niemandem den Hut, was wohl mehr verdrießte als ihre ketzerische Ansicht über die Heilige Dreieinigkeit. Seit 1665 nennen sich die Quäker »Gesellschaft für den Frieden«.

Um diese Zeit bürgerte sich beim bessergestellten Stadtvolk ein, den Zylinderhut zu tragen; Albert Keith Chesterton, zitiert in »Ketzer« 1905:

»Ich vermute, daß Mr. Kensit vor einer Dame den Hut zieht; und was gibt es, abstrakt gesehen, Steiferes und Abstruseres, als die Existenz des anderen Geschlechts dadurch zu versinnbildlichen, daß man ein Kleidungs­stück auszieht und es durch die Luft schwenkt. So etwas ist, um es noch einmal zu sagen, kein natürliches und ursprüngliches Signal wie Feuer oder Speise. Genauso gut könnte der Mann vor einer Dame seine Weste aus­ziehen; und hätte das gesellschaftliche Ritual unserer Zivilisation festgelegt, daß er vor einer Dame seine Weste auszuziehen hat, dann würde er, wenn er höfliche Manieren und Fein­gefühl besitzt, vor einer Dame seine Weste aus­ziehen.«

Und wenn es heutzutage ein gesell­schaftliches Ritual wäre, sein »Zipper-Poblem« auszuleben, dann hätte Monica Lewin­sky überhaupt keine Chance gehabt, von Mr. Starr und der Journaille wahr­genommen zu werden.

70 Fleckfieber (Typhus exanthematicus) wird von Kleiderläusen übertragen; kleinste Hautverletzungen reichen für eine Infektion. Die Erreger des Fleckfiebers (Rickettsia Prowazeki, ein Mikroorganismus, der im Darm der Kleiderlaus schmarotzt) zerstören die Blutgefäße, die Haut schwillt an und verfärbt sich schwarzrot. Hohes Fieber, Übel­keit und Hautgeschwüre kommen hinzu. Bis zum Anfang dieses Jahrhunderts glaubte man, Fleckfieber würde durch Hunger verursacht. Heute liegt die Sterblichkeit bei etwa 20 Prozent. Fleckfieber entsteht auch durch allgemeine Unreinlichkeit; dann heißt es Nerven­fieber. Gegen Kopfläuse hilft bekanntlich Butter, notfalls auch Margarine – des­halb hatte »Brisk« noch bis weit in die 1960er Jahre so große Verkaufserfolge.

71 »Einen Toten im Haus haben« war in Irland (bis in die 1930er Jahre) ein will­komme­ner Anlaß, sich gesellig an der Bahre einzufinden, nach den Beileids­bekundungen die ­Gläser zu füllen, zu singen und zu tanzen. Selbst diese ­keltisch-heidnischen »wakes« mit Kartenspiel und Schaber­nack fielen weg, da niemandem mehr danach war, noch einmal »a good time« mit dem Verstorbenen zu haben.

72 Joel Mokyr unterscheidet vier Kategorien: »low excess death rates«, »moderate death rates«, »high excess morta­lity« und »extremely high excess mortality«

73 Mehr zu Fermanagh und zur »Great Famine« kann der geneigte Leser im Internet finden:
http//www.nua.ie/dagda/Fermanagh/...ory/famineINFermanagh.html# RTFToC8

74 Der Earl untersuchte im Frühjahr 1845 den Nebel »51 Messier« und entdeckte, daß dieser eine merkwürdige Form aufwies – es war der erste entdeckte Spiralnebel.

75 Ein ungenannter FDP-Bundestagsabgeordneter (oder war’s eine dynamische Grüne im Jugendalter?): »Es gibt Grund zu der Annahme, daß die gesetzliche Sozialversicherung ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllt, sondern lediglich die Bequemlichkeit der unteren Schichten fördert.« Das kann man als Beamter oder sonstwie mit öffentlichen Bezügen und Pensionen versehen, so formulieren, um von der eigenen Selbstbereicherungspolitik abzulenken.

Besonders peinlich wird es, wenn auch SPD-Abgeordnete und Regierungsmitglieder, wohl versorgt mit Diäten und Pensionen, so reden und leider auch so handeln. Wer den »Staat« zu einem Gebilde mit shareholder-value verkommen läßt, wie es heute mehr oder weniger offizielle Politik ist, verdient es, achtzehn Prozent der Stimmen zu bekommen (aber von oben kommend).

