[1.9. Der
Crash der New Yorker Börse im November 1929 - die
JDC-Gelder gehen zurück - jüdische Katastrophe in
Osteuropa - neue Antisemitismuswelle]
[November 1929: Der
Börsencrash: Die JDC-Gelder gehen zurück - jüdische
Katastrophe in Polen - reduzierte Programme]
Die grosse Depression, die in Amerika im Jahre 1929
einsetze, war generell ein Wendepunkt in der ganzen Welt,
und speziell in der jüdischen Geschichte. Gerade, als das
JDC daran war, sich in eine immerwährende
Spendensammelorganisation umzuwandeln, mit ernsthaften
finanziellen Verpflichtungen, um materielle Beiträge für
eine radikale Verbesserung der Bedingungen der jüdischen
Massen in Europa zu leisten, so wurde es nun durch die
Wirtschaftskatastrophe von den Füssen geholt, indem die
finanzielle Basis in den USA gefährdet war; und dies
geschah zu einer Zeit, als die Bedingungen der Juden in
Europa ernsthaft immer schlechter wurden.
Es muss wirklich gesagt sein, dass Osteuropa durch lokale
Wirtschaftskrisen schon vor der durch Amerika ausgelösten
Krise gelitten hatte. Die Bedingungen für die dortigen
Juden hatten die Gründung und die Mobilisierung der
JDC-Ressourcen hervorgebracht, die vorher beschrieben
wurden. Aber es gab keinen Vergleich zwischen der Not der
polnischen Juden im Jahre 1932 und 1928. So schlecht, wie
die Situation sich im Jahre 1928 darstellte, so
unglaublich viel schlimmer war die Lage im Jahre 1932.
Gleichzeitig reduzierte sich das Budget des JDC durch die
zurückgehenden Spendensammlungen in den USA auf 340.000 $
im Jahre 1932.
(Fussnote: Siehe im
Anhang
die Tabelle mit den Einkommen und Ausgaben des JDC während
dieser Zeit).
Am Ende des Jahres 1929, zweifellos als Folge einer
besseren Beziehung (S.41)
zwischen Zionisten und Nichtzionisten durch die
Einrichtung der Jewish Agency, wurde ein Vereinigter
Jüdischer Aufruf (Allied Jewish Appeal) für 6 Mio. $ ins
Leben gerufen, wobei 3,5 Mio. für das JDC vorgesehen
waren. In Tat und Wahrheit aber betrug das vom JDC
gesammelte Geld im Jahre 1930 bloss 1.632.288 $. Die
Spannungen während einer Kampagne, die in der Atmosphäre
der Finsternis geführt werden musste, dominierten zu sehr,
als dass eine gemeinsame Spendensammlungsaktion möglich
gewesen wäre, und im Jahre 1931 führten die Zionisten und
das JDC getrennte Appelle durch. Die 740.000 $, die im
Jahre 1931, und die 385.000 gesammelten $ des Jahren 1932
entsprachen der katastrophalen Lage nicht.
Warburg war mit der Jewish Agency wie auch mit dem JDC
verbunden, aber er konnte seine Sammlungen für keine der
beiden verbessern. Angesichts dieser Entwicklungen mussten
die Budgets drastisch gekürzt werden -
-- keine Industrialisierungspläne mehr,
-- keine Expansion mehr.
Die Beiträge des JDC an die Freien Kreditkassen, an die
Kinderhilfe, und an die medizinische Hilfe wurden minimal,
und oft waren sie nur noch symbolisch.
[1930 ca.:
JDC-Strategiediskussion]
An dieser Kreuzung waren die Meinungen in zwei Lager
geteilt. James N. Rosenberg dachte, dass das JDC nicht
mehr als eine Verteilungsorganisation des amerikanischen
Judentums war. Wenn das amerikanische Judentum dem JDC
keine Gelder geben konnte oder wollte, so sollte das JDC
zumachen und in New York nur noch eine gerüstmässige
Verwaltung unterhalten. Er hielt diesen Schritt für
gerechtfertigt entgegen der Möglichkeit der Wiederbelebung
der Organisation, wenn die gesammelten Gelder wieder
ansteigen würden. Er äusserte diese Meinung wiederholt in
den Jahren 1931 und 1932.
Der andere Gesichtspunkt wurde von Kahn, Warburg und
Baerwald vertreten. Sie behaupteten, dass eine komplette
Unterbrechung des Geldflusses aus Amerika nicht nur die
jüdischen Institutionen zerstören würden, die mit so viel
Geld nach dem Ersten Weltkrieg eingerichtet worden waren,
sondern dass diese Institutionen auch, wenn sie einmal
geschlossen werden, nie mehr eingerichtet würden. Diese
Meinungsunterschiede wurden zugunsten der Meinung von
Warburg gelöst, und das JDC machte weiter, tröpfchenweise
Dollars an die leidenden jüdischen Institutionen in
Osteuropa zu überweisen.
Die Krise und ihre Konsequenzen hatten aber auf die
Aufbaustiftung (Reconstruction Foundation) keine
materiellen Auswirkungen, denn diese war mit einem
ziemlich hohen Kapitalstock versehen, und es konnte
zumindest teilweise von dieser Reserve gezehrt werden;
Kredite wurden den Kreditkassen gewährt, und die
Rückzahlungen der Kredite kamen regelmässig. (S.42)
Das Verteilungskomitee JDC selber tat dasselbe mit den
Freien Kreditkassen, aber in einem viel kleineren Rahmen.
Nun nahmen die Aktivitäten der Stiftung proportional mehr
Raum ein, und die Beziehungen mit dem osteuropäischen
Judentum wurden nun sehr wichtig.
