Kontakt /
                contact      Hauptseite / page principale / pagina principal /
                  home     zum
                Europa-Index 1850-2000      
<<        >>

Kartoffel-Geschichte Furche 2.4. Preussens Lehrer: Soldaten werden Lehrpersonen

präsentiert von Michael Palomino 2019

damit gutes Wissen nicht verloren geht

aus: Klaus Henseler: Kartoffel-Geschichte: Warum Friedrich II. einige Soldaten zu Lehrern machen musste:
https://web.archive.org/web/20120204185924/http://www.kartoffel-geschichte.de/Zweite_Furche/Preussens_Lehrer/preussens_lehrer.html

Teilen / share:

Facebook








Warum Friedrich II. einige Soldaten zu Lehrern machen mußte

Über die Situation der Frauen in jenen fernen Jahrhunderten muß hier geredet werden. Dann wird verständlicher, warum die Kartoffel einen so starken Einfluß auf das Bildungswesen in Preußen hatte. Nur unter den bestimmten Bedingungen, dieFriedrich II.vorfand (und die er nicht wesentlich verändern konnte), war es überhaupt möglich (und notwendig) Soldaten zu Schulmeisternzu machen.

Frauen konnten ursprüng­lich – im frühen Mittelalter – den Beruf einer Schreiberin ausüben und später sogar Lehrerinnen an städtischen Schulen werden. Daneben be­trieben Frauen wie auch Männer auf eigene Rech­nung Schulen (Winkelschulen genannt), ohne von einer Stadt oder von einem Kloster hierzu beauftragt worden zu sein. Diese Winkelschulen boten Schreibern und Rechen­meistern, Studenten, Klerikern, Magistern und Scholaren eine Möglich­keit, ihre Kenntnisse gegen Entgelt weiterzugeben. »Sie henkten die Tafel aus« und richteten in Wohnungen oder in gemieteten Räumen, in irgendwelchen Winkeln des Ortes, ihre Schule ein. Winkelschulen waren vielfach Familien­betriebe; die Mitarbeit als »Lehr­frau«, bei der Versorgung von Kostgängern, beim Unterricht der Mädchen und bei der Be­aufsich­ti­gung, wenn der Lehrer die Glocken ­läuten ging, und die Bearbeitung des Schul- und Küchengartens war für die Lehrerfrau und für den Unterhalt der Familie unerläßlich.

Schulunterricht wurde bis weit ins 19. Jahrhundert im Regelfall in einer Klasse für alle Schüler (unabhängig von Lebensalter und Schuljahren) gemein­sam durchgeführt. Später hießen solche Schulen »Zwergschulen«; aber auch daraus kamen hervorragende Landwirt­schafts­­minister und Bun­des­präsi­den­ten. In der Württembergischen Schulordnung von 1559 steht:
    »So dann der Schulmeister die Schulkinder mit nutz leeren will, So soll er die in drey Heüfflein theilen. Das ein, darinn die jheni­gen gesetzt, so erst anfahen zu Buchstaben. Das ander, die, so anfahen, die Syllaben zu­samen schlahen. Das dritt, wölche anfahen lesen und schreiben.«

In Orten, in denen es keine Kirche, wohl aber bildungshungrige Dörfler gab, unter­richteten Wanderlehrer, die im Frühjahr weiterzogen (weil der Schul­betrieb eingestellt wurde). Zumeist kam im Spätherbst ein anderer dieser Lehrer an eine solche Unterrichtsstätte; die Dörfler versorgten diesen Wanderschul­meister so lange, wie er Schule hielt, und nur dann gaben sie ihm eine (einfache) Unter­kunft und Kost; Schulgeld gab es nicht, so daß die Lehrer zum Frühjahr wieder mittellos auf Wanderschaft gingen. Irgendeinen Winkel hatten die ­Bauern schon, in dem ihre Kinder lesen und rechnen lernen sollten.»Berufs­lehrer«, die ganzjährig tätig wurden, mußten in öffentlicher Kirchen­­ver­samm­lung die»Sing- und Orgelprob« ablegen. Viel mehr wurde nicht verlangt (und konnte auch nicht geprüft werden).

Im verhältnismäßig fortschrittlichen Brandenburg-Preußen werden die Zustände um 1800 wie folgt beschrieben:
    »In vielen Dörfern wird zwar Schule gehalten, aber nicht von einem vorbereiteten, ge­prüften, förmlich angesetzten und besoldeten Lehrer, sondern die Gemeinde mietet sich, für drei oder vier Wintermonate irgend einen leicht zu befriedigenden Schneider­gesellen, der dann mit seiner Schule ­wöchent­lich von einem Haus zum andern wandert, und ebenso in der Reihe von den Haus­wirthen ge­speiset wird. In der Altmark und in Pommern pflegt man diese wandernden Lehrer, die immer nur für das nächste Jahr gemietet werden, Gang- oder Laufschul­meister zu nennen. Oft hütet dann ein und derselbe Mann im Sommer das Vieh, im Winter die Jugend des Dorfes; und die Vereinigung dieser beiden Posten ist immer noch natürlicher und begreiflicher, als wenn, wie dies würklich auf mehreren Dörfern der Fall ist, der Schul­meister, um ­leben zu können, zugleich Nacht­wächter ist.«

Erst in den 1820er Jahren setzte sich eine Prüfung der Lehrer durch, was zu unterschiedlichen, leistungs­bezogenen Ein­kommen führte: Vom hoch­qualifi­zier­­ten Lehrer »Erster Klasse« bis zu den »Lehrern 5ter Classe, die völlig unfähig sind«. In Oldenburg gab es nach 1828 nur noch Lehrer der Klassen eins bis drei, die zwischen 30 und 50 Taler (jährlich) erhielten.

Die allgemeine Bildungsmöglichkeit im Mittel­alter wurde abgelöst durch nach Geschlechtern getrennte Schulen, durch die Einschränkung des Schulbesuchs – insbesondere für Mädchen – und durch den Ausschluß der Frauen vom Lehrerberuf. Mädchenbildung wird fast überwiegend nur noch als Vorbe­rei­tung für Hausfrauen- und Mutterdasein angesehen; die Frauen ver­drängt, die Männer alles beherrschend.

Deshalb waren die Schul­lehrer schon zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges männlich und so blieb es weit­gehend denn auch bis ins 20. Jahrhundert, mit wenigen Ausnahmen im 19. Jahr­hundert: Im Württembergischen Volksschullehrergesetz aus dem Jahr 1877 heißt es:
    »Die Lehrerinnen verlieren im Fall ihrer Verehelichung den Anspruch auf ihre Stelle« und »haben keinen Anspruch auf ein Ruhe­gehalt«, denn die »Anstellung weib­licher Individuen im öffentlichen Dienst steht im Wider­spruch mit dem Wesen und der Natur des Weibes.«

Nachdem die Frauen erst aus den Handwerken ausgeschlossen waren, kamen (konsequent waren die Kerle schon) die Heil- und Lehrberufe, aus ­denen die Frauen entfernt wurden. Übrig blieben Tätigkeiten im nicht­militärischen Troß der Söldnerheere, als Marketenderin (»Mutter Courage«) oder als Köchin oder für die »nichtehelichen wercke«: In Stadt und Dorf wurden »Rosen«-Straßen eingerichtet (in Köln durften die gemeyn frauwen auf dem Domplatz den roten Schleier tragen und zeigen).