76 Das britische Gesundheitsministerium beschloß 2001, den prominenten Meisterkoch Lloyd Grossmann zu beauftragen, die Krankenkost in den staatlichen Hospitälern zu reformieren und bewilligte für diese Maßnahme fast 130 Millionen Mark. Grossmann ließ den Kranken Köstlichkeiten aus aller Welt servieren, darunter Lammedaillons auf Couscous. Den englischen Patienten war dies jedoch zu exotisch, so daß die Krankenhausverwaltungen Ihrer Majestät wieder zu Shepherd’s Pie, Yorkshire Pudding und ­weiße Bohnen in Tomatensoße zurückkehren. Gesundheitswesen und Küche bleiben also weiterhin berüchtigt.

77 1845 betrug die Anzahl projektierterEisenbahnlinien in England insgesamt 1035 mit einem Wert von rund 36 Millionen Pfund eingezahlten Kapitals; es gab allein zwanzig auf Eisenbahn spezialisierte Zeitungen. Es war – so schreibt Friedrich Engels – ein riesiges Geschäft für Drucker, Buchbinder, Lithographen und Papierhändler. Hunderte von Eisenbahnlinien wurden projektiert, ohne daß eine einiger­maßen realistische Chance auf Verwirklichung je bestanden hatte. Der Bankrott einiger Großspekulanten zog die Pleite anderer nach sich. Unterhausabgeordnete, das »Barreau«, die Geist­lichkeit, die Krämer, jeder, der vorher im Eisenbahnrausch war, verlor Geld. »Mittel­england«, wie das Bürgertum genannt wird, verlor sein Geld wie weiland die Holländer bei ihrer Tulpenspekulation. Die konservativ wählenden Facharbeiter und mittleren Angestellten werden als »Südosten« bezeichnet.

78 Die katholischen Iren waren von dieser Wirtschaftskrise deutlich weniger betroffen, da sie sowieso von einer nennenswerten Geldwirtschaft ausgeschlossen waren und – im wahren Sinne des Wortes – von der Hand in den Mund lebten. Die Kartoffeln waren keine Handelsware und deshalb waren die Iren nicht irgendwelchen Spekulanten ausgeliefert, sondern »nur« den – schlimm genug – den Un­bilden der Natur. Die dot.com-Blase am Anfang des 21. Jahrhunderts ist vergleichbar mit der Eisenbahn-Spekulation in England 150 Jahre vorher; der Mittelstand verlor ein Vermögen, der Arme konnte kein Geld verlieren, da er immer noch gerade das westeuropäische Existenzminimum (zugegeben auf einem gemessen an Indien und den Favelas in Brasilien vergleichsweise sehr hohem Niveau) durch seiner Hände Arbeit erlangt.

79 Zwischendeckpassagiere waren etwas besser unter­gebracht als die zuvor aus Afrika nach Amerika verschleppten Menschen in der sog. »middle passage«; andererseits mußten sie die Über­fahrt bezahlen. Der Preis von Europa nach Amerika betrug etwa ein Zehntel der Passage in der ersten Klasse – und so war die Unterbringung auch. Eng­lische Schiffe machten planmäßig in Cork fest, um irische Auswanderer an Bord zu nehmen; die Eisenbahnlinien in England bzw. Irland entstanden um die Auswandererrouten.

Die Fahrt über den Atlantik dauerte Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Segelschiff etwa siebzig Tage, mit dem ­Dampfer immer noch zwischen zehn und fünfzehn Tagen. Viele landlords zahlten ihren Pächtern die Überfahrtkosten, um sie endlich los­zuwerden und das Land großflächiger (und damit rentabler) bearbeiten zu können.

80 Die ersten Afrikaner, die nach Virginia zum Tabakanbau geholt wurden, waren sog. Kontraktarbeiter, die sich für sieben (biblische) Jahre verpflichten mußten und an­schließend freie Bürger mit eigenem Land wurden. Auch Europäer unterwarfen sich diesen Kontraktverträgen; jeder Grundbesitzer durfte einen »indentured servant« beschäftigen, der als »mitgenommener Diener« für mindestens vier Jahre die von königlich privilegierten Trustees vorausbezahlte Passage abarbeiten mußte. Die wenigsten dieser Schuldsklaven aus dem englischen Armenstand erlebten die Stunde der Freiheit, denn jeder Fluchtversuch verlängerte die Kontraktzeit.