[1930-1932: Polen: Kampf
um die Kontrollarbeit der Kassen - Reduktion der
Kassenbank in Polen - Proteste in der
jüdisch-amerikanischen Presse gegen Kahn]
In den Jahren 1930 bis 1932 entwickelte sich zwischen der
Aufbaustiftung und der Führung der zentralen Institutionen
der Kreditkassen in Polen ein Streit: Die Parteien waren
die Bank, und der Verband. Anscheinend waren die
Meinungsunterschiede wirtschaftlicher und finanzieller
Natur: Der Verband kontrollierte die Arbeit der Kassen
nicht zu Kahns Zufriedenheit, und de Verband versuchte,
sich selbst von der Überwachung der Stiftung so weit zu
lösen, wie es möglich war. Das Resultat waren schlecht
verwaltete Projekte. Noch wichtiger aber war, dass die
Bank (die in Tat und Wahrheit durch Mitglieder des
Verbands betrieben wurde) sich in ein gewöhnliches
Bankinstitut gewandelt hatte, das hohe Zinsen verlangte;
die Bank versuchte auch, sich selbst von Kahns akribischer
Kontrolle zu befreien, durch eher zweifelhafte Prozeduren
allerdings. Bei letzterem machte die Bank grosse Fehler.
Zusätzlich waren die Praktiken, die da entdeckt wurden,
hart an der Grenze zur Korruption. Die Bank hatte Geld an
Privatpersonen ausgeliehen, die das Geld nicht
zurückzahlen konnten, und so hatte sich durch die
Kreditkassen ein Ungleichverhältnis bei den anvertrauten
Geldern angehäuft. Am Ende, nach vielen Versuchen, die
Situation zu retten, war Kahn gezwungen, auf die
Liquidierung der Bank zu bestehen.
Aber dies war nur eine finanzielle Krise, die sich an der
Oberfläche zeigte. In Tat und Wahrheit gab es da eine
Vertrauenskrise zwischen den Vertretern des polnischen
Judentums und dem JDC. Kahn war es nur mit Schwierigkeiten
gelungen, seine Freunde der ICA [Jüdische
Kolonisierungsgesellschaft] dazu zu gewinnen, die Bank
überhaupt aufzubauen, und die Liquidierung der Bank war
mit vielen "Ich hab dirs doch gesagt" von Teilen des
konservativeren JDC-Partners in der Aufbaustiftung
begleitet.
Die zionistische und bundistische Presse griffen Kahn
persönlich an, und einige dieser Angriffe wurden in
Amerika abgedruckt. Kahn wurde beschuldigt, ein kalter
Bürokrat zu sein, er habe der Bank nicht geholfen, als man
sie noch hätte retten können, er habe es abgelehnt, das
Schicksal der Kassen selbst zu bedenken, wenn die Bank
liquidiert würde, und sie warfen ihm Hochmütigkeit
gegenüber den Juden in Polen vor. Diese Anklagen waren den
Fakten gemäss absolut nicht richtig, aber, wie es die
Warschauer Zeitung
Hajnt
zu Papier brachte, würde Kahn wahrscheinlich einen Prozess
gewinnen, aber er würde keine gute Figur abgeben (S.43)
for einer Jury - in anderen Worten, obwohl Kahn rechtlich
im Recht war, konnte seine Politik moralisch gesehen in
Zweifel gezogen werden.
Hätte er auf einem strikten Verhalten der
polnisch-jüdischen Organisationen bestehen sollen (jene
natürlich, bei denen er voll berechtigt war), oder hätte
er eine weichere Linie fahren sollen und so sein Prestige
und das Selbstvertrauen des Volkes bewahren sollen, mit
dem er es zu tun hatte?
[Gründe für Kahn, die
Kassenbanken in Polen zu reduzieren]
Im Grossen und Ganzen scheint es, dass er versuchte, sein
Bestes zu tun, das mit einem kritischen Dr. Louis Oungre
an seiner Seite möglich war, und dies bedauerlicherweise
mit einer nicht entsprechenden Versorgung mit Geld. Nach
dem Fehlschlag seines Industrialisierungsplans war er
gezwungen, drastische Schritte zu unternehmen, um eine
Verschwendung des wenigen Geldes zu verhindern, das ihm
noch zur Verfügung stand. Er strebte ausserdem danach, den
polnischen Juden klarzumachen, dass nur korrekte
Geschäftsmethoden und solide Bankoperationen ihnen bei der
Realisierung von Projekten helfen könnten. Es musste dabei
Opfer am Weg geben, und Kahn beurteilte dies im besten
Interesse der polnischen Juden selbst, diesen Preis zu
bezahlen. Richtig oder falsch, er war auf alle Fälle
überzeugt, dass es sich nicht um eine Krise der Bank und
einiger anderer Kassen handelte, sondern es handelte sich
um eine schwache Führung und schlechte Geschäftsmethoden.
Als Resultat von Kahns Politik konnten sich die
Kreditkassen der Aufbaustiftung und die Freien
Kreditkassen des JDC insgesamt selber behaupten, trotz des
Rückzugs der Hälfte der 60 Mio. Zloty des Grundkapitals im
Jahre 1931.
