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Interviews über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und über die Entstehung der Hitler-Psychose
Schilderungen von Zeitzeugen im Bekanntenkreis (1994/1995, redigiert im Jahr 2000)
Oral History
gesammelt von Michael Palomino (1994 / 1995 / 2000)
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Teil 2
1. 5 Jahre Besatzungszeit in Holland - am Ende grosser Hunger mit 2000 Toten pro Tag - Hungerödem - die blauäugige Geisteskrankheit - Kirchenfolter an Juden - Hitler brachte mit unmöglichen Transporten 1000e seiner eigenen Soldaten um - als Holländer 1933-1936 im Dritten Reich in Jena - Hitlergruss gemacht, um nicht als Ausländer erkannt zu werden - Seeblockade 1918/1919 war nur ein Vorgeschmack auf den Hunger in Holland 1944/1945 - Kinder in Holland 1918/1919 - Dauerhunger in Österreich in den 1920er Jahren
2. Hungerwinter in Holland 1944/1945 wird bestätigt - in Leipzig (?) gab es bis zum Zweiten Weltkrieg ein "holländisches Viertel" - Hugenotten aus Frankreich - Hitler erstickt alle Opposition und verspricht allen einen VW-Käfer - Autobahnen als Infrastruktur und gegen Arbeitslosigkeit - Hitlers Talente am falschen Ort - Mutter von Lother: Englische Mörder-Tiefflieger schiessen auf deutsche Schulkinder in Rensburg, der Cousin von Lother wird durch eine Schulkameradin gerettet, und sie stirbt
3. Hungerblockade 1918/1919: Die Grossmutter hungert für die Kinder und stirbt dann in der Grippewelle - Trümmerfrauen in Hamburg beim Backsteinsammeln und bei der Trümmerräumung und Leichenräumung - die ersten kleinen Häuschen nach dem Krieg an einer freien Mauer werden von den Trümmerfrauen gebaut - die deutschen Männer nach 1945 sind psychisch alle "fertig" - Hungerwinter in Deutschland 1945/1946 mit Hungerödemen und Ausschlägen etc. - Besatzungsmacht: Engländer vergewaltigen nicht, die anderen schon - Besatzung in den Häusern und die Bevölkerung im Keller - Hitler und die Hungerblockaden
4. Schmuggel während der Hungerblockade 1918 / 1919 über die holländische Grenze
5. Das Versagen von Wilhelm II. ohne Bündnis mit Russland und ohne England - Frankreichs Einkreisungspolitik - Frankreichs Rache 1918 für 1871 - Frankreich und Polen hatten eine gemeinsame Mentalität gegen Deutschland - der schwachsinnige deutsche Kaiser gegen England - Serbien durfte nie "gross" sein
1. Louis Holsboer, Holländer, Mönchaltorf, Schweiz (Kanton Zürich), ca. 70, Telefongespräch
5 Jahre Besatzungszeit in Holland - am Ende grosser Hunger mit 2000 Toten pro Tag - Hungerödem - die blauäugige Geisteskrankheit - Kirchenfolter an Juden - Hitler brachte mit unmöglichen Transporten 1000e seiner eigenen Soldaten um - als Holländer 1933-1936 im Dritten Reich in Jena - Hitlergruss gemacht, um nicht als Ausländer erkannt zu werden - Seeblockade 1918/1919 war nur ein Vorgeschmack auf den Hunger in Holland 1944/1945 - Kinder in Holland 1918/1919 - Dauerhunger in Österreich in den 1920er Jahren
14.Februar 1995
Louis: Dein Grossvater ist Jahrgang 8, ich bin Jahrgang 13, ja, aber wie kommst du denn jetzt plötzlich darauf, danach zu fragen? -
Es sind Briefe aufgetaucht, also, zuerst die vom Vater meiner Mutter, dann habe ich meinen Vater gefragt, und da waren zwei ganze Kisten auf dem Boden -
Ja ist das ein Tagebuch oder was? -
Nein, die haben sich jeden zweiten Tag geschrieben. -
Ja, Mensch, dann weisst du jetzt viel. Da steht sicher viel drin. -
Ja eigentlich gar nicht so viel. Der Vater meines Vaters war ja Oberstudienrat, also Gymnasialprofessor, und er wollte seine Stelle nicht verlieren. Er schrieb also nichts, was er nicht durfte. Und deswegen rufe ich dir an, ob du mir noch mehr davon erzählen könntest. -
Ja, also wenn du das wissen willst, kann ich das schon. Ich habe fünf Jahre Besatzungszeit in Holland mitgemacht. Es war grosser Hunger in Holland damals. -
Am Ende? -
Ja, am Ende vor allem. Die haben alles nur für sich gebraucht und für die Leute an der Front, es sind am Ende etwa 2000 Leute pro Tag in Holland an Hunger gestorben, und einmal war ich sogar im Knast. -
Du musstest ins Gefängnis? -
Ja, aber nur einen Tag, nichts Grosses, aber ich hatte dann auch ein Hungerödem und so, das war schlimm.