1861 bricht der nord­amerikanische Bürgerkrieg aus (bis 1865), der mit der Niederlage der Konföde­rierten endet (auf deren Seite auch etliche sklaven­haltende, großgrund­besitzende »freie farbige Damen und Herren« kämpften), eine erste Negerbefreiung bringt und damit das amerikanische Baum­woll­monopol – basierend auf billige Neger­sklavenarbeit – zerschlägt; das Versprechen Abraham Lincolns, jedem befreiten Sklaven »forty acres and a mule« zu geben, wurde natürlich nicht erfüllt (denn man brauchte Arbeiter für die Fabriken des Nordens und Landarbeiter für die Plantagen des Südens).

Im Plantagenland am unteren Mississippi galt der »Code Noir«, kein menschenfreund­liches Gesetzeswerk, aber mit Regeln, die den Sklaven mehr Möglichkeiten einräumte als andere Staaten des Südens: Sie durften nebenbei auf eigene Rechnung Gemüse an­bauen oder Vieh züchten und sich mit dem Erlös, wenn er denn hoch genug war, frei­kaufen und sich eine »Plantage« mit darauf arbeitenden Sklaven zulegten. Das nahm ein Ende mit der Eingliederung Louisianas in die (nord-)amerikanischen Vereinigten Staaten. Das paßte den Nachkommen romanisch-europäischer Einwanderer, den Kreolen, überhaupt nicht und man sah herab auf »les Américains« mit ihrer gewöhnlichen Kultur und ihrer unverhohlenen (aber letztlich erfolg­reicheren) Habgier. Die Befreiung der Negersklaven führte übrigens nicht zur Befreiung der europäischen Kontraktweißen – pacta sunt servanda, Verträge müssen gehalten werden.

Clark Gable als Rhett Butler und Vivien Leigh als die von eingewanderten Iren abstammende Scarlett O’Hara (deren Cousin Waffen aus Amerika schmuggelte) konnten später auf der Leinwand schmachten. So hat alles sein Gutes. Und welche Kindheitserinnerungen verbinden sich doch mit dem »Onkel Tom«!

1852 bot eine Londoner Versicherung in einem Rundschreiben (»Eine Methode, durch die Sklavenbesitzer vor Verlust geschützt werden können«) an, die Sklaven zugunsten ­ihres Besitzers zu versichern; die Prämie sollte jährlich 11,25 Dollar betragen – der Wert eines dreißigjährigen Sklaven wurde mit 500 Dollar angesetzt.

Mit dem »Act for the better Ordering and Governing Negroes and other Slaves in this Province« wurde in Georgia der Preis eines Sklaven oder eines Sklaventeils Mitte des 18. Jahrhunderts festgelegt: »Und wenn jemand in Jähzorn oder Erregung seinen eigenen Sklaven oder den eines anderen tötet, soll er 350 Pfund Bußgeld zahlen. Und falls eine oder mehrere Personen mutwillig einem Sklaven die Zunge ausschneiden, ein Auge ausstechen, ihn kastrieren oder grausam verbrühen oder verbrennen, oder ihn eines Körperteils oder Glieds berauben oder ihm irgendeine andere grausame Bestrafung zufügen, abgesehen vom Auspeitschen oder Schlagen mit einer Pferdepeitsche, Rinderhaut, Rute oder kleinem Stock – jede Person, die sich eines jeden dieser Vergehen schuldig macht, soll mit einer Geldbuße von hundert Pfund belegt werden.« Aber nur im Jähzorn oder bei Mutwilligkeit!

Die »African World Reparations and Repatriation Truth Commission« kündigt 1999 an, daß sie von den Industrie­staaten insgesamt 777 Billionen Dollar Entschädigung für die Versklavung von Afrikanern früherer Jahrhunderte fordern werde. Afrika müsse entschädigt werden, weil der afrikanische Sklavenhandel von den Europäern ausgegangen sei; eine Beteiligung afrikanischer Herrscher am Menschenhandel wird von der »Commission« bestritten – es wäre auch zu peinlich.

Rund 40.000 Schiffsfahrten mit Sklaventransporten fanden nach 1600 statt. Eine Unter­suchung des US-Amerikaners Herbert S. Klein zeigt auf, daß auch der häufig genannte Dreieckshandel zwischen Afrika, Ame­rika und Handel (euro­päische Güter für den Sklaven-Einkauf nach Afrika, Sklaven nach Amerika, ­westindischer Zucker nach Europa) so nicht stattgefunden hat; der Zuckertransport erfolgte – wie auch der Sklaventransport – zumeist auf speziell konstruierten Schiffen, und der Menschenhandel mit Brasilien erfolgte – zum Beispiel – direkt zwischen Afrika und Südamerika.