Das Verdrängen der Frauen aus den Meisterfunktionen und den Handwerks­be­reichen und aus anderen beruflichen Tätigkeiten war die Problemlösung des da­maligen Arbeitsmarkts. Jetzt gelang es, die frauenfreundlichen Bestimmun­gen des »Corpus iuris civilis« des byzantischen Kaisers Justinian aus dem Jahr 527 abzuschaffen. Jetzt gelang es dem biederen Bürger, seine Frau wieder zum ­»Heimchen« zu machen und sie dem Mann untertan zu halten. Adolph Freiherr von Knigge über den Umgang mit Menschen:
    »Freilich, da der Mann von Natur aus bestimmt ist, der Ratgeber seines Weibes, das Haupt der Familie zu sein; da die Folgen jedes übereilten Schrittes auf ihn fallen.«

Die wirtschaftliche Konkurrenzsituation erlaubt es den allein stimm­berechtigten Männern in Zünften und Räten, die Zulassungskriterien für Zunft­berufe zu verschärfen und die Frauen aus den Zünften auszuschließen, nachdem die Handwerke den Juden schon längst verschlossen waren und sich im 15.Jahrhundert die Handwerker-Organisationen auch gegen christliche Kon­kurrenten abschlossen. Frauen konnten das Handwerk, das Geschäft, ­erben, aber besaßen im Regelfall innerhalb der Zünfte nur die Kontrolle (im Rahmen der Zunftregeln) über die Technik, über die Produktion. Insofern ist eine Kontrolle der Produktion allein nicht ausreichend, auch die politische Kontrolle auszuüben: Da haben­ sich Karl Marx und seine Adepten etwas vertan. Das Drängen in die Städte (»Stadtluft macht frei«) führt überdies zu einem Über­angebot vorwiegend männlicher ­Arbeitskräfte.

Die Reformatoren sorgten in ­ihrem Gebiet für klare Verhältnisse; so wurden 1537 als ein Zeichen protestantischer Neuorientierung in Augsburg die Frauenhäuser, vormals teilweise städtisch lizenzierte Bordelle, geschlossen und die Frauen vor den Rat zitiert, um wegen fehlender Zucht ver­hört, gerügt und bestraft zu werden. Zu jener Zeit entstand die Vorstellung, daß Frauen sexuell unersättlich und herrschsüchtig seien, mithin eine Gefahr für die männliche Vorherrschaft, jetzt wurden den Frauen die»Zügel« angelegt, dem Ehemann und einem neuen Eherecht unterworfen und wirtschaftlich eingeschränkt .

Als Ausgleich durften die ehemals katholischen Priester jetzt heiraten und die Nonnen sollten/mußten sich einen»Herrn« nehmen, sofern sie nicht als»Hübsch­lerin« enden woll­ten. So kam das »geist­liche Nymph­lein« Katha­rina von Bora zu ihrem Martin Luther und schuf damit den ­Mythos des protestantischen Pfarrhauses: Keuschheit und Sex (patella dignum oper­cu­lum: da paßt der Deckel zur Schüssel) – zusammen­geführt in der christ­lichen Ehe; die Bora kann nun die von ­Martin gewünschten matrinalen Hand­reichungen zulässig und zuverlässig erledigen. Martin Luther und die anderen Reformatoren ­sehen die Ehefrau als »Gehilfin« – der Mann übernimmt die materielle Versorgung der Familie, die Frau die Kinder und deren rechte Erziehung im Glauben –, während im »Catechismus Romanus« und der seelsorgerischen Umsetzung des Trienter Dekrets von 1566 die Frau als »Gesellin« geschätzt wird. Mutterschaft, Treue und Gehorsam finden ihre Be­gründung nicht mehr nur in Evas Ungehorsam. Gelobt wurde die züchtige und ehrbare Ehefrau, aber das Landvolk hat sich um dieses »Ideal« – wegen der Arbeits­umstände, die die mitarbeitende Frau erzwangen – weniger bemüht als die bürgerlichen und gebilde­ten Stände.

Die damaligen – vielfach nur Frauen zugäng­lichen Badestuben – sind nicht zu verwechseln mit den heutigen Frauenhäusern. Gemeinsam ist ­ihnen, daß sie ein Hort der Freiheit von unterdrückten Frauen sein sollen. Aber die Bade­stuben sorgten für Reinlichkeit und Lustgewinn – was wollte man mehr verlangen?

Damit die Frauen nicht wieder ins Wirtschaftsleben zurückdrängen konnten, wurde die Inquisition, ursprünglich nur gegen die Katharer in Aquita­nien gedacht, als Mittel der wirtschaftlichen Demütigung der Frauen eingesetzt. Die Hexenverfolgung, die allzu selbstbewußte oder auch nur berufstätige Frauen mit eigenem Vermögen mit ­Folter (in Regensburg in der »Fragstatt«) und anschließen­der Verbrennung und ähnlichen Gottesurteilen be­strafte und ihre Enteignung betrieb, erreicht Mitte des 16. Jahrhunderts einen traurigen Höhe­punkt. Zu Beginn des 15. Jahrhun­derts waren die Frauen in die ihnen gemäße Rolle einer Hausfrau und Haus­besorgerin zurückgedrängt. Die Verurteilung als Hexe schloß die Frau aus der Gesellschaft aus und wehrte so die Gefahr ab, die diese Frauen für das patriarchalische System darstellten; ihr Ver­mögen wurde der Kirche übergeben, die mit»Hexen­geld« manch’ schöne Kirche baute.

Anzumerken ist an dieser Stelle, daß in der Schweiz noch im 20. Jahrhundert die Disziplinierung insbesondere lediger Frauen auch durch die Erzählung von Märchen und Volkssagen erfolgte, die zumeist mit dem lakonischen Hinweis enden: »Die wurde dann verbrannt.« Hexe und Hure wurden/blieben aus­tauschbar. Ursula Brunold-Bigler verweist in »Hungerschlaf und Schlangen­suppe« auf das kirchliche Frauenbild,
    »nach welchem die einen Frauen auf die Altäre, die anderen auf den Scheiterhaufen und nach dessen Abschaffung ins soziale Abseits gehören.«

Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch, daß insbesondere Frauen mit der Androhung der anatomischen Sektion diszipliniert wurden. Die Anatomen­ des 17. Jahrhunderts bestanden nämlich darauf, die Anatomie vorwiegend am weiblichen ­Körper zu erlernen. Auch aus den entstehenden ­Alten- und Armen­häusern wurden die Leichen geholt, so daß die Armen und Alten sich mühten, recht­zeitig wieder auf der Straße zu sein: Als besonders schimpflich wurde nicht nur die Zerstücke­lung empfunden, sondern auch, daß die Leichen in aller Öffent­lich­keit seziert wurden; jeder, der bereit war, den Zu­tritt zum »anatomischen Theater«, mit Geld zu bezahlen, konnte bei einer Sektion dabeisein. Bei den Verbrechern galt die Sektion sogar als strafverschärfend – man hoffte gar, die Sektion würde »liederliche Frauen (dazu zählten auch die unverheirateten Frauen mit Kindern – nicht jedoch die dazugehörenden Väter) vielleicht dadurch vor manchem Bösen desto mehr abhalten«.

Beispielhaft sei aber auch – neben den»offiziel­len« Frauen = Hexen-Verfolgungen genannt: 1597 wird erstmalig eine (gesonderte) Strafanstalt für Frauen in Amsterdam mit Arbeitszwang eingerichtet, 1621 werden kinderreiche Familien in ­Spanien steuerlich entlastet und 1700 werden in Brandenburg un­verheiratete Frauen höher besteuert, was aber wohl nur die Bürger­frauen traf.