Die Kassen behielten das Geld vieler Juden, die ihre
Einlagen beim Zusammenbruch wichtiger Banken in Polen
während der Depression verloren hatten. Was von der
polnisch-jüdischen Mittelklasse gerettet werden konnten -
und (S.44)
Tabelle
2: Entwicklung der Kreditkassen und der Freien
Kreditkassen in Polen
|
Kreditkassen
|
|
Freie Kreditkassen
|
Jahr
|
Anzahl Kassen
|
Anzahl Mitglieder
|
Gewährte Kredite
(in Mio. $)
|
|
Anzahl Kassen |
Anzahl Mitglieder
|
Gewährte Kredite
(in Mio. $) |
Anzahl Kredite
|
1930
|
768
|
321.000
|
16
|
|
545
|
100.000
|
1,2
|
180.000
|
1931
|
756
|
313.000
|
13
|
|
|
|
|
|
1932
|
744
|
295.000
|
12
|
|
664
|
100.000
|
1,8
|
164.000
|
es konnte nicht viel gerettet werden - wurde im Grossen
und Ganzen durch die Kassen erreicht. Dies natürlich traf
nicht gerade den Kern des Problems des polnischen
Judentums, sondern dies war einfach alles, was für die
Aufbaustiftung und das JDC im Moment zu tun möglich war.
Eine weitere Frage muss an diesem Punkt gestellt werden:
Welches waren die Methoden, durch die diese relative
Stabilität erreicht wurde? Die Antwort ist, dass die
Methoden eigentlich eher unerbittlich waren.
[Kassensysteme in
Rumänien, Bessarabien und in der Bukowina]
Wie wir schon ausgeführt haben, wurden nicht nur in Polen
Kassen eingerichtet, sondern auch in anderen Ländern. In
Rumänien zum Beispiel gab es im Jahre 1930 86 Kreditkassen
mit 64.000 Mitgliedern; im Jahre 1933 hatte dieselbe
Anzahl Kassen 54. Mitglieder. In Rumänien, und speziell in
Bessarabien und in der Bukowina, waren die Bedingungen für
das jüdische Leben genauso hart wie in Polen. Auch dort
standen sich die Aufbaustiftung den Kreditkassen
gegenüber, speziell bei kurzfristigen und rückziehbaren
Einlagen. Jegliche Verletzung der Regeln brachte einen
sofortigen Bruch der Beziehung mit der Stiftung mit sich.
(Endnote 13: Akte 19, 6/22/32 [22. Juni 1932];
Jahresbericht von Aronovici ("annual report")
[Kassen: Bundist Victor
Alter will all das gesammelte Geld ohne Zins und
Verpflichtung verteilen]
Diese allgemeine Situation war nicht nur Kahn und Oungre
klar, sondern auch den Mitgliedern des Rats der
Aufbaustiftung, miteingeschlossen die Vertreter der
osteuropäischen Juden. Einer dieser Vertreter war der
berühmte Bundistenführer Victor Alter. Alter führte zur
ungefähr derselben Zeit (1931 ), wie es zu den
Schwierigkeiten zwischen dem Verband und der Bank kam,
gegen die Stiftung eine Rebellion an. Alter lehnte die
rücksichtslosen Methoden von Kahn und Oungre ab. Seine
Haltung war sehr einfach: Die Gelder, die in Amerika für
die bedürftige jüdische Bevölkerung in Osteuropa gesammelt
worden waren, gehörten unzweifelhaft dieser Bevölkerung.
Die Stiftung war doch nur ein Vermittler dieser Gelder.
Die Stiftung war doch nur eine Verwaltung für das, was den
Vertretern der osteuropäischen Juden vermittelt werden
sollte.
[12. März 1930:
-- Bundist Victor Alter verlangt, dass die Kassen zur
Bewältigung des grundlegenden Problems der jüdischen
Armut in Osteuropa nicht helfen]
Am 12. März 1930 legte Alter Kahn ein Memorandum vor, in
dem er feststellte, dass die Hauptaufgabe der
Aufbaustiftung die Vorbereitung des Bodens in Polen war,
was er "gesunde, wirtschaftliche Aktivität" nannte. Nun
führte er gleichzeitig aus, dass die Konzentration der
Stiftung auf die Kreditkassen nicht die erhofften
Resultate brachte. "Wenn das Fehlen von Kredit das
Haupthindernis (S.45)
für wirtschaftliche Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung
oder der Hauptgrund für die schwierigen, wirtschaftlichen
Bedingungen war - so wären die Kreditkassen von dauernder,
aufbauender Bedeutung. Leider aber ist dem nicht so, und
die Erfahrung der letzten Jahre hat bewiesen, dass trotz
des Wachstums der Kreditkassen die wirtschaftliche
Position der jüdischen Bevölkerung (miteingeschlossen
Kleinhändler und Handwerker) schlechter geworden ist."
-- Bundist Victor Alter
beklagt, dass die Konkurrenz unter den jüdischen
Händlern zu massiv sei - und einige sollen auswandern
Er dachte, dass - seit dem Niedergang des jüdischen
Kleinhandels und seit der sich verschlimmernden Situation
durch die mörderische Konkurrenz unter den jüdischen
Händlern selbst - es für die Bevölkerung keine Möglichkeit
gab und dass sie nicht fähig sein würde, sich selbst eine
gesunde Basis zu erarbeiten. Im Gegenteil, so sagte er,
war doch für die grossen Massen die einzige Lösung, die
Anzahl Händler zu verringern und einige auf andere
Lebenswege zu schicken.
-- Bundist Victor Alter
verlangt das Recht auf Arbeit und Weiterbildung für alle
Juden
Die Situation der Handwerker war seiner Meinung nach
ähnlich. Die einzige Lösung für das jüdische Problem war
gemäss Alter in allgemeinen Worten, "dass ein Teil von
ihnen versucht, eine industrielle Aktivität aufzunehmen,
wo die Juden noch nicht vertreten sind, und der andere
Teil soll sich technisch so weiterbilden, so dass sie dem
extremen Wettbewerb gewachsen sind."