Das Ganze war eine völlige Geisteskrankheit damals, diese ganzen Denkweisen, wirklich eine Geisteskrankheit: der Deutsche, blauäugig und kräftig, und wie die mit den Juden umgegangen sind. Bei uns haben sie ganz viele in eine Kirche gesperrt, also, die konnten nur noch stehen, und dann haben sie zugesperrt, also, die konnten sich absolut nicht mehr bewegen, und das mehr als zwei Wochen, und alles floss unten raus, Kot und alles, und nur nach und nach haben sie sie wieder rausgelassen, aber viele sind da drin gestorben, weil sie nicht mehr konnten.
Auch die Transporte: Sie haben ja so viele in einen Waggon gesteckt, dass sie nur noch stehen konnten, und so sind schon viele gestorben, bevor sie überhaupt ankamen.
Das hat Hitler mit vielen so gemacht, sogar mit seinen eigenen Leuten. Er hat sie in den Tod geschickt, Stalingrad und so weiter, zig Tausende seiner eigenen Leute umgebracht.
Ich habe ja 1933 bis 1936 in Jena Optiker studiert. -
Du warst in Jena damals... -
Ja, ich habe dort studiert. -
Wie war das? -
Oh, das war schwer. Die wussten natürlich alle, dass ich Holländer war, aber ich hatte einen guten Freund aus Dresden, wirklich ein sehr guter Freund, und dann, als ich wieder in Holland war, da war dieser Freund bei der Besatzungsmacht dabei, aber er hat mir nie geschrieben, als er in Holland war. Erst, als der Krieg dann zu Ende war, da hat er mir geschrieben, und er schrieb mir, er hat mir absichtlich nicht geschrieben, denn er befürchtete, wenn er während der Besatzungszeit geschrieben hätte, hätte das die Freundschaft zerstört. -
Ist das wahr? -
Ja, das ist so gewesen. Es war wirklich wie eine völlige Geistesgestörtheit damals.
Also in Jena, meine Kollegen trafen sich manchmal in einem Keller, wo sie redeten, da durfte ich dabei sein -
Und waren sie für oder gegen Hitler? -
Natürlich gegen ihn, aber das durfte niemand sagen. Aber zu mir waren sie gut. Also, sie wussten, dass ich nichts ausplaudern würde. Ich habe nur einmal den Hitler-Gruss gemacht, da waren wir in einer Gruppe. Da wurde ich von hinten von meinen Freundin in den Rücken gestossen, ich sollte den Gruss auch machen. -
Damit es nicht auffiel? -
Ja, damit man mich nicht als Ausländer erkannte. Aber ich habe das nur ein einziges Mal gemacht, sonst auf keiner einzigen Veranstaltung, nie, die andern immer, aber ich nicht.
Im März treffe ich diesen Freund wieder.