Andererseits kann festgestellt werden, daß nach der fast uneingeschränk­ten Wiederherstellung der Män­ner­herrschaft die Hexen­verfolgungen Folterungen und aufhörten (1712 in England, 1714 in ­Preußen, 1749 in Würzburg, 1782 in Glarus, 1793 in Posen). Damit hörten die Torturen nicht auf; man nannte sie nur anders. In Preußen wurde die Aufhebung der Folter 1747 (vertraulich) nur den Richter-Kollegien und Schöffenstühlen mitgeteilt und drittens, wenn’s denn sein mußte, wurde auf direkte Anweisung Friedrichs wieder geprügelt und gefoltert.

Die Verfolgung von Frauen, die empfängnisverhütende Mittel kannten und anwendeten (Hebammen, Apothekerinnen und Ärztinnen), geht jedoch weiter. Wie sagte doch Darryl Van Horne über diesen Aspekt der Hexenverfolgung richtig: »Die Ärzte wollten die Frauen aus dem Hebammengeschäft ver­drängen.«

Die aus Schlesien stammende »Hof-Wehe-Mutter« Justina Siegemund ver­öffentlichte 1690 ein »Ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und un­recht stehenden Geburthen«, das von den meisten männlichen Ärzten abgelehnt wurde, weil »blinde Manöver« im Unterleib der Gebärenden sich schlecht mit der Wissenschaftlichkeit vertrug und obwohl die »Ordinarii der medicinischen Facul­tät« der Universität Frankfurt an der Oder »geben zu vernehmen, daß unter solcher Schreibens-Art viele gute und nützliche Dinge ... angegeben und ... beschreiben seynd«. Die Ärzte vertrauten mehr dem, was sich sehen ließ, auch wenn ein solches Wissen erst bei einer Autopsie gewonnen werden konnte.

Und weiter geht auch die Verfolgung der Frauen und die Verdächtigung auf teuflische Künste, die ihren Anteil an der Sexualität wünschen. Aber immer­hin: 1673 ver­öffentlichte der Nürnberger Johann Nikolaus Pfizer ein Buch, in dem er der Frau einen eigenständigen Anteil an der Sexualität gestattet, nur emp­fiehlt er zugleich, sein »Zwey sonderbare ­Bücher Von der Weiber Natur Wie auch deren Gebrechen und Kranckheiten« wegzuschließen, denn wer »diese Zeilen mit un­verschämten Gemüth liest, mag nicht die Natur sondern seine eigene Schuld an­klagen«, womit wir denn wieder beim Thema »Kunst und/oder Pornographie« und der FSO ­wären. Das war der Beginn des viktorianischen Zeit­alters, die das 19. Jahr­hundert in Europa prägten und den heutigen Bibel-Gürtel in Amerika.

In einem erst 1998 bei Laura Ormiston Chants gefundenen Brief schreibt George Bernard Shaw, daß er Anhänger der Prostitution sei, im übrigen schätze er Sex so sehr wie gebratene Kartoffeln (das ist non testatum – n.t.) und Pflaumenkuchen.

 
Neben anderen Pflanzen (z.B. Melisse) spielt die Kartoffel eine sehr rühmliche Rolle in der Sexualität. Ein Weg, »bei Nacht schöne und liebliche Dinge zu sehen«, ist die sehr vorsichtige Verwendung von Nacht­schattengewächsen: Man müsse sie zu einer Paste oder Salbe verarbeiten und diese an den empfindlichen Stellen der Haut auftragen; aus den in der Erde ver­borgenen Knollen und einer­ Vermischung mit den roten (oberirdischen) Beeren stellte »frau« ein Balsam her, der in die Haut »eingestreichelt« wurde und den »ehelichen wercke« gut tun sollte. Wilder Rosmarin (auch als Surrogat für Hopfen verwendet), Liebstöckel, Senf, Stechapfel, Bilsenkraut, Schlafmohn, Schierling, Muskatnuß halfen dem Ermatteten genau so wie Sellerie, den der Volksmund so verehrt als Geilwurz, Bockskraut und Hemdenspreizer. Fliegenpilz (Amanita muscaria) und Krötenhaut (kann DMT, einen halluzinogenen Wirkstoff enthalten) ergaben eine Flugsalbe, die vaginal appliziert wurde – und dann konnte man fliegen! oder zumindest das Gefühl haben. Heute tut’s »Red Bull« aus Österreich.

Und nicht vergessen, das wiederentdeckte Johanniskraut, das gegen schlechte Stimmung hilft, weil es auf das Dopamin einwirkt und die Botenstoffe Nor­adrenalin und Serotonin beeinflußt (und bei Ratten dämpft es das Verlangen nach Hoch­prozentigem). Außerdem hemmt dieses antibakterielle Johanniskraut auch noch das Wachstum verschiedener Mikroorganismen.

Der aus Neapel stammende Giovan Batista della Porta schilderte 1589, wie sich»Hexen« eine Paste (aus Kinderfett, Eisenhut, Pappelblättern, Fleder­mausblut, Teufels­kirsche und Öl) unter die Achseln rieben, worauf sie»high« wurden und zu fliegen anhoben (carpe noctem) und in »Macbeth« ist es die Hexenbrühe-Ingredienz Ziegengalle. Schnell war eine Frau bescholten.

So ist zu verstehen, daß als Hexen ver­leumdete Frauen versuchen, sich der Verfolgung zu entziehen und Zauber­kräfte anwenden: »Fort, Gespenster! Nachtgesichte! Luftgebilde! Fieberträume«. So ist zu verstehen, daß Frauen sich Holunderzweige ans Fußende des Bettes banden, um zu verhindern, daß sie Hexen wurden. Seit den alten Römern wurde der Tat­bestand der Zauberei nicht deshalb geahndet, weil er auf einen Aberglauben zurückgeht, der geeignet war, manche Leichtgläubige zu täuschen, son­dern weil die Zauberei ernst ge­nommen wurde und ihre Wirkungen sicher eintraten. Der »Sommer­­­nachtstraum« von Shakespeare (zum Beispiel) besteht nur aus Zauber­­­kunst­stückchen. Erastus meinte in »De Lamiis«, es sei nichts Besonderes, daß Hexen versprechen, Zaubertränke zu brauen, mit denen sie Männer und Frauen zu Haß oder Liebe zwingen könnten.

Mit dem Hexenwahn verschwanden aber auch die Solanaceen als Betäubungsmittel aus dem Arzneischrank der Mediziner, denn welcher Archiater wollte schon seinen Patienten ein Mittel geben, das neben Betäubung auch noch orgiastische Träume mit dem Teufel hervorrief.

 

Unter der allgemeinen Verelendung nach dem 11. Jahrhundert hatten zuerst die Frauen zu leiden. Auch hier eine Parallele zur heutigen Zeit: Frauen werden schneller arbeitslos als Männer und bleiben­ es auch länger (wie in den ­neuen Bundesländern deutlich erkennbar ist). Die Städte waren zerstört oder verlassen – auch als Folge der jahrzehntelangen Kriege um ­irgendwelche Erbschaften – die Landbevölkerung wurde von den Höfen vertrieben.

Beide Gruppen – die Frauen und die Landbevöl­kerung – erlebten einen deutlichen sozialen Abstieg und wurden, so Braudel, zu umher­ziehenden Bettlern und Vagabunden. In Österreich werden die Vaganten, die auf der Straße Vagierenden, mitsamt ihren Kindern ver­brannt als Hexen und Zauberer. Zugleich waren diese Entwurzelten vielfach treibende Kraft bei vielen Exzessen und Pogromen gegen »Hexen« und Juden; das »Hepp, hepp« ertönte bei jeder Gelegenheit zur Schuldbefreiung. Das »Christentum« fühlte sich bedroht und ging in Aggression über: nach innen gegen Frauen und Juden, nach außen gegen Sarazenen und Türken (die sich wehrten).