Je grösser die Anzahl Arbeiter wurde, die in die Industrie
ging, speziell die Grossindustrie, desto besser. Seit
viele jüdische Arbeitgeber es verweigerte, jüdische
Arbeiter anzustellen, sollten die mit der Aufbaustiftung
verbundenen Institutionen nur an jene Personen oder
Gesellschaften Kredite geben, die jüdische Arbeiter und
Angestellte einstellten. Die Kredite sollten proportional
zur Anzahl beschäftigter jüdischer Arbeiter und
Angestellten vergeben werden. Die Stiftung sollte zu
Firmengründungen beitragen, wo Juden angestellt waren, und
sollte den Firmen helfen, neue Märkte zu finden.
[Bundist Victor Alter
will die JDC-Bankenstrategie ändern -
"US"-Arbeiterführer beharren auf dem Bankensystem]
Diese Vorschläge wurden zu einer Zeit vorgelegt, als die
persönlichen Beziehungen zwischen Alter und Kahn sich
beträchtlich verschlechtert hatten. Alter war ein
Politiker, und ein ausgezeichneter Redner, und ein sehr
schwieriger Mann. In der ICA und im JDC sah er
kapitalistische Organisationen, die den jüdischen Arbeiter
nicht wirklich verstanden, und er hoffte, ihre Ziele mit
Hilfe seiner bundistischen Arbeiterfreunde in den USA
ändern zu können, (S.46)
und sogar mit Hilfe der Zionisten. Aber er erntete einen
grossen Rückschlag. Hyman und Baerwald hatten leichtes
Spiel, die amerikanischen Arbeiterführer zu überzeugen.
Charney B. Vladeck, Alexander Kahn, Bernard Zuckerman und
Meyer Gillis stimmten mit der Ansicht des JDC überein,
dass Dr. Kahns Autorität gewahrt werden müsste, dass das
JDC gegenüber den Juden von Amerika in der Verantwortung
stand, wie die Gelder verwendet wurden, und dass es nicht
einfach eine einfache Verteilungsorganisation sein konnte,
die die jüdischen Politikführer in Polen für ihre
Wirtschaftsprogramme mit Geld versorgte. Sie brachten
diese Ansicht in einem Telegramm vom 11. Juni 1931 an
Alter zum Ausdruck.
(Endnote 14: Akte 20)
[Kahn rechtfertigt das
Kassensystem mit Fortschritten im osteuropäischen
Judentum]
Viele waren auch durch Kahns praktische Antworten
überzeugt worden. Kahns Argumentation war, dass
die Stiftung gegründet
worden war, um zu retten, zu stärken, und auszubauen,
was schon existierte. Die Stiftung ist der Verwalter der
Gelder, die immer so angewandt werden müssen, so dass
die Existenz der Institutionen, die wir geschaffen
haben, oder die wir nun unterstützen, garantiert ist.
Dieses Ziel kann aber nur dann erreicht werden, wenn die
Rückzahlung der ausgeliehenen Gelder so sicher wie
möglich ist. Die Stiftung kann keine Investitionen
tätigen, die grundlegend nur ein Experiment sind, und
deshalb auch keine grosse Wahrscheinlichkeit haben, dass
sie zurückbezahlt werden. Die Kritik von Herrn Alter von
den Kreditkooperativen ist durch die Tatsache nicht
stichhaltig, dass die Ausweitung und Stärkung des
Systems der Kreditkooperativen in Polen - wie auch in
allen anderen osteuropäischen Ländern - in einem grossen
Mass die wirtschaftliche Position der jüdischen Massen
gestärkt hat.
(original:
that "the foundation was created in order to secure,
strengthen, and extend what was already in existence.
The foundation is the administrator of a fund that must
always be so applied as to guarantee the maintenance of
the institutions which we have created, or now support,
but that can only be accomplished if the repayment of
the monies advanced is made as certain as possible. The
foundation cannot make investments that are essentially
experimental and therefore do not offer great
possibility of being returned. Mr. Alter's criticism of
the credit cooperatives must be challenged by the fact
that the extension and strengthening of the credit
cooperatives' systems in Poland, just as in all other
Eastern European countries, has accomplished a great
deal in maintaining the economic positions of the Jewish
masses."
(Endnote 15: Akte 31, Sitzung des Stiftungsrats
("foundation council meeting"), 1/26/31 [26 Januar
1931])
Kahn berichtete auch, dass einiges schon unternommen
worden war, um die Institutionen der Arbeiterklasse und
die Kooperativen der Produzenten zu stärken, aber dass das
Resultat dieser Versuche viel zu wünschen übrig liess. Er
betrachtete das Industrialisierungsprogramm, das von Alter
vertreten wurde, als ein Experiment, das gegenüber dem
Stiftungsrat der Aufbaustiftung nicht gerechtfertigt
werden konnte.
[August 1931: JDC:
Schlusskampf zwischen Kahn und Alter]
Die Ereignisse erreichten nun ihren Höhepunkt. Im August
1931 erklärten Oungre und Kahn, dass, wenn Alter im
Stiftungsrat bleiben sollte, sie nicht weitermachen
würden. Sie sagten, Alter habe darauf gedrängt, dass die
Stiftung "sich eigentlich selbst auf die Arbeit mit den
Arbeiterkooperativen beschränken" sollte (was nicht wahr
war), und so hatte er gegen sie abgestimmt. Leonard L.
Cohen, der Vertreter der ICA, der Stiftungspräsident,
(S.47)
erklärte selbst, dass er nur widerwillig Sitzungen
präsidiere, wo Alter anwesend war, und die Mitglieder der
ICA dachten generell, dass das Experiment, Vertreter des
osteuropäischen Judentums an der Leitung der Stiftung
teilhaben zu lassen, ein Fehlversuch war. Nur unter
Schwierigkeiten gelang es dem JDC, die Vertreter der ICA
zu überzeugen, am Verwaltungssystem der Stiftung nichts zu
ändern, und "mit einem oder zwei aufmüpfigen
'C'-Mitgliedern weiterzufahren, die aber entfernt werden
sollten."