Was die mit den Juden gemacht haben, die haben ja alles mit denen gemacht. Sie haben sie sogar Scheisse essen lassen. -
Wer musste Scheisse essen? -
Die Juden mussten Scheisse essen, ja, das haben die so gemacht. -
Also, mein erster Grossvater, der Vater meines Vaters, der war in Russland am Don und kam nicht mehr zurück. Mein Vater und seine Mutter haben 10 Jahre gewartet, und der andere hat mitgeholfen, Leningrad auszuhungern. -
Leningrad? -
Ja. -
Du, hast du denn auch den Überblick über den ersten Weltkrieg? -
Ne, da war ich, ja, ich bin Jahrgang 1913, und 1914 war der Krieg. Da war ich erst ein Jahr alt. Also, Deutschland war natürlich Schuld. -
Deutschland wurde von Österreich reingezogen, aber sie waren selber Schuld. Aber, was für mich viel wichtiger ist: Im ersten Weltkrieg wurde doch ganz Deutschland ausgehungert durch die Seeblockade. -
Ja, das war auch schlimm, aber lange nicht so schlimm, wie in Holland nachher. Aber ich kann mich erinnern: Wir haben deutsche und österreichische Kinder aufgenommen damals. -
Nach dem [ersten] Krieg? -
Also schon während dem Krieg noch und dann nach dem Krieg. -
Also, deutsche Kinder kamen zu euch nach Holland? -
Ja, aber vor allem österreichische Kinder. Die waren zum Teil völlig ausgehungert, und ich kann mich noch erinnern, als ich dann einmal [1925 ca.?] in Österreich war, und ich wusste immer, dass meine Mutter einen Butterlöffel brauchte, da wollte ich in Österreich für meine Mutter in Holland einen Butterlöffel kaufen. Da sagte die Verkäuferin:
"Butterlöffel? Na, wem geht es denn so gut, dass er heute noch einen Butterlöffel braucht?"
und ab. Da getraute ich mich nie mehr, auch nur nach einem Butterlöffel zu fragen.
2. Lothar Bilinski, Holländer, s.o. am selben Tag
Hungerwinter in Holland 1944/1945 wird bestätigt - in Leipzig (?) gab es bis zum Zweiten Weltkrieg ein "holländisches Viertel" - Hugenotten aus Frankreich - Hitler erstickt alle Opposition und verspricht allen einen VW-Käfer - Autobahnen als Infrastruktur und gegen Arbeitslosigkeit - Hitlers Talente am falschen Ort - Mutter von Lother: Englische Mörder-Tiefflieger schiessen auf deutsche Schulkinder in Rensburg, der Cousin von Lother wird durch eine Schulkameradin gerettet, und sie stirbt
Frage: Lothar, da erzählte mir Louis, in Holland habe es am Ende des Krieges zuletzt 2000 Tote gegeben pro Tag. -
Ja, das stimmt. Es gab da zuletzt einen Hungerwintern in Holland, da sind die Leute nur so umgekippt. Die Nazis haben alles weggeholt an die Front, und es kam auch kein Import mehr von England oder den "U.S.A.". -
Du, dieser Mann, mit dem ich geredet habe, ist Holländer und hat 1933 bis 1936 in Jena studiert. -
Der hat das miterlebt dort, diese drei Jahre? -
Ja. -
So viel ich weiss, gab es dort eine holländische Kolonie, oder war das in Leipzig? in Leipzig wahrscheinlich. Da gab es vor dem Krieg so wie für die Juden ein ganzes holländisches Viertel mit Strassen mit holländischen Namen, Häusern in holländischem Stil, mit diesen typischen holländischen Giebeln, also wirklich ein ganzes Viertel war da holländisch. Und was es da vor allem auch noch gab, das waren die Hugenotten. Das waren Franzosen von früher, die waren dann schnell integriert. Aber wie war das denn für den, unter den Deutschen zu sein? -
Der hat jeweils den Mund gehalten und so hat er alles mitbekommen. Die hatten einen Keller, wo sie jeweils geredet haben. -
Und wie waren die Deutschen, dafür oder dagegen? -
Dagegen natürlich. -
Siehst du, das sind alles Feiglinge gewesen damals. Gut, wenn sie den Mund aufgemacht hätten, dann wären sie im KZ gelandet oder wären gleich alle erschossen worden. -
Die hätten eben in einer Massenkundgebung gegen Hitler protestieren sollen. -