Je schwächer­ die Herrschaft im jeweiligen Gebiet ausgeprägt war, desto stärker die Verfolgung der Juden, desto häufiger die Verbrennung unschuldiger Frauen; in Frankreich, den Niederlanden, in der Kurpfalz, in Kur­sachsen und Kurbayern waren Hexen­verfolgun­gen die Aus­nahme; in den schwachen und kleineren Staaten hing das Schicksal der Betroffenen davon ab, ob die Gerichte den Pressionen der ­Straße ausgesetzt waren und deshalb – wegen der fehlenden Unterstützung ihrer Herrschaft – nachgeben mußten. Nur in einem nach innen starken Staat (wie Preußen) konnte ein Spee von Langenfeld wirken.fz28-29

 

Nach dem Ende der auf Selbstversorgung ausgerichteten Villikationshöfe (Bauern mit Erbrecht und persönlicher Freiheit) müssen die Landwirte immer häufiger Produkte für den (anonymen) Markt an ihre Verpächter abliefern oder – später – an deren Stelle Geld. Die ursprünglich bestehenden Grund­herr­schaften, deren Basis die »familia«, der jeweilige Hörigenverband bildete, wurde bereits zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert zu­gunsten eine territoria­len Herrschaft zurückgedrängt; über die »familia« wurden eigene Zwing- und Bannrechte, Steuererhebung und Frondienste verhängt. Damit waren die her­kömmlichen Organisationsformen der Eigen­versorgung veraltet, wurden nicht mehr berücksichtigt.

Der Kartoffelanbau mit seiner gleichmäßig über das Jahr verteilten Arbeits­intensität, aber auch die verhältnismäßig schnelle Herstellung einer Mahlzeit aus Kartoffeln ermöglichte es, neben der Feld- und Gartenarbeit Textilien zu verarbeiten, Tuche herzustellen und diese anstelle der Viktualien abzuliefern. Im Vogtland waren Kartoffeleintöpfe (schmecken erst beim zweiten Mal) üblich, da hier die»Koch-Arbeit« am wenigsten Zeit in Anspruch nahm. Gekochte Kar­toffeln wurden bereits zum Frühstück eingenommen.


Dieser Ausflug in die wirtschaftliche und soziale Verdrängung der Frauen war notwendig, um die Situation im 17. und 18. Jahrhundert zu verstehen. Nur vor diesem Hintergrund dieser Umstände war der preußische KönigFriedrich II. in der Lage, ­seine invaliden Sergeanten zu Lehrern zu machen; nur in diesen Umständen ist nach­zuvollziehen, daß die Kartoffel ein Wegbereiter für die Bildung breiter Volksschichten wurde.




Anmerkungen

1       Frauen konnten ursprünglich (im frühen Mittel­alter) den Beruf einer Schreiberin ausüben. Die heuti­gen Sekretariate sind mit wenigen Ausnahmen immer noch (»feministische Er­rungenschaft«?) oder wieder eine weibliche Domäne. Die Bedeutung der Frauen in der christlich-abendländischen Bildung ist auch daraus zu ersehen, daß zum Beispiel im Freiburger Münster die »Sieben Freien Künste« noch 1270 von Frauen (Grammatica, Rhe­to­rica, Dia­lectica, Musica, Arithmetica, Geo­metria, Astro­no­mia. In Freiburg hat die Gramma­tica eine Rute in der Hand, um einen Schüler zu schlagen) dar­gestellt werden. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden diese Künste nicht mehr durch ­Frauen repräsentierte Teile der göttlichen Weltordnung; jetzt sind es Männer, die die Disziplinen ­vertreten.                zurück

 

2       In Bologna sind die Anfänge einer Universität auf die Initiative von Studenten zurück­zuführen, die sich einen Lehrer suchten, ihn bezahlten und sich als Korporation Privilegien von der Stadtverwaltung zusichern ließen. Erst später fanden Vorlesungen regelmäßig und in bestimmten Gebäuden – zumeist nationalen Kollegien – statt.  

Die Einführung von Studiengebühren an deutschen Universitäten Anfang des 21. Jahrhunderts soll nur die leeren Kassen der öffentlichen Haushalte füllen; eine Qualitätsverbesserung ist nicht beabsichtigt.                 zurück

 

3       »Ist es besser, daß in sogenannten lateinischen Schulen alle Lehrer in allen Klassen unterrichten, oder daß jeder Lehrer seine eigene Klasse habe?« wurde 1798 in den »Beiträgen zur Verbesserung des Kirchen- und Schulwesens« gefragt.                 zurück

 

4      In Tönning an der Eider – zum Beispiel – existierte bis 1806 eine Gelehrten- und spätere Bürgerschule, in der ­Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet wurden. Die Knaben­­schule bestand aus vier Klassenstufen: Unterelementarklasse, Oberelementar­klasse, Rechenmeisterklasse und Rektorklasse, für die Mädchen gab es nur zwei Klassen­­­stufen: eine obere und eine untere, was damals als ausreichend angesehen wurde.                zurück

 

5      Nur ein Schelm käme auf die Idee, zu sagen, daß wegen der überproportional hohen Anzahl von Lehrern in den deutschen Parlamenten die Bundesrepublik ein Nacht­wächter­staat sei.                 zurück

 

6      Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schreibt – ­beispielsweise – die ostpreußische Elisabeth von der Recke: »Die Wissenschaft, zu der ich erzogen wurde, bestand darin, die An­wesenden mit Bescheidenheit zu unterhalten und in Gesellschaft zu glänzen.« Heute: Weder Glanz noch Bescheidenheiten.                zurück

 

7      Vielleicht hängt diese Vertreibung aber auch nur damit zusammen, daß die Frauen – wie britische Wissenschaftler feststellten – ein »Plapper-Gen« besitzen und an einem Tag durchschnittlich rund 23.000 Wörter aussprechen gegenüber nur 12.000 Wörter von Männer. Die Kerle wollten vielleicht in der Zunftstube nur ihre Ruhe haben und ihren Geschäften nachgehen. Wie schon Plautus zu Recht bemerkte: Tacita bona est mulier semper quam loquens – Eine Frau ist immer besser, wenn sie schweigt, als wenn sie redet. Am Ende des 15. Jahrhunderts ­waren in Köln unter 2782 Steuerzahler 733 Frauen.  

Im übrigen muß darauf verwiesen werden, daß Frauen nur erwähnt wurden, wenn’s gerichtsnotorisch wurde, so daß es eine große »Dunkelziffer« über die Tätigkeiten der damaligen Frauen gibt. 

