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ENGL
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Josef Nowak: Das
Rheinwiesenlager Rheinberg
Kapitel 12: Abschied
von einem alten Mann
Kopfstürze -- "amerikanischer" Massenmord und
Totenfeld mit deutschen Kriegsgefangenen -- der "Alte
Mann" vergisst es, eine Adresse zu hinterlassen
aus: Josef Nowak: Mensch auf den Acker gesät.
Kriegsgefangen in der Heimat
präsentiert von Michael Palomino (2013)
[Vitaminmangel und Kopfstürze]
Es dauert schon seine Zeit, bis der Hunger von jedem Teil
des menschlichen Körpers Besitz ergriffen hat. Die
Magenschmerzen, die Kopfschmerzen, das Schwindelgefühl, das
alles ist noch erträglich. Irgendwo sind ja auch noch
Reserven aufgespeichert, selbst in einem nichtgemästeten
Leib, die langsam aufgezehrt werden. Aber eines Tages stehst
du dem Nichts gegenüber. Die Vitamin-Zufuhr hat sich dem
Nullpunkt genähert. Eiweiss, Fett, Kohlehydrate bleiben aus.
Jetzt kannst du an deiner eigenen sterblichen Hülle
biologische und physiologische Studien machen. Und du
begreifst mit aller Klarheit, dass der über dich verhängte
Hunger ein gemeines Verbrechen an der menschlichen Natur
ist. Obwohl du deinem Magen und Darm nur einen Bruchteil des
Nahrungsbedarfs zuführst, leidest du an chronischen
Verdauungsbeschwerden. Frischkost bekommst du überhaupt
nicht zu Gesicht. Der Skorbut meldet sich mit seinen
Vorboten an. Magenkrankheiten aller Art treten in ihren
ersten Symptomen auf. Das alles ist anfänglich merkwürdig,
rätselhaft, unbegreiflich. Aber bald kommst du dahinter,
dass hier frevelhaft mit dem Leben selbst verfahren wird.
Ich liege eines Morgens in der Sonne, träge, müde,
entschlusslos. Doch die Natur verlangt ihr [S.116] Recht.
Ich muss den dazu bestimmten Platz aufsuchen. Ich stehe
schnell, wie ich es gewohnt bin, auf. Einige Sekunden später
wird mir langsam klar, was geschehen ist. Ich bin kopfüber
in den Sand gestürzt. Eine kleine Mulde legt Zeugnis davon
ab. Ich lächle etwas verlegen, schäme mich fast, dass ich
solch ein Schwächling bin. Aber niemand nimmt Notiz von mir.
Die Blicke, die mich treffen, gelten mir gar nicht. Ich
könnte ebensogut in einem Museum voll ägyptischer oder
gotischer Plastik sitzen.
[Der Massenmord der kriminellen "Amerikaner" - das
Totenfeld]
Ich stehe wieder auf, diesmal bedächtig, in kläglichen
Etappen, gehe erst in die Knie, richte mich dann feierlich
auf wie ein uralter Patriarch, der auf der Strasse gefallen
ist. Ich wandere mit kleinen, demütigen Schritten durch das
Camp, nicht geradewegs, sondern auf einem Schlangenpfad, der
durch die Armee der Liegenden führt. Ich hätte auch nicht
gerade zu gehen vermocht, weil ich dauernd um mein
Gleichgewicht kämpfte. Die Menschen liegen wie vom
Artilleriefeuer niedergemäht, auf dem Bauch, auf dem Rücken,
auf der Seite, mit starren Gliedern wie Verstorbene, aber
auch verkrümmt, zerdehnt, zusammengerollt, mit geschlossenen
Augen oder mit halboffenen, die an aller Welt unbeteiligt
sind und wahrscheinlich überhaupt nichts sehen. Wie die
Bäume im Hochschwarzwald nach einem Windbruch, umgeweht,
niedergewalzt, so liegen sie da. Es gab kein Mittel mehr,
sie zu einer Anteilnahme am Leben zu bewegen [S.117] als
dieses: ihnen ein Stück Brot, einen Brocken Fleisch,
irgendetwas Essbares vor die Zähne zu halten.
Dicht vor meinen Füssen ist ein hagerer Körper hingestreckt.
Er scheint steif gefroren trotz der warmen Frühlingsluft.
Die Sehnen seiner Füsse sind kraftlos geworden. Die
Fussspitzen sind nach beiden Seiten gefallen und berühren
fast den Boden. Die Augen schauen starr in die Sonne. Sie
leiden keinen Schaden mehr. Sie gehören einem Toten. Ihm die
Augen zu schliessen, dazu hat noch keiner Zeit gefunden. Ich
tue es auch nicht. Ich bin froh, dass ich aufrecht stehe.
Ich habe keine Lust, einen zweiten Kopfsturz zu machen.
Deshalb gehe ich weiter. Ich habe ja schliesslich etwas zu
tun. Nur darum bin ich aufgestanden.