Wurde doch alles im Keim erstickt. Die hatten keine Chance. -
Und Hitler hat sie verführt, er hat den VW in Auftrag gegeben. -
Ja, Hitler hat gesagt, alle sollen ein Auto haben dürfen, und das war der VW. Also, früher waren die Autos so im Barockstil, die waren auch unheimlich schwer, über zwei Tonnen und so. Und der "Käfer" hatte abgespeckt. -
Dieses Auto war in dem Sinn für diese Zeit genial. -
Das war genial, und dabei war dieses Auto für den Normalverbraucher. Auch dass Hitler die Autobahnen gebaut hat, das war eine Infrastrukturmassnahme. -
Sag mal, viele sagen, Hitler habe die Autobahnen nur gebaut, um seine Militärtransporte durchzuführen, aber das kann ja gar nicht stimmen, denn die Transporte gingen doch bis Russland, und dort gab es doch gar keine Autobahnen. -
Ja, also man kann nicht auf einer Autobahn fahren, wo es keine gibt, das ist klar. Hitler hat die Autobahnen auch vor allem deswegen gebaut, damit er die Arbeitslosen von der Strasse hatte. -
Aber das waren gar nicht so viele. -
Ja, das waren etwa 7% der Arbeitslosen, und dann war da noch der Brückenbau. Da waren auch viele Leute beschäftigt. -
Also Hitler hatte eigentlich sehr gute Ideen manchmal. -
Man muss so sagen: Hitler hat seine Talente falsch eingesetzt, und am Schluss war alles ein Trümmerhaufen. Und der Harris, wäre er ein Deutscher gewesen, hätte man ihn genauso verurteilt wie alle anderen, aber er ist Engländer, so hat man ihn gelobt. -
Du, die haben doch genau gewusst, wo welche Bombe hinkommt, haben die Bevölkerung ausgebombt, die Industrieanlagen stehen lassen, um sie nach dem Sieg zu demontieren und auszuschaffen. -
Das ist vielleicht wahr. Also, die Engländer und Amerikaner haben zum Beispiel auch Burgen und Schlösser in Frankreich und Belgien zerbombt, nur, weil da ein paar Deutsche waren. Also, man kann sagen: Eine Generation hat da das Werk von vielen Generationen zerstört. -
[statt dass die Treibstoffversorgung bombardiert worden und die Wehrmacht zum Stillstand gekommen wäre].
Dieser Mann aus Holland sagte noch, nach dem ersten Weltkrieg hätten die Holländer ausgehungerte Kinder aus Deutschland und Österreich aufgenommen, damit diese genug zu essen hatten. -
Das haben die sicher so gemacht, und auch noch andere Länder. Das war humanitäre Hilfe. -
Aber denk doch mal: Diese Kinder haben dann später für Hitler gegen dieselben Länder gekämpft, von denen sie früher durchgefüttert worden waren. -
Das ist schon verrückt, wie das Schicksal so spielt, aber es ist wahr. -
Was hat denn deine Mutter miterlebt im Krieg? Hat sie etwa auch noch vom 1. Weltkrieg etwas miterlebt? -
Nein, das kann nicht sein, sie war das jüngste Kind von einer ganzen Reihe von Kindern. Sie ist Jahrgang 23. -
wo ist sie aufgewachsen? -
Bei Rensburg. Man hat auf sie mit dem Maschinengewehr geschossen. -
Was? -
Ja, die englischen Tiefflieger, die haben sie mit dem Maschinengewehr vom Flugzeug aus verfolgt. Die kamen immer wieder, meine Mutter war auf dem Weg auf dem Feld, da kam der. Da musste sie sich lange verstecken im Gebüsch, aber der kam immer wieder. Sie musste lange warten, bis er nicht mehr kam. -
Das gibt's doch nicht. -
Du, die haben auf alles geschossen, was sich bewegte. Die haben auf Bauern geschossen, auf Schulkinder haben die geschossen... -
Was? -
Ja, die Kinder mussten in die Schule, und da mussten die übers Feld. Ich weiss noch, mein Cousin, der wurde von einem Mädchen abgeholt. Da waren die auf dem Weg, da kam ein Tiefflieger, da stellte sich das Mädchen vor meinen Cousin, um ihn zu schützen. Da wurde das Mädchen erschossen und sank zusammen und mein Cousin stand daneben. Sie hatte einen Schuss in den Bauch, dann ist sie verblutet...