81 »Lumpers« waren im damaligen Irland die beliebteste Kartoffelsorte – wie heute in Idaho die »Russet Burbank«. Diese Monopolstellung hat möglicherweise zu der verheerenden Hungersnot beigetragen. Heute sind die Gene der »Lumpers« aus dem Verkehr gezogen.

82 »Coffin ships« – schwimmende Särge – wurden die Auswandererschiffe genannt; um die Kosten der Reeder zu verringern, wurde an Wasser und Proviant gespart. Auf der »Elizabeth and Sarah« aus Killala gab es zweiunddreißig Kojen für 276 Menschen und keinerlei sani­tä­ren Einrichtungen. Auf einer dieser Fahrten starben zweiundvierzig Aus­wanderer; nach dem Bericht eines Augen­zeugen wurden die Kranken auf der Quarantäne­insel vor Quebec »buchstäblich ans Ufer geworfen, zwischen Steinen und Schlamm allein gelassen, damit sie ins Trockene krochen, wenn sie das konnten. Auf der Loosthawkstarben bei einer Überfahrt 117 von ursprünglich 348 Passagieren, auf der Larchaus Sligo waren es 108 von 404 und auf der Virginus waren es 148 von 476. Von den 427 Emigranten, die in Irland an Bord der Agnes gingen, überlebten die Schiffahrt und die anschließende Quarantäne nur 150.

Eine rühmliche Ausnahme waren die Auswandererschiffe der Mormonen, auf denen hygie­nische Zustände, gesunde Ernährung und seelische Betreuung herrschten. Stephen de Vere, ein mitreisender, aber besser untergebrachter Mann aus Limerick stellte bei der Überfahrt von Irland nach Kanada fest: »Sie sind dort ohne Licht zusammengepfercht. Ihnen fehlt sogar die Luft zum Atmen. Sie sind krank und mutlos. Kranke und Gesunde liegen so dicht gedrängt, daß sie sich kaum umdrehen können. Ihre fiebrige Unruhe stört alle um sie herum.«

Die Überfahrt nach Quebec kostete für eine sechsköpfige Familie 6 Pfund, nach New York jedoch 21 Pfund. Der Preisunterschied wurde damit gerechtfertigt, daß in die USA ­Leute mit gutem Charakter (und Geld) gingen, während die Elenden und Mittellosen nach Kanada gingen, von wo sie zu Fuß sofort nach New York weiterwanderten und über die Grüne Grenze illegal in die USA einreisten.

Auf der »Leipnitz« der Hamburger Sloman-Reederei starben 1847/1848 auf der Fahrt nach New York etwa einhundert Passagiere. Gustav Löwig beschreibt 1833 in »Die Freistaaten von Nordamerika, Beobachtungen und praktische Anmerkungen für auswandernde Deutsche« die Verpflegung der Aus­wanderer »gleich den Matrosen«:

         »Sonntag         Mittagessen, gesalzenes Ochsen­fleisch

                            und einen von schlechten Mehl und

                            Speck Matrosenpudding, der in einem

                            Säcklein im Meer­wasser gekocht

                            ­wurde

         Montag         gesalzenes Ochsenfleisch mit

                            Kartoffeln

         Dienstag         gesalzenes Schweinefleisch und

                            weiße Bohnen.

         Mittwoch          gesalzenes Ochsenfleisch mit Reis,

                            bloß in Wasser gekocht,

         Donnerstag  wie am Sonntag

         Freitag                 wie am Dienstag

         Samstag          gesalzene Fische mit Kartoffeln

        

         Als Frühstück und Abendessen erhielten wir den

         erwähnten Tee, Zwieback und wiederum gesalzenes

         Fleisch, und dreimal die Woche eine Art Suppe von             Kartoffeln, abermals gesalzenes Fleisch und eine

         tüchtige Portion Pfeffer.«  

Es gelingt Löwig, durch Bestechung des Schiffskochs ein besseres Essen und »dann und wann auch einen Kartoffelsalat« zu erhalten.