[Kaum noch Kontrolle über die eigenen Beine durch
die Hunger-Folter und Unterernährung]
Bei der Rückkehr von der Latrine nehme ich mir vor, diesem
Toten aus dem Weg zu gehen. Ich will ihn nicht mehr sehen.
Ich kann ihm weder einen Sarg noch einen Leichenwagen noch
einen Priester besorgen. Aber es geht mir wie einem Anfänger
auf dem Fahrrad. Wie der mit nachtwandlerischer Sicherheit
ein Hindernis rammt, obwohl er es schon aus fünfzig Meter
Distanz gesehen hat, so stolpere ich beinahe über den Mann,
der sich da selbst zur letzten Ruhe gebettet hat. Das Gehirn
hat so gut wie nichts mehr zu befehlen. Die Beine haben sich
selbständig gemacht und sind einem unergründlichen
Mechanismus untertan.
[Ausfall des Gedächtnis durch die Hunger-Folter und
Unterernährung]
Ich erinnere mich eines Brauches, den ich schon [S.118] als
Kind in einem oberschwäbischen Städtchen gelernt hatte. Am
Sterbebett eines Menschen hat der Christ ein Vaterunser zu
beten. Beten wir also, Vater unser, der Du bist in dem
Himmel, geheiligt werde Dein Name - hols der Teufel, ich
bringe das Vaterunser nicht zu Ende. Die sieben Bitten
wollen sich nicht mehr zusammenfügen. Das Gedächtnis ist in
den Streik getreten. Es macht nicht mehr mit. Es protestiert
gegen die Unterernährung. Ich versuche es lateinisch,
griechisch, gotisch, französisch, italienisch, spanisch,
erwische da einen Fetzen, dort einen Fetzen des christlichen
Abendlandes, aber ein Vaterunser wird nicht daraus. Not
lehrt beten. Ich ertappe mich dabei, dass ich laut auflache.
Einige Umliegende schauen mich an, nicht tadelnd, wissend.
Sie ahnen schon, dass es mit mir nicht mehr lange dauert.
Not lehrt beten - wenn das wahr wäre, dann hätten wir jedes
Trappistenkloster in den Schatten gestellt.
[Die Philosophie über den "Alten Mann", der vor
dem Sterben steht]
-- Alter Mann, nun bin ich Dir Deinen Tribut schuldig
geblieben und werde mein Leben lang ein schlechtes Gewissen
haben. Was sollen die oberschwäbischen Bauern von mir
denken, bei denen ich mir so schöne Volksbräuche zu eigen
gemacht habe? Alter Mann, wie aus grauem Stein gehauen ist
Dein Gesicht. Der Tod ist der erste Bildhauer der Erde. Er
macht aus dem schlichtesten Material, aus dem leersten
Antlitz noch eine erhabene Form. Alter Mann, Du siehst mir
ganz nach einem Volkssturmmann aus mit Deinen sechzig
Jahren. Nun [S.119] hat Dich die grosse Sturmflut nach
Rheinberg getragen. Irgendwo musstest Du ja sterben. Warum
nicht hier? Bist Du ein Schlesier, ein Märker, ein
Ostpreusse? Wie soll ich das aus Deinen grauen Haaren, aus
Deinem fast weissen Bart herauslesen? Wo hast Du Dich
herumgetrieben, alter Mann? Hier am Niederrhein? Oder hat
Dich nur der Hunger so uralt gemacht und bist Du vielleicht
auf der Eismeerstrasse bis Rowaniemi [Stadt in
Nord-Finnland] gefahren? Bist Du aus Prag geflüchtet und so
lange an der Ostfront gewesen, bis sie mit der Westfront
zusammenschmolz? Hat Dich das Geschick in Sachsen, in
Thüringen den Amerikanern anheimgegeben oder ist es Dir in
letzter Minute noch gelungen, über die Elbe, über den
modernen deutschen Schicksalsstrom zu fliehen?
[Weitere Kriegsgefangene enden im Kopfsturz]
Ach, so ist das, denke ich dann. Dort drüben hat einer einen
Kopfsturz gemacht. Er liegt jetzt genau so verwirrt, genau
so blöde da wie ich vorhin. Beim nächsten Mal, wenn er
aufsteht, wird er such ein wenig in acht nehmen.
[Die Angehörigen denken, der "Alte Mann" sei in Russland
gestorben]
-- Alter, namenloser Mann, jetzt werden sie Dich bald hier
wegschleppen und eingraben. Keiner weiss Deinen Namen. Dich
kann niemand mehr fragen. Andere zu fragen, wäre völlig
zwecklos. Und im Übrigen ist es ja doch wohl gleichgültig,
ob Du unter einem fremden oder gar keinem Namen verscharrt
wirst. Du bist abgemeldet. Vielleicht denken Deine Kinder,
Deine Enkel noch ein paar Jahre, Du seist in Russland
geblieben. Aber [S.120] wenn Du dann gar nicht schreibst - -
-
Russland ist gross. Russland ist weit. Wer soll denn auf den
absurden Gedanken verfallen, dass Du, Ostfrontkämpfer, der
sich halb Russland an den Stiefeln abgelaufen hat, der
unbekannte Tote vom Niederrhein bist? Wenn jemand eines
Tages nach Deiner Leiche verlangt, so wird er das ganz
bestimmt an der falschen Stelle tun.