3. Mona s.o.
Hungerblockade 1918/1919: Die Grossmutter hungert für die Kinder und stirbt dann in der Grippewelle - Trümmerfrauen in Hamburg beim Backsteinsammeln und bei der Trümmerräumung und Leichenräumung - die ersten kleinen Häuschen nach dem Krieg an einer freien Mauer werden von den Trümmerfrauen gebaut - die deutschen Männer nach 1945 sind psychisch alle "fertig" - Hungerwinter in Deutschland 1945/1946 mit Hungerödemen und Ausschlägen etc. - Besatzungsmacht: Engländer vergewaltigen nicht, die anderen schon - Besatzung in den Häusern und die Bevölkerung im Keller - Hitler und die Hungerblockaden
am selben Tag
über die Hungerblockade im 1. Weltkrieg: Mona:
Meine Grossmutter hatte vier Kinder. Eines davon meine Mutter, die wohnten damals im Rheinland, und die Mutter hungerte für ihre Kinder. -
Diese Blockade war auch noch nach dem Krieg. -
Ja, auch noch nach dem Krieg, nichts kam mehr durch. Und dann kam eine Grippewelle, also, nicht einfach eine normale Grippe, wie wir hier sie meistens haben, sondern vielleicht eine asiatische, die gleich mit 40° Fieber anfängt. Das hat alle Leute, die schon schwach waren, hinweggerafft, und daran ist auch meine Grossmutter gestorben. -
So schwach war sie? -
Binnen vier Tagen war man da weg.
Ja, und was ich noch weiss, das weisst du sicher auch nicht: In jeder Stadt gab es dann nach dem 2. Weltkrieg die sogenannten Trümmerfrauen, und die gab es natürlich auch in Hamburg. Also: Die Frauen suchten dann in den Trümmern der Häuser die noch heilen Backsteine raus, und das war schwere Arbeit, denke mal. Die mussten auch die Leichen herausziehen, also unglaublich. Es gab ja keine Männer mehr, nein, das mussten alles die Frauen machen. Und da hatten sie dann so vier oder fünf Backsteine in den Händen aufeinandergestapelt, das war schwere Arbeit. Was denkst du, oder auf einer Schubkarre, und da, wo noch eine Brandmauer stand oder ein Rest von einem Haus, also, das suchte man sich dann einfach aus, so ein Stück Mauer, und da baute man dann dran. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, so kleine Häuschen waren das, oder dann auch so kleine Lädelchen mit etwas Dach, alles von den Frauen in den Trümmern gefunden. -
Die haben also mit Mörtel Mauern gebaut? -
Ja. -
Und Mörtel gab es damals noch? -
Ja, auf dem Land gab es dann schon noch ein paar Fabriken, und du musst dir wirklich vorstellen: Das haben damals in dieser Zeit alles die Frauen gemacht: die Kontrolleure, die Chauffeure, alle. Die Männer waren ja alle weg. -
Und dann kamen die Männer zurück und die Frauen mussten wieder zu Hause bleiben. -
Ja, das war ja das Ungerechte. Sie durften dann nicht mehr, und wie die Männer dann zurückkamen, die konnten ja gar nichts tun, die waren doch psychisch so fertig.