[16. Dezember 1931: JDC:
Alter bricht alle Kontakte zum Joint ab]
Am 16. Dezember 1931 gab Alter schliesslich sein für die
Öffentlichkeit vorgesehenes Rücktrittsschreiben heraus.
Alle Kontakte zwischen ihm und der Stiftung wurden
abgebrochen.
[JDC: Kahns Vorschlag
1929 und Alters Vorschlag 1931 haben fast denselben
Inhalt - Kahn vernichtet Alter aus persönlichen Gründen]
Ironischerweise war Alters Vorschlag in seiner Substanz
derselbe, den Kahn im Jahre 1929 schon gemacht hatte; in
Tat und Wahrheit sind die beiden Vorschläge fast
identisch. Und damit wir denken, dass das nicht gelogen
ist, dass Kahn im Jahre 1931 eigentlich seinen eigenen
Plan von 1929 abgelehnt hat und seine Meinung geändert
hat, so präsentieren wir hier seine eigenen Worte an einer
Sitzung des JDC-Exekutivkomitees vom 11. November 1931 -
zu einem Zeitpunkt, als der Streit mit Alter seinen
Höhepunkt erreicht hatte. Er beschrieb seinen Plan von
1929 als ein umfangreiches Programm "mit
Industrialisierung der jüdischen massen, eine
Spezialisierung, und dadurch eine Belebung des jüdischen
Handwerkskunst, eine umfassende Einarbeitung in
landwirtschaftliche Arbeitsmethoden, eine Wiederbelebung
der ruinierten, jüdischen Industrien, den Schutz der
zerfallenden Geschäftsunternehmen, die Weiterbildung der
Fabrikarbeiter; in einem Wort, eine generelle
Wiederbelebung aller wirtschaftlichen Berufe, mit denen
man bis heute den Lebensunterhalt verdienen kann, oder die
Einführung neuer und zeitgemässer Berufe für die jüdischen
Massen."
Dann führte er aus, "dass in einer Frühlingsnacht ein
Frost gefallen sein. Mitten in unseren Verhandlungen mit
den polnischen Behörden erhielt ich vom JDC ein Telegramm
mit der Warnung, nicht weiterzugehen", weil die
Wirtschaftskrise eingesetzt hatte. Nun, im Jahre 1931,
setzte er sich immer noch dafür ein, etwas gemäss den 1929
vorgeschlagenen Richtlinien in Gang zu setzen, und er
schlug for, dass ein Programm mit jährlich einer halben
Million Dollar gestartet werden sollte.
Es scheint nun irgendwie klar, dass Kahn Alter eher
persönlich ablehnte, und dass es nicht so sehr auf die
Politik drauf ankam. Die Ablehnung könnte auf der
Überzeugung beruhen, dass man Erfolge haben musste, dass
ein Industrialisierungsplan umgesetzt werden musste (S.48)
und zwar nicht durch die angeblich zerstrittenen,
haarspalterischen Theoretiker Osteuropas, sondern durch
die routinierten Geschäftsleute des Westens.
(Endnote 16: Ein ähnlicher Vorschlag wie der von Alter
wurde 1931 von Moses Burgin vom Zentralkomitee der
jüdischen Handwerker ("Central Committee of Jewish
Artisans") in Warschau vorgelegt).
[JDC: Kahns weitere
Arbeit: Kinderhilfe]
Man darf sich nicht vorstellen, dass Kahn sich in der
Krise nur mit den Kassen beschäftigt hätte. Indem er sich
bewusst wurde, wie wichtig es war, aus jedem Dollar das
Maximum herauszuholen, entschied er, sich auf die
Kinderhilfe zu konzentrieren. Von dem wenigen Geld, das
ihm 1932 zur Verfügung stand, gab er 62 % an verschiedene
Programme zur Kinderernährung, für Sommerlagerprogramme,
und für Berufsausbildungsprogramme und Handelsschulen. Vom
totalen Budget der polnischen Kinderhilfezentren trug das
JDC nur 17,57 % der Gelder bei, aber dies war
entscheidend. Im Jahre 1932 waren 8386 Kinder unter
konstanter Hilfe: 3053 wurden an Berufsschulen
ausgebildet; 20.050 wurden in 152 Sommerlager geschickt.
Da war zum Beispiel die Situation, dass 73 % der jüdischen
Kinder in Lodz Familien angehörten, die in einem einzigen
Raum leben mussten (83 % dieser Räume hatten keinen
Wasseranschluss). So finanzierte das JDC für die dortigen
Kinder das Schulessen. Während des Winters 1931/1932
wurden monatlich durchschnittlich 32.000 Kinder ernährt.
In Subkarpatien wurden in einer Hungersnot im Frühling
1932 2800 Kinder ernährt; dasselbe galt für 12.607 Kinder
im Distrikt Máramaros.
Zur selben Zeit fuhr Kahn fort, die ORT zu unterstützen,
(Fussnote: Organisation für Rehabilitation durch
Ausbildung ("Organization for Rehabilitation through
Training") - der englische Name ist vom original
russischen Namen übersetzt)
die TOZ, und die OSE, sie alle erhielten kleine Summen,
die der Situation nicht entsprachen. Er fuhr fort, die
weitere Leistung von Hilfsgeldern abzulehnen, obwohl er
seine Politik zumindest insofern geändert hatte, was die
Kinder und einige Gesundheitsorganisationen betraf. Er
sagte, "ich könnte weniger als 20 % für Hilfe ausgeben,
wenn ich nicht von Zeit zu Zeit Mahnungen aus New York
erhalten würde, dass ich mehr Hilfsarbeit leisten sollte."