Die Schiffsmakler­firma F. W. Bödecker in Bremen teilte 1854 auf Handzetteln die Verpflegung auf ihren Auswandererschiffen mit: gesalzenes Ochsen- und Schweine­fleisch, Erbsen, Bohnen, Grütze, Reis, Mehlspeisen, Sauerkraut (Hein­rich Heine: »Wohl dem, der es vertragen kann«), Kartoffeln, Pflaumen und Butter. Solche Auswahl gab es nach der Landung zumeist nicht mehr.

1817 sollte die »April« mit vierhundert Auswanderern von Den Helder vor Amsterdam nach Amerika fahren. Um die Überfahrt profitabler zu gestalten, wurden weitere Auswanderer für das rund dreißig Meter lange und acht Meter breite­ Schiff angeworben, so daß schließlich fast tausend Menschen an Bord waren. Passagiere schleppten Typhus ein, die Nahrung war vitaminarm. Schon vor der Abfahrt kamen rund vierhundert Menschen ums Leben. Bei der Überfahrt im Oktober 1817 starben weitere einhundert Auswanderer. Die Tragödie auf der »April« brachte das seit Jahrzehnten bestehende »Redemptionersystem«, bei dem die Auswanderer ihre Überfahrt nicht bezahlten, sondern abarbeiteten, in Verruf. Doch nicht Mitleid brachte das System zum Wanken, sondern die Schwierigkeit vieler Geschäftsleute, die Überfahrtkosten wieder einzutreiben; hinzu kam eine drastische Verbilligung der Passagekosten etwa ab 1820.

Ein weiterer Punkt war die Verpflichtung der Geschäfts­leute, die Auswanderer auch für die Dauer des Kontraktes zu beschäftigen, was eine Entlassung unmöglich machte, obwohl die aufkommende Industrie doch eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erforderte. Der Niedergang des »Re­demptionersystems« stand am Anfang der Einwanderung nach Nordamerika und beendete die »weiße Sklaverei«.

Die Engländer entsandten auch Waisen­kinder in ihre Kolonien (1967 ist der letzte Fall einer Zwangsverschickung durchgeführt worden), die dort bei Bauern wie Sklaven gehalten wurden; ein Untersuchungsausschuß des Unterhauses stellte 1998 fest, es sei zuweilen »von solch außerordentlicher Verworfenheit» in der neuen »Heimat« ge­wesen, daß »Ausdrücke wie sexueller Mißbrauch zu schwach sind, um das Vor­gefallene zu beschreiben«.

Innerhalb Europas war die Sklaverei zu der Zeit des Columbus’ bereits am Aussterben (weil die feudale Leibeigenschaft insgesamt günstiger war), in Haiti 1803 verboten, in Mexiko 1831, auf den britischen Karibikinseln 1838 und in der USA 1863 nach dem Bürgerkrieg.

In »unserer« Kolonie Deutsch-Ostafrika wurden die Kinder schwarzer Haussklaven sogar erst 1905 frei­gelassen, obwohl die Kongo-Akte bereits 1885 den Sklavenhandel unter­sagte. Hier, im heutigen Tansania, lag auch das Geschenk, das Kaiser Wilhelm II. 1905 seiner Gemahlin schenkte: »shamba ya bibi«, der »Garten der Frau«; seit den 1920er Jahren ist es ein Wildreservat, das jetzt nach dem Großwildjäger Frederick Courtenay Selous benannt ist.

83 Susanne Paulsen schreibt in »Sonnenfresser«: »Später gestatteten die USA auch anderen Völkern und Religions­gemeinschaften die Einwanderung. Italiener durften kommen, Juden, Russen, Polen und viele andere. Vielleicht waren all diese Frauen und Männer nur deshalb will­kommen, weil die Amerikaner vorher die Iren aufgenommen hatten? Vielleicht hätten all diese Menschen nicht kommen dürfen, hätte es nicht die Iren und ihre Hungersnot gegeben. Wenn dem so ist, dann wäre die Kartoffel mit dafür verantwortlich, daß die Vereinigten Staaten heute ein multikulturelles Land sind.«

84 1796 versucht Tone zusammen mit 14750 Franzosen erfolglos einen Auf­stand und in die Heimat zurückzukehren. 1802 versucht Robert Emmet eben­falls erfolglos einen Coup d’État. Die Young Irelanders reduzieren1848 ihren erfolglosen Aufstand auf eine Schießerei in einem Kartoffelacker. 1858 wird von James Stephens die »Irische Revolutionäre Bruderschaft« gegründet. Der Auf­stand der »Fenians« 1867 bleibt erfolg­los.