Schon Xenophon schrieb um 375 vor Chr. im Zusammenhang mit Landwirtschafts­angelegenheiten im »Oikono­mikos«:
    »Denn der Männer Leib und Seele hat Gott so zugerichtet, daß sie Kälte, Hitze, Reisen und Kriegs-Dienste besser ausstehen können, wodurch er ihnen die auswärtigen Geschäfte angewiesen. Indem er aber den Weibern nicht Körper von so harter Natur gegeben, so scheint es ihm, daß Gott dadurch die Verrichtung innerhalb des Hauses anbefohlen hat.«                zurück
 

8      Die Leitung der nicht-militärischen Gruppen in diesen Heeren oblag in vielen Fällen den weiblichen »Hurn­weibel« («hurn«: heuern, einstellen); »Hurerei« entwickelte sich erst später zum Synonym für Prostitution. Eine ­berufstätige selbständige Frau, die dem Mann schließ­lich untertan war, wie es die zölibatäre Schule, aber auch Luther und seine Nach­folger lehrten, störte die sauberen Herren. Umberto Eco sieht es richtig: Einem solchen Mannweib wie Eva,
    »einer so gedankenlosen Person, die, kaum daß man ihr Ausgang gibt, Arm in Arm mit dem Fürsten der Finsternis loszieht«,
konnte man eine aushäusige Berufstätigkeit nicht ­erlauben. Das Streitgespräch zwischen einem Jesuiten und einem Benediktinermönch (1671) über die ­Frage »Ob Frauen Menschen seyn, oder nicht?« ­endete nicht mit der Drucklegung dieser Disputation. Beide trugen treffliche Argumente für ihre jeweilige Sichtweise vor.                 zurück

 

9       Kaiser Justinian stand wohl unter dem Schnabelschuh seiner Kaiserin Theodora, die (aus dem Bordell kommend) wußte, welche Bedeutung ein eigenes Vermögen hat und deshalb den »Corpus Iuris Civilis« zusammenstellen ließ.                 zurück

 

10      Das Wort »Bordell« ist auf das fränkische »borda« = (Bretter-)Hütte zurückzuführen. Louis IX. »der Heilige« von Frankreich ordnete im 13. Jahrhundert an, daß die »bordeaux«, die Aufenthalts- und Arbeitsstätten der käuf­lichen Frauen, außerhalb der Stadt­mauern anzusiedeln ­seien. In der »Ballade von Villon und der Dicken Margot« steht »En ce bordeau ou tenons nostre estat«, »in dem Bordell, wo wir selbzweit zu­sammen wohnen.« Der aus Wittenberg kommende Hamlet: »Get thee to a nunnery.« Die Frauen wurden auch als Betreiberinnen von Badestuben, wegen des angeblich und tatsächlich bordellartigen Charakters – verjagt und verfolgt. Aber, zugegeben, manche Badestuben ergänzten ihr Angebot nach Laden­schluß mit mancherlei Erfrischungen durch Wein, Weib und Gesang.  

Der Ausdruck »Kurtisane« ist auf das italienische Cortigiani zurückzuführen, eine Bezeichnung für Angehörige des päpstlichen Hofes, die zum Beispiel in Konstanz beim vierjährigen Konzil in eleganten Fehmäntelchen aus dem Fell sibirischer Eichhörnchen durch die Stadt stolzierten, um sich von einer der etwa 700 offiziellen und einer genauso großen inoffiziellen Zahl von »geheimen Frauen« verwöhnen zu lassen. Der Tiroler Oswald von Wolkenstein doppeldeutig: »Denk ich an den Bodensee / So tut es mir im Beutel weh.«                 zurück

 

11       Die vorreformatorische Kirche untersagte alle ehelichen Beziehungen an jedem Mittwoch, Freitag und Sonntag wie auch während der letzten vierzig Tage vor Ostern, während der ersten acht Tage nach Pfingsten, während der letzten fünf Tage vor jeder heiligen Kommunion sowie an den ­Tagen vor großen Kirchenfesten und an den Bittagen; insgesamt waren also die »ehelichen wercke« an etwa zweihundertzwanzig Tagen im Jahr untersagt. Da wird verständlich, daß die Reformation so erfolgreich war, denn Luther erklärte auf Befragen: »In der Woche zwier schadet weder dir noch ihr.« Der französische Philosoph Michel Foucault vertritt die These, daß die staatlich-kirchliche ­Regulierung der Sexualität ein Mittel der Politik sei, die Menschen zu disziplinieren; deshalb wollten die Herrschenden möglichst viel über die Sexualität ihrer Bürger wissen. Pfui Deibel.                zurück

 

12       Die letzten Reste von wirtschaftlicher Freiheit auf Seite der Frau werden mit dem Code Napoléon aufgehoben: ­Frauen erhalten im (lustfeindlichen) 19. Jahrhundert die Pflicht der Hege und Pflege von Gatten und Kinder, was denn bis zum Ende des 20. Jahr­hundert auch so bleiben wird. Im sog. Vormärz entschied 1843 eine preußische Staatskommission, daß bei Ehebruch die Verschuldung der Ehefrau eine sehr viel schwerere und ihr Ehebruch »in höherem Grade als der des Mannes unsittlich« sei (erst 1998 wird in der laizistischen Türkei im Strafgesetzbuch die Gleichstellung von Mann und Frau in diesem Punkt fest­geschrieben). Der Ehrverlust des Mannes wegen Ehebruch war geringfügig, denn er verfügte noch über eine Berufsehre oder eine Ehre kraft Herkunft, die Ehre der Frau jedoch hing am seidenen Faden sexueller Integrität.                 zurück

 

13      Katharina von Bora hatte im Kloster das Brauen erlernt und ist auch dort zu ihrer Brau­gerecht­same gekommen, die sie später weiter benutzte, um ihren Martinus bei ­Laune zu halten. Besonders in den protestantischen Gebieten ging die Obrigkeit mit Strenge gegen das »Weiberzechen« vor, das nach der Geburt eines Kindes oder an bestimmten Feier­tagen angesagt war.                 zurück

 

14      Für Martin Luther bedeutet dies, daß er sich die Klagen seiner »Kattarina Lvtterin« wegen fehlenden Geldes an­hören muß und deshalb in seinen Tischreden eine Parodie textet: »Die Hessen beten also: Vater unser, der du bist im himel, wir sint auff erden, giebst du nichts, so haben wir nichts, so versetzen wir ein pfandt, losest du es nicht, so losens wir auch nicht.« .» In einer Tischrede über die junge Ehe sagt Luther (über sich): »Wenn er im Bette erwacht, sieht er ein paar Zöpfe neben sich liegen, welche er früher nicht sah.« Lilo Schumann, Tochter des Hofpredigers Johannes Kessler, sagte dazu: »Wer öfters zu den Frauen rennt, der wird so schnell nicht impotent.«                 zurück

 

15      Sauberkeit und Hygiene fielen soweit zurück, daß in ­Paris (römisch und ursprünglich Lutetia Parisiorum, wobei Parisiorum von dem Stamm der Parisii abgeleitet wird und Lutetia von Schmutz und Kot) das Parfüm wieder erfunden werden mußte. Katharina von Medici brachte in ihre neue Heimat ihre italienischen Hof­kosmeti­ker mit, die das ­dumpfe ­Paris mit einem neuen Odeur besprühten und das »Eau de Toilette« verbannten.  

Marquise de Pompadour und andere kleine Meister wußten um das Geheimnis ihrer Schönheit und mußten als dames du lit royal dies auch wissen, wenn sie Favoritin bleiben wollten. Napoleon an Josephine: »Wasch Dich nicht, ich komme heim.«  

Der Araber Ibn Fadhlan schrieb nach einer Begegnung mit Wikingern ungefähr um die Jahrtausend­­wende:
    »Sie sind die schmutzigsten unter den Geschöpfen Gottes, sie säubern sich nicht von Schmutzspuren ihrer Exkremente und des Urins; sie waschen sich nicht nach dem Beischlaf. Sie sind wie streunende Esel.« Und ar-Tartuschi nach einer Reise zum Frankenkönig Otto I. im 10. Jahrhundert: »Sie reinigen und ­waschen sich nur ein- oder zweimal im Jahr mit kaltem Wasser. Ihre Kleider aber waschen sie nicht, nachdem sie sie angezogen haben, bis daß sie in Lumpen zerfallen.«
Es hatte sich nichts geändert.  