[Weitere Kopfstürze]
Da fällt schon wieder einer um. Der Hunger leistet saubere
Arbeit. Als ob er einen Knüppel schwänge und jeden, der
aufzustehen wagt, auf den Schädel schlüge. Ich bin also doch
nicht der einzige Jammerlappen hier im Lager. Merkwürdig,
wie gleich uns der Hunger macht, dass wir alle am selben Tag
wie auf Kommando Kopfstürze machen. Das kann dich von der
Eitelkeit heilen. Du bist also doch nichts Besonderes auf
diesem Friedhof der Illusionen. Ein ganz gewöhnlicher Tropf
bist du und genau so auf den Kopf gefallen wie tausend
andere Tröpfe.
[Der "Alte Mann" hat sich verabschiedet]
-- Wenn Du dann gar nie schreibst, alter Volkssturmmann,
dann denkt Deine Frau, mit der Du bald die goldene Hochzeit
gefeiert hättest, Du seist in Kurland oder an der Moldau
gestorben. Ich verstehe Dich gut, Alter, Du hast einfach
keine Lust mehr gehabt, hast Dich einfach geweigert
aufzuwachen. Wozu auch? Um weiter zu hungern? Nein, nein,
Selbstmord will ich das nicht gerade nennen. Aber gib zu, Du
hast ganz bewusst vor Müdigkeit und Trostlosigkeit Schluss
gemacht, hast Dein eigenes [S.121] Herz angehalten. Nicht
wahr, so ist es gewesen? Du hast Dich auf die uralte Kunst
des Tieres und des primitiven Menschen besonnen, zur rechten
Zeit und still zu sterben. Und jetzt hast Du einen so
majestätischen Kopf aufgesetzt, dass man beinahe ehrfürchtig
wird. Vielleicht sollte ich Dir an Stelle des Vaterunsers
eine Träne spenden. Aber ich muss sparsam sein. Man bekommt
hier ja fast nichts zu trinken, um die vergeudete
Flüssigkeit wieder zu ersetzen. Und warum soll eigentlich
geweint werden? Du hast Dich ja nun von Rheinberg
verabschiedet auf eine Weise, die höchste Distanz ausdrückt.
Es ist für die Amerikaner nicht gerade schmeichelhaft, wie
Du über sie denkst. Und man kann die zu Stein erstarrte
Verachtung in Deinem Gesicht nicht mehr abwischen.
[Weitere Kopfstürze]
Da ich nun endlich wieder nach Hause gehen will, zu meinem
Erdloch und meiner Nachbarschaft, schaue ich einen
Augenblick über das weite Camp. Bewegung ist in die Masse
genommen. Die Zeit des Nahrungsempfanges ist da. Alles steht
auf. Aber, mein Gott, forsche nach in Deinem urewigen
Gedächtnis, das älter als die Uran-Uhr ist, Forsche nach, ob
Du je solch ein Schauspiel gesehen hast. Es ist, als hätte
die Fallsucht über Nacht Hunderttausende ergriffen.
Ringsherum sehe nichts als Kopfstürze. Es ist ein
schauerliches Kabarett, das sich da produziert. Ein
stürzendes Heer von Akrobaten oder Hampelmännern treibt da
sein Unwesen. Wenn das Edvard Grieg geschaut hätte, bevor
[S.122] er den Tanz der Trolle in der Halle des Bergkönigs
komponierte, seine Musik wäre noch schrecklicher, noch
wilder geworden.
[Der "Alte Mann" hat keine Adresse hinterlassen]
-- Alter Mann, dass Du das nicht mehr mitgemacht hast. Du
ahnst gar nicht, Du rücksichtsloser Verstorbener, wie viel
Leben in solch einem verhungerten Haufen steckt. Du hast
Dich zu früh davongeschlichen. Nicht einmal Papiere hast Du
hinterlassen, nicht die Anschrift Deiner Familie. Keinen
Namen hast Du, Leichnam. Aber wer weiss, ob man Dir den aufs
Grab gesetzt hätte. Vor ein paar Tagen ist da drüben einer
im Loch erstickt. Der hatte auch keinen Namen. Es sah aus,
als zerrten Ameisen eine tote Ameise aus dem Bau. Man
schleifte den Toten zum Tor. Es werden sich Hände finden,
die auch Dich dorthin schleifen. Gute Fahrt zum Jüngsten
Gericht. Wenn ich das Vaterunser wieder zusammenbringe, will
ich gern an Dich denken, obwohl Du Dich ohne Urlaub in Deine
selbstsüchtige Starre zurückgezogen hast, während wir das
Gleichgewicht verlieren und das Hungerballett im Drahtkäfig
aufführen [S.123].
Quellen
Fotoquellen
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