85 Katholische Kirchen und deutsche Turnhallen wurden von weißen und fremden­feind­lichen, angelsächsischen und protestantischen Amerikanern zerstört; offen und ver­steckt unterstützt wurden diese WASPs von den »Brahmins«, den direkten Ab­kömm­lingen der ersten Einwanderer. 1855 kam es in Louisville während der Wahlen zu fremdenfeind­lichen Aktionen, denen – weil beide Seiten bewaffnet waren – fünfzehn Menschen zum Opfer fielen. Zur Ehrenrettung der italienischen Einwohner sei darauf verwiesen, daß die WASPs den eingewanderten Iren das »vulgäre kommunalpolitische Parkett« mit den dazu­gehörenden Pfründen überließen und sich so eine irische Korruptionsmaschinerie im Umfeld der »Tammany Democrats« in New York ent­wickelte und die süditalienischen Einwanderer am Anfang des 20. Jahrhunderts diese organisierte Kriminalität nur um eine andere Art bereicherten.

Der spätere nordamerikanische Rassismus und Klassenkampf der 1920er Jahre soll sogar in der Architektur ­nach­­zuweisen sein: So hätten die Brücken über den »Park­ways«, die zum Beispiel in New York zu öffentlichen Badestränden am ­Atlantik führten, eine so niedrige Durch­fahrtshöhe gehabt, daß die öffentlichen Verkehrsbusse nicht hätten durch­fahren können. Damit schloß man die Arbeiter vom Besuch dieser Strände aus.

86 Im Zweiten Weltkrieg wurde die Chinesen als Gegner Japans von den US-Amerikanern besonders hofiert. Zugleich war sich die weiße ­Rasse mit der gelben einig, den Schwarzen den Zutritt zu ihren Lokalen zu untersagen. Das amerikanische Rote Kreuz weigerte sich, eine gemein­same Blutbank mit »weißem« und »schwarzem« Spenderblut anzu­legen, während die ­»China Blood Bank« das Blut gern nahm, was ganz schön fortschrittlich war. Aber auf der »Burma Road«, an deren Bau zu sechzig Prozent schwarze Pioniere beteiligt waren, durften beim ersten Konvoi nur weiße Fahrer ans Lenkrad und später durften aus Fahrer­mangel herangezogene schwarze ­Trucker nur bis zur chinesischen ­Grenze fahren. Der chinesische Wäscheboy oder Eisenbahnarbeiter war tatsächlich der Meinung, er sei im Vergleich mit dem schwarz-farbigen Industriearbeiter höherwertig.

Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor wurden sofort das Wahlrecht und das Grunderwerbsrecht für US-Bürger japanischer Abstammung abgeschafft; 16.849 dieser Bürger wie auch 10.905 deutschstämmige und rund 3.500 italienischstämmige wurden in Internierungslager eingesperrt. Der Beginn der McCarthy-Hysterie. Schon damals traf Herta Däubler-Gmelins Aus­sage zu, daß das amerikanische Rechtssystem »lausig« sei.

Ludwig Feuerbach spricht vom »trägen Kartoffelblut« der Iren, die keine Revolution machen könnten. 1916 läßt sich Sir Roger Casement von einem deutschen U-Boot an der irischen Küste absetzen, um zum Aufstand aufzurufen; er wird sofort gehängt. Oster­montag 1916 beginnt der Oster-Aufstand. 1921 ist England die Querelen leid und behält nur die überwiegend protestantischen Grafschaften in der »Provinz« Ulster.

87 Schon die antiken Kelten und die französischen Bretonen bemalten sich vor dem Kampf mit einem blauen Farbstoff aus den Blättern des Färberwaids (Isatis tinctoria), um den Feind zu erschrecken. Und diese Farb-Tradition hat sich in den Polizeiuniformen der angel­sächsischen Welt ­erhalten. Der Hamburger Innensenator Schill will mit den neuen ­blauen Polizeiuniformen die Wagenburgbesetzer vertreiben.