(original:
He said, "I could spend less than 20 % on relief if I did
not from time to time get admonitions from New York that I
should do more relief work.")
[Frühjahr 1930: JDC:
Streit zwischen rumänischen Juden und Kahn um eine
Suppenküche in Tschernowitz]
Seine Politik kam wegen eines kleinen Vorfalls in ein
scharfes Rampenlicht, der sich im Frühjahr 1930 ereignete,
als Hyman von rumänischen Juden in New York gedrängt
wurde, etwas für eine Suppenküche in Tschernowitz beim
Morgenroit-Institut zu unternehmen. Nach einigen eher
ärgerlichen Korrespondenzen schrieb Kahn schlussendlich:
"Ich habe 300 $ für die Küche am Morgenroit-Institut
versprochen, (S.49)
seit Sie dieser Angelegenheit offensichtlich eine solche
Wichtigkeit zumessen, dass sie daraus eine Kampagne
machen. Natürlich muss ich auch etwas der Poalei Zion
geben, die eine ähnliche Küche hat. Ich hoffe nur, dass
diese erzwungenen Subventionen nicht in der ganzen
Bukowina verteilt werden."
(original:
"I have promised $ 300 for the kitchen at the Morgenroit
Institute, (p.49)
since you evidently place importance on this for campaign
purposes. Of course, I must also give something to the
Poalei Zion, which likewise has a kitchen. I only hope
that these forced subventions will not spread to the whole
of Bucovina."
(Endnote 17: Akte 127, 5/3/30 [3. Mai 1930]. Die Tatsachen
und Zahlen über die sozialen Bedingungen der polnischen
Juden haben ihre Grundlage auf Kahns Berichten - die
Zahlen über Lodsch im Speziellen sind aus dem
"Kurzbericht" ("condensed report"), April 1935, 44-5, S.
14-15)
[JDC: Hyman gibt das
Geld, um Organisationen zu helfen, das Kahn nie gegeben
hätte...]
Während in dieser Angelegenheit - und in anderen - der
Druck der Geldgeber bei Hyman bewirkte, dass Kahn zu einer
milderen Politik drängte, so war es bei Hyman
unzweifelhaft eine prinzipielle Sache, dass ein grösserer
Teil der Gelder für Hilfe eingesetzt werden sollte. "Im
Falle der Arbeit der OSE und der TOZ und des Polnischen
Kinderhilfsvereins ("Child Care Federation of Poland") war
es notwendig, angesichts des aussergewöhnlichen Leids und
der sehr schlechten wirtschaftlichen Bedingungen sehr viel
weniger auf absoluten und starren Haltungen zu verharren",
was die Nicht-Hilfe-Politik von Kahn anging.
(original:
"In the case of the work of the OSE and the TOZ and the
Child Care Federation of Poland, it was necessary, in view
of the unusual suffering and very bad economic conditions,
to go much more slowly in absolute and rigid insistence"
on the non relief policy than Kahn was doing).
(Endnote 18: Akte 42, 1/20/30 [20. Januar 1930], Hyman an
James A. Becker)
[1931: Feuer in Saloniki
- Überschwemmungen in Vilna - Feuer in Plungiany -
antisemitische Zerstörung von Borsa in Transilvanien]
Sogar Kahn gab im Jahre 1931 nach. Ganz neben der ganzen
Depression und den antisemitischen Ausbrüchen gab es da
noch Naturereignisse und vom Menschen herbeigeführte
Ereignisse, die zu beklagen waren. Im Juni 1931 zerstörte
ein Feuer in Saloniki einen grossen Teil des jüdischen
Quartiers. Da waren ausserdem Überschwemmungen in Vilna
und ein Feuer in Plungiany. Am 4. Juli 1931 zündeten
antisemitische Bauern in Transilvanien das mehrheitlich
jüdisch bewohnte Dorf Borsa an. Dies sind nur die
Hauptereignisse, die sich in Polen und Rumänien
ereigneten, wo die Juden am meisten zu leiden hatten.
[1931: Polen: 100.000
jüdische Familien in Hungersnot]
Kahn berichtete, dass die Hälfte, oder sogar mehr der
arbeitsfähigen Juden in Polen arbeitslos waren, und dass
100.000 Familien (die 75.000 Kinder miteinschlossen [??]
"am Rande der Hungersnot standen".
(Endnote 19: Executive Committee, 11/11/31 [11 November
1931])
70.000 jüdische Händler, und 11.000 Industrielle, so wurde
berichtet, mussten ihre Pforten schliessen.
(Endnote 20: 1931 Bericht über Polen, JDC-Bibliothek)
Juden in Polen litten Hunger "wie in der Zeit der
schlimmsten Hungersnöte."
(Endnote 21: Akte 36, Arbeit des AJDC im Jahr 1932 ("work
of the AJDC in 1932")
[1931: Rumänien: Juden in
Hungersnot - Missernten - keine Löhne - Anarchie und
antisemitische Ausschreitungen]
Die Situation in Rumänien verschlimmerte sich nun schnell.
Die Regierung ermunterte Rumänen, aktiv die Juden zu
konkurrenzieren, und Manius Regierung wandte nun alle
Instrumente an, um Filderman und die Zionisten zu
zerschlagen, die ihn politisch nicht unterstützt hatten.
Die schon erwähnten Missernten brachten die Verwaltung nun
komplett durcheinander; ein JDC-Bericht über Rumänien
erklärte, dass das Land "vor dem kompletten Zusammenbruch
stand".
(Endnote 22: Akte 19, 5/22/32 [22. Mai 1932])
Regierungsangestellte und die Armee erhielten zwischen 31.