Eins hat der Hamburger Senat dann gemacht. Das waren die sogenannten wie die "Sieben Weisen", musst du dir vorstellen: Diese kleinen Häuschen, die durften dann stehenbleiben. -
Also, der Besitzer des Grundstücks konnte nicht kommen und sagen: Das ist mein Grundstück? -
Nein, das konnte er nicht. Also, die Reichen, die hatten sich aufs Land in ihre Villen verzogen, und diese kleinen Häuschen durften nicht abgerissen werden. War doch schön, wenigstens etwas Anerkennung für die Frauen. -
Wie habt ihr denn den Winter überstanden? -
Ja, also, das war ein Hungerwinter natürlich. Wir hatten nichts mehr, und Hungerödeme, aufgeblasene Bäuche und Ausschläge im Gesicht und was noch alles, das war an der Tagesordnung. Das muss man sich mal vorstellen. -
Ja, und die Kälte? -
Also, wenn man so ein kleines Häuschen hatte, dann ging das schon. Aber eben, gottlob kamen da nicht die Reichen und zerstörten wieder alles. -
Also, die konnten nicht anfangen, neue Mietskasernen zu bauen? -
Nein, also wenigstens vorläufig nicht. -
Und wie waren die Besatzer? -
Ja, der Bürgermeister wollte den Engländern schon vorher die Stadt öffnen, denn diese ganze Bomberei, das war ja dann Tag und Nacht. Das hatte ja keinen Sinn mehr. Aber der Senat konnte nicht, denn es waren noch zu viele Nazis in der Stadt. -
Sonst wäre der Bürgermeister gleich erschossen worden. -
Und der Senat auch. Also, es ging ja dann, und eines muss man den Engländern lassen: Sie haben immer ein Fairplay im Blut. Also, sie sind vielleicht böse und gemein gewesen, aber vergewaltigt haben die bei uns nie. -
Aber die Franzosen auch nicht, oder? -
Oh doch, auch die Amerikaner, damals. -
Und die Russen, die Mongolen? -
Aber klar. Schliesslich hatte man ja gesiegt. Die Deutschen ja auch am Anfang des Krieges, was meinst du! Aber die Engländer bei uns nicht. Sie hatten Befehl, es nicht zu tun. Die fuhren ganz viel Patrouille, so dass da auch gar nichts passieren konnte. Und die Obersten mussten ihre Leute natürlich ganz schön an den Kandaren halten. Sie waren dann drei Tage in den Häusern, und dann gingen sie wieder. Da musste dann das ganze Haus, oder das, was davon noch übrig war, im Keller schlafen. -
Und die Engländer waren in den Wohnungen. -
Ja, und natürlich haben die sich etwas mitgenommen als Souvenir, also, ein Spiegel zum Beispiel, oder sonst etwas Kleines, aber immer nur kleine Sachen. -
Und nach drei Tagen gingen sie wieder weg. -
Ja, nach drei Tagen waren sie weg. -
Also da waren dann gar keine Engländer mehr da? -
Doch, aber das Heer, das zog dann weiter. -
Wohin? -
Das weiss ich nicht. - [an die Oder].
Nochmals zur Hungerblockade: Ich sehe irgendwie folgenden Zusammenhang: Deutschland wurde im 1. Weltkrieg blockiert, und Hitler war ja dabei. Er war zwar Österreicher, aber er war als Freiwilliger an der Front, zum Schluss Gefreiter. Er hat die Blockade also selbst auch miterlebt. -
Ja, und jetzt? -
Also, meinst du nicht auch, dass sich da etwas anstaute, also 1914-1918 war Blockade, zum Schluss Hunger in Deutschland, also, Blockade vier Jahre. Dann war Inflation bis 1923, also immer noch Hunger, dann war es fünf Jahre gut, und dann wieder Hunger. Also, Hitler wollte einfach auf keinen Fall mehr, dass das Volk hungern muss. -
Er wollte vor allem die Arbeitslosen von der Strasse wegbringen. -
Ja, warte, aber ist da nicht ein Zusammenhang: Wenn Hitler also über Jahre ein solches Gefühl entwickelt, dass fast dauernd Krise und Hunger war, so war das Aushungern von Leningrad doch nur Revanche. -
Ja. -
Und warum gerade Leningrad? Weil die Ostsee noch nach dem ersten Krieg bis 1920 für Deutschland blockiert war. -
Also, ich denke vor allem, Hitler wollte unbedingt die Arbeitslosen von der Strasse bringen. Also, es ist ja erstaunlich, dass heute die Wirtschaft die Augen vor den Arbeitslosen verschliesst, denn viele Arbeitslose sind immer Voraussetzung dafür, dass die Leute eine Diktatur wollen. -
Du meinst, es hätte auch ein anderer als Hitler sein können? -
Ja, jeder andere hätte es auch sein können.