Noch zu Kaiser Wilhelm II. Zeiten wechselte man, mußte man wechseln, zwischen Sommer- und Winterresidenz, damit im jeweils leerstehende Gebäude eine Grundreini­gung durchgeführt werden konnte. In Sanssouci ließ Friedrich II. keine Toiletten einbauen, man schiß sich zu – im Schloß, im Gelände, der Park stank erbärmlich, überall lagen Kothaufen – und nicht nur von des Königs Wind­hunden. Das war keine preußische Sparsamkeit, das war Stand der Hygiene in Westeuropa. 

In »Zedlers Großem vollständigem Universal-Lexicon« ist es keine Sünde »sich nett und reinlich zu halten«, doch warmes Wasser mache »runzlicht« und Seife »nutzt nicht eher als zur Noth, den Schmutz wegzunehmen«. Für die Schönheitspflege, »um Gestanck und andere widernatür­liche Dinge abzuschaffen oder doch wenigstens zur Besserung zur bringen« und die als praktizierte Nächstenliebe bezeichnet werden kann, empfiehlt Zedler u.a. Ochsengalle und Ziegenfett. 

Justus von Liebig soll 1844 gesagt haben, daß die Seife zum »Maßstab für den Wohlstand und die Cultur der Staaten« geworden sei. Er sagte aber auch im selben Zusammenhang, er befürchte die »Entstehung von Hungerkriegen«, weil die menschlichen Exkremente nicht zur Düngung in der Landwirtschaft verwendet werden würden: Der »Fortschritt der Kultur ... eine Kloakenfrage.«  

Nach Manuel Frey gab es vor Beginn der Neuzeit drei getrennte Körper­kulturen: die ländliche Bevölkerung, die an der rituell-magischen Be­deutung des Waschens fest­hielt (und nicht nur am Festtag von Johannis dem Täufer) in Flüssen und Dorf­teichen badete, der Adel, der sich reinigte mit Klistier, Spucken und Aderlaß (Minutio monachi, Mönchs­verminderung) und ansonsten Parfüm, Schminke und ­Puder wählte und drittens die städtische Bevölke­rung, die die ­Straßen kehren und an Reinigungsritualen in den Badehäusern teil­nehmen mußte. Freys versimplifi­zie­rende Dar­stellung über die Geschichte der Reinigung in Deutschland entspricht nicht immer den historisch beleg­baren Tat­sachen.                 zurück

 

16       Scharfrichter gehörten früher vielfach zum anerkannten Heilerpersonal wie Mediziner, Chirurgen, Bader und Bar­bie­rer (die es in Spanien zum »practicante« – einem Arzt mit eingeschränkten Befugnissen – bringen konnten), bis die Mediziner aus Konkurrenzneid dafür sorgten, daß die »Nachrichter« von den Heilberufen ausgeschlossen wurden. Weiterhin galt für beide Gruppen jedoch ein ähnliches Berufsbild – beide sollten ein »auf­geräumbtes und herzhaftes Gemüth« haben und sich nicht durch das »Schreyen des Patienten hindern« lassen. Bei ­ihrer Arbeit sollten die Scharfrichter seit dem 16. Jahrhundert bleibende Gesundheitsschäden vermeiden; Handwerkerstolz verbot eine Pfuscharbeit.  

Die damalige Medizin verstand Krankheiten als Folge mangelhaft fließender Körpersäfte und kurierte durch Aderlässe und Abführmittel. Beim Kriminal- und Hexenprozeß kam es darauf an, »die Seele aufzuschließen«; weigerte sich der Delinquent, die ­erbetene »Wahrheit« auszusprechen, ­mußte »extorquiert« werden, um die »Verhärtung« des Körpers aufzubrechen.  

Der Scharfrichter trug dazu bei, die kranke Seele des Delinquenten zu heilen. Die Folter- und Hinrichtungsinstrumente, die »Werkzeuge« also, waren notwendige Hilfsmittel der Medizin, der Henker war der Arzt, der die letzte Heilung vollzog. Walter Raleigh ließ sich vor seiner Enthauptung das Beil zeigen: »Das ist eine bittere Arznei, sie heilt aber alle Krank­heiten«.                 zurück

 

17       Der 1486/1487 von Peter Drach in Speyer gedruckte »Hexen­hammer« (»Malleus Malefi­carum«) des Dominikaner­­­mönches Heinrich Institoris richtet sich gegen Teufel und böse Magie und alle Frauen; von männlichen Zauberern spricht der »Hexenhammer« nur nebenbei, und der Doktor Faustus war ein angesehener Mann. Die vielen Gold­macher und Alchimisten waren gern gesehene Betrüger an Fürstenhöfen, die entweder Reichtum oder ewiges Leben bringen sollten. Christoph Gundermann klagt 1615: »Jedweder kauft Teufelsbüchlein und Gemälde und Reyme von verborgenen zauberischen und teuflischen Künsten, und habe ich einen Schneider gekannt, der zum mindesten 40 oder 50 solcher Büchlein und Blätter besessen hat und wohl gar dessen sich rühmte, als sei es ehrbar und christlich, solch Teufels und Schandmähren im Hause zu behalten.«  

Johannes Gutenberg in seiner Straßburger Zeit befaßte sich mit dem Herstellen von Spiegeln, die an Pilger verkauft wurden, die zur Aachener Heiligtumfahrt 1440 gingen. Auf dieser alle sieben Jahre stattfindenden Ver­anstaltung ­(heute würde man dazu »event« sagen) wurden Reliquien von wahrhafter Bedeutung gezeigt: »ein Gewand der ­aller­seligsten Jungfrau von gelblich-weißer Baumwolle, die Windeln des Jesuskindes von dunkelgelbem Wollzeuge, das blutgetränkte Lendentuch des Herrn vom Kreuze und das Leichen­tuch des Vorläufers Christi aus feinem Linnen«. Weil die vielen Pilger überhaupt nicht mehr in die Nähe dieser Kost­barkeiten kamen, wurde die verehrten Reli­quien mittels »Fern­zeigung« (Television von der Turmgalerie des Doms) vorgeführt. Damit nun die Pilger auch nach ­ihrer Heimkehr ins Dorf noch von den Wundern berichten konnten, steckten sie handtellergroße Spiegel ans Tuch oder an ihre Kappe, um die »strahlende« Wirkung einzufangen. Und mit Herstellung und Verkauf diesen Spiegeln konnte man gut verdienen.  

Das war doch schlimmerer Hexenglaube als die Ver­wendung von aus Kartoffeln (und anderen Nachtschattengewächsen) her­gestellte Salbe zwecks Beförde­rung der »ehelichen wercke«. Hexen, abgeleitet vom westgermanischen Wort »hag«, Zaun oder Hecke, saßen auf dieser Einfassung, die um das biblische Paradies gezogen war, vor der nach Adams und Evas Vertreibung Engel mit Schwertern wachten. Hexen waren die Mittler zwischen dem Paradies, dem persischen »Garten der Entzückungen«, diesem gan-eden in der hebräischen Übersetzung, und dem mühseligen Leben auf Erden. 