88 Der Kilt ist (so der Historiker Hugh Trevor-Roper) im späten 18. Jahr­hun­dert ein­geführt worden und keine schottische »Erfindung«, sondern die Idee eines eng­lischen ­Textil-­Fabrikanten, der den abgerissenen Bewohnern der Highlands ein billiges Kleidungs­­­stück verkaufen wollte, das weniger Stoff verbrauchte als der zuvor übliche Kittel, euphe­mistisch und später »Plaid« genannt, das bis zu den Knien reichte, in der Taille gerafft und über der Schulter mit einer Spange zusammengehalten, damit man mit der Rechten Schwert oder Holzknüppel schwingen konnte. Die Kilts waren, sind, etwas größere Lendenschurze, die die private parts des Trägers verdecken sollen. Die verschiedenen »Schottenmuster«, »Tartans«, demonstrierten ur­sprüng­lich nur den sozia­len Rang des Trägers (wegen der Kosten der Garn-Färbung!) und nicht die Zu­gehörigkeit zu einem bestimmten Clan. Auch der »Basler Morgen­straich« am Montag nach Ascher­mittwoch existiert erst seit 1923 und ist nicht auf altes Brauchtum zurück­zuführen.

Auch das »althergebrachte« Beamtentum Deutschlands ist erst im 20. Jahrhundert – in der Verfassung von Weimar– entstanden; erste Ansätze hierfür waren jedoch schon im Reichs­deputationshauptschluß von 1803 entwickelt worden, als die kleinen Fürsten und die Kirchengüter in Deutschland enteignet wurden und der Majordomus und der weltliche Klosterpförtner arbeitslos geworden wäre und deshalb von den »beamteten« Reichsräten eine Versorgungsregelung durchgesetzt wurde.

89 Einer der – jedenfalls in Berlin – bekanntesten Schotten war James Keith vom Schloß Inverugie bei Peterhead im Norden Schottlands. Erst Student der Rechtswissenschaften (in Aberdeen), dann in den kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Tod von Königin Anne die falsche Partei gewählt und deshalb ins Exil gezwungen. Er lebte zeitweilig in Paris, trat zweimal in russische Dienste und wechselte 1747 zu Friedrich II. von Preußen. Vom Preußenkönig wurde er zum Feldmarschall und Gouverneur von Berlin ernannt. Im Siebenjährigen Krieg war er bis 1758 Oberbefehlshaber in Böhmen, wo er bei einem Rückzugsgefecht getötet wurde. Aufgrund seiner Bildung war er vom König hochgeschätzt. Keith war Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die Stadt Berlin ehrte ihn mit einer Straße, in der später die Alliierte Kommandatura saß.

90 Bereits seit 1406 gingen immer mehr Schotten, zumeist unter der Führerschaft der McDonnells nach Irland und siedelten sich dort an. Ursache dieser Emigration war die drastische Verschlechterung des Klimas im Norden der britischen Inseln und damit die erhebliche Beeinträchtigung der Landwirtschaft.

Rüdiger Glaser in »Klimageschichte Mitteleuropas« weist daraufhin, daß Klimakatastrophen ständige Begleiter des Menschen waren. So nahmen in der Kleinen Eiszeit die Hochwasser in allen Flußgebieten zu. Im 18. Jahrhundert war die Temperaturspanne besonders groß; es trat sowohl das Maximum als auch das Minimum in diesem Jahrhundert auf. Das derzeitige »Klimaoptimum« besteht seit etwa 150 Jahren und sei in der Rückschau der letzten eintausend Jahre insgesamt einmalig. Es ist – so Glaser – auf die anthropogene Erhöhung des Treibhaus­effektes zurückzuführen.

91 1746 ist das Schicksalsjahr der Schotten: Ein letzter Wider­stand gegen die Engländer wird auf den Schlachtfeldern bei Inverness (Culloden Fields) blutig niedergeschlagen; Flora Macdonald schmuggelt »Bonnie Prince Charlie« auf die Insel Skye.

Das Clan-System bricht zusammen; 1746 werden von den Eng­ländern die Rechte der Clan-Häupt­linge aufgehoben. Die Engländer beginnen auf den schottischen Wiesen mit der Schafzucht und der Vertreibung der Highlander. Die letzten, traditionellen, Be­ziehungen zwischen den Chief­tains und den crofters und cotters zer­brechen. Die jüngeren (aber auch die 52jährige Flora und ihr Mann) und unternehmensfreudigeren Schotten folgen den Pionieren, die bereits 1722 nach Nordamerika aus­gewandert waren. Zwischen 1760 und 1783 verlassen dreißigtausend und von 1784 bis 1808 weitere zwölf­tausend Schotten ihr Land.