Dezember 1931 und Juni 1932 für nur einen Monat Lohn. Die
Landwirtschaftspreise betrugen nur noch ein Viertel des
Niveaus des Jahres 1929. Filderman, der weiterhin die Last
der Öffentlichkeit trug (S.50)
mit der aktiven Ermunterung von Kahn im Hintergrund, war
nahe daran, selbst zusammenzubrechen. "Die Lehrer",
schrieb er am 5. Dezember 1932, "hielten ein Treffen ab
und entschieden, nicht mehr weiter zu unterrichten. Ihre
Löhne waren seit 4 1/2 Monaten nicht mehr ausbezahlt
worden. ... Dasselbe gilt für die Rabbiner. Die
Milchverkäufer verweigerten, den (jüdischen) Spitälern
Milch zu liefern."
Die Bauern, speziell in Bessarabien und in der Bukowina,
verweigerten es, ihre Schulden von nach 1930
zurückzubezahlen. Sie argumentierten, dass sie an die
Juden ihre Ware zu billig verkaufen mussten, und dass sie
von ihnen die Wahre zu teuer kaufen müssten. Es wurden nun
Bauernunruhen organisiert, die von antisemitischen Hetzern
organisiert waren, solche wie der berüchtigte Professor
Cuza und andere. Antijüdische Ausschreitungen wurden
alltäglich. Die altrumänischen Provinzen, Moldawien und
Walachei, die bis dahin relativ blühende Regionen gewesen
waren, litten nun wie die anderen auch.
[1931: JDC: Kahn gibt
seine strikte Bankenpolitik auf]
Angesichts von all dem erklärte Kahn, dass "ich
heute bei der Hilfsarbeit in einigen Teilen einen Wechsel
vornehme. Wir können nicht still und unbewegt das
Schauspiel der leidenden jüdischen Massen an uns
vorbeiziehen lassen. Mindestens müssen wir den leidenden
jüdischen Kindern etwas Hilfe leisten; wir müssen den
jüdischen Institutionen ein paar Subventionen geben, sonst
werden diese ohne unsere Hilfe die Krise nicht überleben."
[Hyman unterstützt den
Wechsel bei Kahn - Baerwald nicht]
Während Hyman mit Kahns Wechsel einverstanden war, gab es
andere, die darüber nachdachten, ob dies die richtige
Anpassung war. James N. Rosenberg schrieb am 27. Juli 1932
an Paul Baerwald: "Wenn ich der Empfänger von
Hilfsleistungen wäre, würde ich eher den Tod erleiden und
es wäre zu Ende, statt langsam über sechs Monate zu
sterben." Ähnlich schrieb Baerwald, dass
wir wissen, dass es da in
Polen Mengen von Juden gibt, die im Elend leben. Es ist
zweifelhaft, ob sogar grosse Summen einen Effekt hätten,
einen grossen Wechsel in ihren Lebensbedingungen
herbeizuführen. Ist jeder damit einverstanden, dass eine
liberalere Unterstützung für die Juden in Polen
definitiv dahingehend ein Beitrag wäre, ihnen die letzte
Mahlzeit zu bereiten? Wird nicht die jüdische
Bevölkerung in Polen durch die einfache Notwendigkeit zu
einer schnelleren Erfassung ihrerseits gezwungen sein,
im Rahmen ihrer eigenen Politik den Versuch zu
unternehmen, politisch und sozial ein Teil der
polnischen Struktur zu werden, statt an ihrer Isolation
festzuhalten?
(Endnote 23: Akte 26, 5/3/31 [3. Mai 1931])
Nur ein assimilierter westlicher Jude konnte
wahrscheinlich so etwas wie diese Zeilen schreiben und die
Natur des polnischen Judentums bemängeln. Es waren Worte,
die eine für Kahns Arbeit gefährliche Stimmung
wiedergaben. (S.51)
Er muss die pessimistische Stimmung gefühlt haben, die
sich nun reichlich durch seine eigenen düsteren Berichte
verstärkte. Wie auch David A. Brown im American Hebrew und
in der Jewish Tribune schrieb: "Wir könnten ebenso
versuchen, mit einem Suppenlöffel das hereinfliessende
Wasser in einem lecken Boot auszuschöpfen, als zu
versichern, das jüdische Problem in Polen zu lösen."
(Endnote 24: Ordner 121, 9/30/32 [30. September 1932])
[1932: Osteuropa: Kahns
Bericht über die leidenden Juden]
Kahn selbst berichtete, dass "das Bedürfnis in Osteuropa
und Zentraleuropa akut sei, überwältigend, hoffnungslos,
die Hoffnung stirbt."
(Endnote 25: Executive Committee, 12/4/1932 [4. Dezember
1932])
[Ende 1931: JDC: Kahn
appelliert für neue Aktion für die leidenden Juden in
Osteuropa]
Während es wahr war, dass Kahn fühlte, dass er seine
Berichte wahrheitsgemäss halten sollte, so war es ebenso
wahr, dass er seine eigene Organisation dazu ermuntern
musste, an deren Aufgabe festzuhalten. Er lobte das JDC
für seine vergangene Arbeit,
(Endnote 26: Executive Committee, 11/11/1931 [11. November
1931])
aber er betonte, dass es eine lange Zeit benötigen würde,
eine Generation oder mehr, um eine Umschichtung der in
Schieflage geratenen jüdisch-wirtschaftlichen Strukturen
abzuschliessen. Die Ostjuden waren durch die Krise mitten
in ihrem wirtschaftlichen Umwandlungsprozess getroffen
worden, die vom JDC eingeläutet worden war. Wenn das JDC
nun seine Arbeit stoppen würde, so wären viele Jahre
Arbeit verloren. Bei einer anderen Gelegenheit sagte er,
dass, wenn das JDC die Arbeit einstellen würde, so wäre
das Resultat in jedem Sinne des Wortes katastrophal.