Nur wenige Männer sind verbrannt worden – sie konnten sich meist (und schon vor dem »Zeigen der Werkzeuge«) mit »Hexengeld« freikaufen. Aber fairerweise soll darauf hin­gewiesen werden, daß es keineswegs nur Frauen waren, die gefoltert und anschließend verbrannt wurden: In Würzburg (zum Beispiel) wurden zwischen 1627 und 1629 bei neun­undzwanzig Bränden 83 Männer und 72 Frauen ermordet. Brandenburg blieb von solchen Exzessen ver­schont. Friedrich II. ließ sich 1786 ausrechnen, was denn ein Scheiterhaufen für das Verbrennen einer Hexe kostet:
    »Spezifikation derer Gerätschaften, welche zur Verbrennung des berüchtigten Delinquenten am 15. August gebraucht wurden. Ein Pfahl aus Eichenholz, ¾ Fuß breit und 14 Fuß lang. 16 Klafter trocknes Holz, ½ Klafter Kein, 12 Stück etwa 12 Fuß lange Latten zur Befestigung des Scheiterhaufens, 16 12 Fuß lange Bretter, ½ Tonne Teer, 4 Pfund Schwefel, 2 Schock große Nägel, 1 eiserner Kohlekessel nebst einem Sack Kohlen, 2 Leitern zum Aufsteigen, 1 Schemel zum Gesäß des Delinquenten, Ketten zum Fesseln, Haken und so fort.« 
Die Willkür der Hexen­verbren­nun­gen diente der vollständigen Unter­werfung der Bürger unter Staats- und Kirchenmacht, es ging um die Austreibung jeglichen »freiheit­lichen« Gedankens in der gesamten Bevölkerung; eine Parallele findet man im Stalinschen Staatsterror in den 1930er Jahren.  

Selbst bei sog. fortschrittlich denkenden Männern gilt Frauenlohn als »Zuverdienst« oder – wie es im 19. Jahrhundert hieß – »Ergänzungslohn«. Erwerbstätige Frauen ­wur­den und werden seit der Nazi-Zeit als sog. »Doppel­verdiener« beschimpft, die – in Anbetracht der Arbeits­marktsituation – doch auf ihre entgeltliche Tätigkeit verzichten und sich wieder auf »Kirche–Küche–Kinder« beschränken sollten. Zur Nazi-Ideologie mehr bei Sebastian Haffner »Germany: Jekyll & Hyde« .  

Es ist keine nur-deutsche Ge­schichte: In Schweden – zum Beispiel – wurde in der Mitte der 1920er Jahre gefordert, Gesetze gegen die Erwerbs­tätigkeit verheirateter Frauen zu erlassen (was zwar nicht erfolgte, weil man auf billige und willige Arbeitskräfte nicht verzichten konnte), aber das Lumpen­proletariat entließ in der Wirtschaftskrise seine Verkäuferinnen und stellte sich selbst hinterm Laden­tisch.  

Eine abschließende Bemerkung zu diesem Thema: Im 14. Jahrhundert endet die literarische »Verehrung« der Frau (im Minnedienst) und wird ersetzt durch Geschichten von Frauen, die sich – wie die Männer – gewalttätig verhalten (»Nonnenturniere«). Die männlichen Prota­go­nisten dieser Geschichten produzieren Angst vor den Frauen (ver­bunden mit Erzählungen von Ehebruch oder Verletzung des Keuschheitsgelübdes), was sich nach 1450 in der Massenphobie des Hexenwahns wiederfindet. Im mittel­alter­lichen »Eckenlied« sagt Dietrich von Bern: »Ich slah niht gerne wip«, was ihn nicht hindert, der Riesin Rütze das Bein ab­zuschlagen, die Mutter des Fasolt quer­zuteilen und die Mutter des Riesen Zere u.a. Brust und Kopf abzuhacken – da war es wahrlich nicht weit zu den Folterungen der Hexenmeister.                 zurück

 

18       Bei jedem Taufeintrag vermerkten die Pfarrer, ob es sich um ein eheliches oder uneheliches Kind handelte. Im letzteren Fall apostrophierten sie den Namen der Mutter nicht selten mit Zufügungen wie «huer», wogegen der Vater gemäß der Tradition, die nur gefallene Engel und Mädchen, nicht aber gefallene Männer kennt, ungeschoren blieb. Im 19. Jahrhundert wurden die unehelichen Geburten als eigenständige Rubrik in den demographischen Statistiken der Staatsverwaltungsberichte geführt. 

Im Pfarrbericht des schweizer Ortes Aarwangen (Mitte des 18. Jahrhunderts) steht: »Was Leibsfrucht abtreiberei seye, ist hier keine so unbekannte Sach, bey der Menge Landärzten werden schon dere gefunden, die sich kein Gewüssen machen, denen schwangeren Dirnen mit abtreibenden Mitlen behüflich zu seyn«.     zurück

 

19      Den Anatomen kam zupaß, daß man in diesem Jahr­hundert begann, Verbrecher nicht mehr zu vierteilen oder zu rädern, sondern durch Henken oder Köpfen den Körper möglichst unversehrt zu lassen. Um nicht nur Verbrecher zu sezieren, vermachten in Italien die Wissenschaftler ­ihren Leichnam den Kollegen Medizinern an den Universi­tät.                 zurück

 

20      Nur ein Gedanke für die »Liberalen« um Herrn Westerwelle: Könnte man damit vielleicht die Anzahl der deutschen Sozialhilfeempfänger reduzieren?                 zurück

 

21      Moderne pharmakologische Studien zeigen, daß schon bei den alten Römern orale Kontrazeptionen auf Pflanzenbasis erfolgreich angewendet wurden; auch Schwanger­schafts­abbrüche mit pharmazeutischen Methoden waren bekannt. Dieses Wissen ging erst mit den Hexenverbrennungen verloren.                zurück

 

22      Drei kurfürstliche Hofprediger bestätigten im Vorwort, daß »wir nichts befunden, was wider GOTT und sein H. Wort streite«. Die mittelalterlichen Anatomen stellten sich vor, die Genitalien der Frau seien nach innen gewendete männliche Geschlechtsorgane (dabei hätten sie ja nur nachsehen müssen). 

Im den Stand der Medizin ein wenig besser zu beurteilen, sei hier ein Brief von Lieselotte von der Pfalz aus dem Jahr 1699 zitiert: »Lebenshuck (Leeuwenhoek) seine Microscope müßen curieux sein. Der König David muß schon gewust haben, daß die menschen von würmern kommen, weillen er im 22. psalm sagt: ›Ich aber bin ein wurm undt kein mensch‹, muß also wol gewust haben, daß er ein wurm ist geweßen.« Das hätte Antonie van Leeuwenhoek nicht gedacht als er rund fünfundzwanzig Jahre vorher die wuselnden Spermatozoen unter seinem Mikroskop entdeckte 

Nach dem Katalog einer Ausstellung in Schloß Kirch­stetten zum »Frauenleben in Österreich« »entdeckte« 1559 ein Wissen­schaftler die Klitoris und beschrieb sie als weiblichen ­Penis; dieser »Entdecker« soll den Namen Columbus getragen haben.                 zurück

 

23      Der entmannte Peter Abelaerd am Anfang des 12. Jahrhunderts schreibt der Mutter seines Sohnes in Kloster:
    »Der Wein ist der Feind, den wir im Innern tragen; wohin wir uns auch wenden, wir nehmen den Feind mit.« 
Abelaerd wollte damit Héloise vor dem Gebrauch des Weines warnen, da zu seiner Zeit die Auffassung (seit Aristoteles) bestand, daß Frauen mit dem Wein leichter fertig würden:
    »Der Feuchtigkeitsgehalt des Weibes ist besonders hoch, wie das schon die glatte glänzende Haut beweist; daß der weibliche Körper sich von überschüssiger Feuchtigkeit befreien muß, sieht man vor ­allem an seinen regelmäßigen Selbstreinigungen. Wenn eine Frau Wein trinkt, dann versinkt er geradezu in diesem Flüssigkeitsüberschuß und büßt seine eigentliche Kraft und Stärke ein.« 
Nun, Tatsache ist, daß Alkohol vom männlichen Körper schneller abgebaut wird als vom weiblichen (100:85 Milligramm Alkohol pro Kilogramm Gewicht). Den Frauen war schon von den männlichen Römern der Alkoholgenuß verboten worden.                 zurück

 