4. Siegrid Faehre, Zollikon, ca. 45
Schmuggel während der Hungerblockade 1918 / 1919 über die holländische Grenze
Freitag, 17.Februar 1995
Siegrid über die Hungerblockade im Weltkrieg:
In der Familie meines Vaters waren das 10 Kinder, die wohnten an der holländischen Grenze und die Jungens schmuggelten immer Esswaren, Butter und Käse, über die grüne Grenze. Da mussten die so unter einem Stachelzaun durch, mein Vater war da auch dabei.
5. Otto Schulz, Zollikon, s.o.
Das Versagen von Wilhelm II. ohne Bündnis mit Russland und ohne England - Frankreichs Einkreisungspolitik - Frankreichs Rache 1918 für 1871 - Frankreich und Polen hatten eine gemeinsame Mentalität gegen Deutschland - der schwachsinnige deutsche Kaiser gegen England - Serbien durfte nie "gross" sein
über die Zusammenhänge 1./2.Weltkrieg:Otto: Wilhelm II. hat zwei entscheidende Fehler gemacht: den Rückversicherungsvertrag mit Russland hat er nicht erneuert, das hat Russland zu Frankreich getrieben, und dann hat er die Annäherung Englands zu Deutschland ausgeschlagen. So stand Deutschland alleine da. Frankreich seinerseits versuchte immer, Deutschland politisch einzukreisen -
Wieso denn bloss? Und die haben sich gegenüber Deutschland so viel geleistet. -
Das haben sie. Das geht doch alles auf Elsass/Lothringen zurück von 1870/71. -
Ist das so wichtig? -
Ja. -
Du meinst, Frankreich hat 30 Jahre lang gewartet, um dann Deutschland auszuhungern? -
Ja, mehr: 45 Jahre. -
Frankreich hat sich in alles eingemischt, vor allem in Polen. Wieso konnte sich Frankreich verantwortlich fühlen, welche Gebiete deutsch oder polnisch sind nach dem ersten Weltkrieg? -
Das war so: Frankreich war Grossmacht und alle kleineren wie Polen, Serbien und andere sassen daneben und hofften, auch noch eine Scheibe vom Kuchen abzubekommen in Versailles [1919], so dass Deutschland immer kleiner wurde. -
Und wieso wurden Volksentscheide nicht akzeptiert von Frankreich, wieso wurde Oberschlesien von französischen Truppen besetzt und Polen zugeschlagen? -
Das konnten die sich damals leisten. -
Weil Deutschland schon vier Jahre ausgehungert war, klar.