92 Herz, Magen, Leber und Nieren vom Schaf, in einem Schafsmagen gekocht – schmeckt angeblich wie eine gut gewürzte deftige Wurst; da ist einem ja der »Saumagen« lieber. Und dazu muß man natürlich »uisge beatha« trinken – anders geht’s nicht. Weitere Rezepte der besonderen Art im Internet: (Yahoo) rec.food.cooking. Die Frucht des Durian­baumes (Zibetbaum, durio zibethinus) – zum Beispiel – er­fordert die Vorausplanung von sozialen Kontakten und darf in Malaysia nicht in Taxis mitgenommen werden.

93 1839 schickt Spalding ein kleines (handschriftliches) Wörter­buch der Sprache der Nez Percés an das »American Board of Commissioners of Foreign Missions«. Edwin O. Hall, der vorher auf Hawaii für Königin Kaahumanu II. eine Drucke­rei einrichtete, kommt mit einer gestifteten Handpresse und zwei Schriften über Fort Vancouver im Mai 1839 zu der Missionsstation Lapwai am Schlangenfluß, um das erste Buch für die Nez Percés herzustellen; es war in der von Spalding erstellten Orthographie gedruckt: vierhundert Exemplare eines achtseitigen Buches, mit vielen Fehlern und Irrtümern; im August 1839 wurde ein zweites Buch mit zwanzig Seiten gedruckt. Die Druckerei wurde von Hall bis 1841 betrieben, danach für zwei Jahre von Cornelius Rogers, der Lapwai 1843 verließ. 1842 wurde ein sechzehn­seitiges Buch von Spalding gedruckt: »Etshiit Thlu Sitskai Thlu Siais Thlu Sitskaisitlinish«, außerdem wurde eine Broschüre mit den »Gesetzen« der Nez Percés gedruckt. Die Druckerei wurde 1849 bei einem Aufstand der Indianer zerstört.

Spaldings Wirken (und das seiner Nachfolger) ist nicht hoch genug einzuschätzen: Sie brachten die Bibel und die Kartoffel zu den Angehörigen der »First Nation« (wie die Indianer heute in Kanada und den USA heißen), die fast alle Kannibalen waren. Man konnte zu Bratkartoffeln schließlich nicht nur Büffelfleisch, sondern auch den Missionar nehmen, der leichtsinnigerweise sogar noch ohne Jagd zu erhaschen war.

94 Es wird in der Geschichte der Kartoffel zumeist so dar­gestellt, als ob Burbank durch Zufall seine Riesenkartoffel fand und weiterentwickelte. Luther Burbank züchtete neben der Kartoffel auch Blumen, Früchte und andere Ge­müse. Ohne eine formelle naturwissenschaftliche Ausbildung, lernte er die komplizierten Techniken der Hybri­dation. Er war stark beeinflußt von Charles Darwins ­Theorie der natürlicher Auswahl. Seine Pflanzen-Experimente und -Züchtungen setzte er für mehr als 50 Jahre fort. Durch die Hybridation – das Kreuzen von Pflanzen anderer Sorten – züchtete er Tausende von Exemplaren mit besonderen Merkmalen der Farbe, des Geschmacks oder der Größe.

95 In Idaho sind die Felder vielfach kreisförmig angelegt, weil sich so die Bewässerungsanlagen besser einsetzen lassen: Die Quadratur des Kreises aus grünen Kartoffelblättern.

Michael Pollan: »Der typische Kartoffelbauer [in Idaho] ist umgeben von grünen Pflanzen, die mit solchen Mengen von Pestiziden eingedeckt sind, daß ihre Blätter bei näherem Hinsehen einen kränklich weißen, chemischen Belag aufweisen und ihre Wurzelerde als lebloses graues Pulver erscheint. Die Farmer bezeichnen ein solches Feld als ›sauber‹, und im Idealfall ist es tatsächlich vollständig gesäubert von Unkraut, Insekten und Krankheiten – von allem Leben, mit Ausnahme der Kartoffelpflanze.« Das ist der Traum von Monsanto.

96 Der Elektrotechniker und Atomenergiekritiker Arjun Makhijani: »Allein in Idaho liegt fast eine Tonne Plutonium herum. Einiges ist ins Erdreich gesickert und bedroht das Grundwassereinzugsgebiet des Snake River.« Mit dessen Wasser werden die Idaho-Kartoffeln bewässert. Wegen Nebenwirkungen fragen Sie die Befürworter der Atomkraftwerke!


<<        >>

Teilen / share:

Facebook








^