24      Im Teufelsmoor bei Worpswede war es ein alter Brauch, an einem bestimmten Tag, daß Frauen Salz vor ihre Tür streuten, um sich gegen den Hexenzauber zu schützen. Auch heute sei dies noch so, wie ein Teufelsmoorer erklärte: »Wenn im Winter die Straßen zugefroren sind, dann streuen wir auch Salz vor unsere Häuser.« – Dafür wurde frau früher verbrannt, heute schimpft nur der örtliche NABU-Vertreter.                 zurück

 

25      Die Alraune – zum Beispiel – wurde von altersher geschätzt und gefürchtet, nicht zuletzt wegen ihrer betäubenden Wirkung. Die englischen Anästhe­sisten führen in ihrem Wappen die Mohnkapsel und die Alraune.                zurück

 

26      Helmut Maucher, einst oberster Chef der Firma Nestlé, nannte in einem Interview diese Arbeitslosen »Wohlstandsmüll«. Der Eng­länder Richard Hakluyt verwendet 1584 zum ersten Mal den Begriff »waste« für die Menschen, die wegen der wirtschaft­lichen Krise in England keine Arbeit fanden und deshalb in die Neue Welt auswandern sollten; soweit ist Herr Maucher nicht gegangen: Die Arbeitslosen, die ­Loser, dürfen ­bleiben. Dagegen meinte John K. Galbraith, daß eine Gesellschaft im Überfluß es sich leisten kann, auch jene zu bezahlen, die nicht arbeiten. Erst wenn der wahre Mensch zur Ware Mensch wird, sind die Kapitalisten zufrieden. 

Aber auch gegen die »Tater« richtete sich der Haß der Bevölkerung; die Umher­ziehenden standen außerhalb jeg­licher festen Ordnung oder Struktur. Sie wurden als »loses Gesindel» der »Herrenlosigkeit« beschuldigt und von ­daher war es nicht weit bis zum Vorwurf von Raub, Mord und Brand. Eine detaillierte Darstellung über die »Tater« als eine Gruppe der Heimatlosen ist nachzulesen bei Martin Rheinheimer in »Histo­rische Anthropologie«, 1996, S. 330 ff.                 zurück

 

27      In allen deutschen Landen gab es Bettlerverbote, die jedoch verhältnismäßig lax gehandhabt wurden; die Torwächter, Armen und Bettlervögte gehörten der gleichen Bevölkerungsschicht an und waren auch bestechlich. Zum Betteln bedurfte man einer landesherrlichen Genehmigung, dem »Bettelbrief« (nicht zu verwechseln mit »Hintz und Kuntz«). Für die Mark Brandenburg nennt Wilhelm Abel beispielhaft aus 1565 ein »Edikt wider die fremden Bettler und Land­streicher«, 1567 ein »Edikt wider die Land­beschädiger, Räuber und unbekannte verdächtige Per­sonen«, 1572 eines »wider die Straßen­räuber, Mordbrenner, verdächtige Müßig­gänger und herrenlose Knechte«. In Köln konnten zwei »gute Leute« dem Rat der Stadt ver­sichern, daß jemand ohne Schuld in Not geraten sei, was diesen dann berechtigte, sich ein Zeichen anzuheften, eine Art Gewerbeschein, der ihn als »würdigen« Bettler auswies.  

Luther empfiehlt 1528 in »Von der Betrügerei der falschen Bettler«, daß die Bettler in ihre Heimatorte zurückkehren sollten und dort von ihrer Familie oder von der Gemeinde zu unterhalten seien. Und in seiner Schrift an den deutschen Adel: »Es ist genug, daß geziemlich die Armen versorgt sind, dabei sie nicht Hungers sterben noch erfrieren; es fügt sich nicht, daß einer auf des andern Arbeit müßig gehe, reich sei und wohllebe bei eines andern Übelleben, denn St. Paul sagt ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹.« Luthers Empfehlungen würde in einigen Gemeinden heutzutage die Sozialhilfekosten deutlich ­senken. 

Am Ende des 18. Jahrhunderts wird ein Trennstrich ge­zogen zwischen Armut einerseits und Mittellosigkeit anderer­seits, auf der einen Seite die werktätigen Armen und auf der anderen diejenigen, die so mittellos waren, daß sie auf Almosen und Fürsorge und notfalls Unterbringung in den Spitälern (etwa 15.000 solcher Einrichtungen gab es im ­Europa jener Zeit) an­gewiesen waren. Nun wurden Arme unterschiedlich behandelt, geschieden nach ­arbeitsscheuen Müßiggängern und ehrwürdigen Armen aufgrund irgendwelcher Gebrechen und Gebreste. 

Anderer­seits waren Bettler unentbehrlich, weil sie den ­Reichen die Möglichkeit gaben, christliche Nächstenliebe zu praktizieren und damit ihren eigenen Wohlstand zu recht­fertigen. Das ist sicher nicht vergleichbar mit den Aktivi­täten wohlhabender Bürger in Spendenparlamenten oder bei der ehrenamtlichen Mitwirkung bei (beispiels­weise) der »(Hamburger) Tafel«. 1573 werden die Bürger der französischen Stadt Troyes erschreckt, als sich die Stadt mit Hungernden füllt:
    »Die Reichen und die Regierenden ... ließen Brot in Hülle und Fülle backen, was an die armen Unter­tanen verteilt werden sollte ... nachdem ... sollten sie zum besagten Tor hinausgeführt werden, ­welches hinter dem Rücken des letzten geschlossen werden sollte. So ward es getan, und die Armen wurden aus Troyes hinausgejagt.«  
Auch das war ­typisch; bewarben sich zuviel Arme um die knapp bemessenen Unterstützungsleistungen, so wurden die Bettelnden abgewiesen. Deshalb gibt es heute die Diskussion um die Höhe der Sozialhilfe. 

Im ersten »Armuts- und Reichtumsbericht« der Bundesregierung Deutschland (2001) wird errechnet, daß je nach Berechnungsmethode 5,7 oder 19,6 Prozent der deutschen Bevölkerung »arm« sind. »Arm« sind Deutsche, wenn sie weniger als (1998) DM 1220 (Hälfte des sogenannten Medianeinkommens) oder weniger als sechzig Prozent von (1998) DM 2788 (Durchschnittseinkommens) je Monat zur Ver­fügung haben. Doch Armut ist relativ, denn die UN meint, ein Dollar je Tag reiche aus, um nicht mehr arm zu sein.                zurück

 

28       Dann gab es noch die Unfreien mit eigenem Hof, den die Römer als »servi casati« bezeichneten. In diesem Zusammenhang: Die späteren Frondienste waren ursprünglich eine Abgabe von der Getreideernte des Bauern an seinen Grundherrn (lateinisch »agrarium«) und Pflugdienste auf einem festgelegten Streifen Ackerland (galloromanisch »riga«).                 zurück

 

29      Michael Mitterauer in »Warum Europa« weist daraufhin, daß sich durch die «Vergetreidung« in der mitteleuropäischen Landwirtschaft die Herrschaftsverhältnisse änderten. Es änderten sich aber auch die Abgaben, die die Bauern an ihre Oberen abzuliefern hatten. Der schlesische Herzog Heinrich der Bärtige (wie auch andere Herrscher im Osten Europas) ordnete im frühen 13. Jahrhundert an, daß anstelle der bisher gelieferten Eichhörnchenfälle Korn zu liefern sein. Verständlich, daß der Herzog auf die bis dahin üblichen Pelzlieferungen verzichtete: Doch am Ende des 12. Jahrhunderts endete die klimatische Warmphase; da waren Fellmützen wieder gefragt.                  zurück

 


<<        >>

Teilen / share:

Facebook








^