Weisst du, dass Polen übrigens Krieg gegen Russland geführt hat? -
Nein. -
Nach dem 1.Weltkrieg hat Polen in einem Handstreich die Hälfte der Ukraine und dann auch russische Gebiete erobert. Die rote Armee kam im Gegenzug bis vor Warschau. Da halfen die französische Armeen den polnischen Armeen, die Russen aufzuhalten und sie zurückzuschlagen. -
Nein, das wusste ich nicht. -
Warum nur hatten die Franzosen dieses gute Verhältnis mit den Polen? -
Das ist irgendwie von Natur aus so. Diese zwei Völker verbindet eine gemeinsame Mentalität. Französisch war in Polen lange erste Fremdsprache. Viele Polen waren in Frankreich, und es ist irgendwie auch eine Angewohnheit, immer den Übernächsten Nachbarn zum Freund zu haben und nicht den Nächsten, beim Verhältnis Deutschland - Russland bei Bismarck genau dasselbe: immer den Übernächsten. Man hat einen gemeinsamen Feind, und man ist sich nicht zu nah. -
Ja, das ist immer gut, aber mit dem Nachbarn gut auszukommen, wäre ja noch viel besser, oder? -
Frankreich wollte eben immer eine Grösse für sich sein, und mit den Polen hat es gepasst. Frankreich hat dann ja schon 1870 die Monarchie abgeschafft. Sie wollten Napoleon III. nicht mehr haben. -
Der hatte sie "betrogen", eben, wegen Elsass/Lothringen. -
Ja, dieses Gefühl war es wenigstens. Und die hatten damals schon Parlamentarismus. In Deutschland ging das ja alles viel zu lange. Der Kaiser hat da alles verschlafen, und das Volk wollte auch seinen Kaiser. Nur war der eben etwas beschränkt. -
Der war ja wirklich etwas dumm.
In England gab es zu der Zeit aber einen Kolonialminister Chamberlain. Der hat vor dem 1. Weltkrieg versucht, sich mit Deutschland zu verbünden, und der Kaiser hat es abgelehnt, drei Jahre lang. -
Ja, das ist auch so was. Der deutsche Kaiser hat in England immer einen Rivalen gesehen, und zwar wegen der Seemacht. Das war immer Rivalität auf See, und der deutsche Kaiser hat in England immer einen Rivalen gesehen, und zwar hatte der deutsche Kaiser das grosse Hobby, immer nur seine Flotte gegen England aufzurüsten. Es war völliger Schwachsinn. -
Wieso denn nur hat es der deutsche Kaiser abgelehnt? -
Da hätte er sich ja England unterordnen müssen, denn deren Kolonien waren ja viel grösser. -
Und er konnte das nicht positiv sehen. -
Überhaupt nicht. -
Mensch, drei Jahre lang wollte Chamberlain Kontakt, und wieso ist Elsass/Lothringen den Franzosen so wichtig? -
Das war ehemals völlig deutschsprachiges Gebiet. Aber in der Geschichte wechselt eben vieles. Die "Französisierung" hat erst nach dem ersten Weltkrieg eingesetzt, und dann ganz stark. -
Die Gruppen, die einen Verbleib bei Deutschland forderten, wurden unterdrückt mit Terror. -
Das kann gut sein, dass das so war, auf alle Fälle war die Französisierung sehr, sehr stark, und wenn ich heute durch das Elsass fahre, dann sieht man, dass alle Strassen noch deutsche Namen haben und die Leute auch alle deutsche Namen haben, aber die Leute wollen bei Frankreich bleiben. -
Schon komisch, aber Frankreich durfte einmal wirklich gross sein, Deutschland durfte gross sein, Russland auch, England mit seinen Kolonien auch. Sie alle haben den Prozess des Verlustes und den Schmerz des Verlustes erfahren, aber Polen nicht, und vor allem: Serbien nicht. -
Serbien war ja lange türkisch besetzt. -
Und dann kam ein Kapitalfehler am Berliner Kongress: Da wurde die Herzegowina Österreich zugesprochen, also, da wurde gesagt: Ihr Österreicher könnt dieses Gebiet besetzen. Dabei war Österreich-Ungarn doch schon so gross, und Serbien hätte es sicher auch gern gehabt. -
Sicher, aber schau, was für ein Misch-Masch das dort ist nach so vielen Jahren Türkenherrschaft. Es ist unheimlich schwer, dort zusammenhängende Volksgebiete zu finden, auch in Serbien selber. -
Die Serben wollen einfach auch einmal gross sein, erleben, wie das ist, und dann die Niederlage erfahren. Diesen Prozess erfahren sie sonst nie.