(Endnote 27: Akte 39, 11/18/1931 [18. November 1931])
Juden würden noch mehr verarmen als zuvor. Die
wirtschaftliche Rehabilitation, die gerade begonnen hatte,
würde gefährdet, und die Hoffnungslosigkeit würde eine
Radikalisierung bewirken, und in der jungen Generation der
Juden würde sich Kommunismus ausbreiten, wenn von aussen
keine Hilfe käme. Er warnte, dass das Schicksal des
osteuropäischen Judentums nie ein isoliertes sein werde,
und ein demoralisiertes und verachtetes Judentum in Europa
würde eine Katastrophe für alle Juden der Welt sein,
miteingeschlossen für die Juden in Amerika.
[Kahns Postulat, dass
Sibirien ein Fluchtpunkt für das polnische Judentum sei
- Unterstützung von Waldman und durch das American
Jewish Committee AJC]
Kahn glaubte, dass Osteuropa mit der Zeit sich so
umstrukturieren würde, dass es den Juden möglich sein
würde, unter faireren Bedingungen zu leben. Sibirien
(sic!) wurde ebenfalls ein Flüchtlingshafen für das
polnische Judentum in Betracht gezogen, aber in der
Zwischenzeit sollte die Hilfe des JDC weitergehen.
Kahn wurde unter anderem von Morris D. Waldman vom
Amerikanisch-Jüdischen Komitee ("American Jewish
Committee", [AJC]) unterstützt. Trotz allem war Kahns
Position positiv, sogar seine Stimme war optimistisch.
Natürlich mussten längerfristige Pläne in der Zwischenzeit
in Papierform liegenbleiben, und die wirtschaftliche
Umschichtung, über die Kahn sich ausliess, kam nie
wirklich über ein Planungsstadium hinaus.
[Späte 1930er Jahre:
Aktion des AJC: Interventionen bei der polnischen
Regierung - keine Konzessionen der PL-Regierung an die
Juden]
Die Aufmerksamkeit musste (S.52)
auf die unmittelbaren Wege gerichtet werden, wie den
polnischen Juden zu helfen war. Einer dieser Wege war die
Intervention bei der polnischen Regierung. Dies war nicht
unbedingt ein Bereich des JDC, sondern jener des
Amerikanisch-Jüdischen Komitees [American Jewish
Committee, AJC]. In den späten 1930er Jahren, nachdem
Tytus Filipowicz, der polnische Minister, an Washington
ein Interview gegeben hatte, begannen langwierige
Verhandlungen mit dem Amerikanisch-Jüdischen Komitee,
während denen das Komitee versuchte, von der polnischen
Regierung einige Zugeständnisse abzuringen.
Diese Anstrengungen waren ergebnislos. Auch wenn die
Regierung eine Reserve von 464 Millionen Zloty in Gold
angehäuft hatte, so verweigerte die Regierung gemäss der
herrschenden Wirtschaftsdoktrin, etwas davon abzugeben.
Im April 1930 war der Sejm, das polnische Parlament, das
von der Opposition kontrolliert wurde, aufgelöst worden.
Unmittelbar danach organisierten sich die Bauerngruppen in
einer kräftigen, neuen, politischen Körperschaft, die
sicherlich nicht projüdisch war. In dieser prekären
Situation konnte die Regierung nicht wegen der unbeliebten
Juden belästigt werden.
Andererseits war die Haltung des JDC gegenüber den
Behörden gemischt - jegliche Art von Behörde - und war mit
Misstrauen erfüllt. Wie Warburg an den polnischen Minister
Stojowski schrieb: "Was auch immer die Regierung zu tun
entscheidet, so muss es uns befriedigen, und wir werden es
mit grossem Interesse weiterverfolgen."
(original:
"Whatever the government decides to do must be
satisfactory to us and we are watching with a great deal
of interest.")
(Endnote 28: Akte 121, 2/24/31 [24. Februar 1931])
Während man die Anstrengungen des polnischen Regierung
zuhanden der Juden anerkannte, hoffte er, dass praktisch
zuletzt die Regierungsmonopole doch noch für jüdische
Anstellungsverhältnisse geöffnet werden würden. In Tat und
Wahrheit tat die Regierung aber genau das Gegenteil. Indem
sie den antisemitischen Kritikern nachgab (nicht ganz
ungewollt, wie es scheint), so wurden die Juden noch
weniger bezahlt, und es wurden noch mehr von ihnen
entfernt.
(Endnote 29: Also, da war das Erziehungsministerium, das
[im Schuljahr] 1930/1931 über ein Budget von 300 Mio.
Zloty verfügte. Von dieser Summe bekamen die Juden 242.593
Zloty, oder weniger als 1/10 Prozent.
-- Im [Schuljahr] 1931/2 erhielten sie 189.011 Zloty;
-- im [Schuljahr] 1932/3 201.000,
-- und [im Schuljahr] 1933/4 waren es 197.000).
Im politischen Leben wurden die jüdischen Vertreter durch
Manipulationen und Wahlmanipulationen immer mehr aus dem
Sejm hinausgedrängt, ausser die Agudisten, die mit der
Regierung zusammenarbeiteten.
Die andere Weise, auf die Krise zu reagieren, lag darin,
den Gürtel enger zu schnallen, wie es die drastische
Politik gegenüber den Kassen darstellte. Dies war das
letzte Mittel. Was anderes konnte das JDC und die
Aufbaustiftung denn sonst tun?
[ORT und OSE versuchen,
Gelder vom JDC zu erhalten]
In dieser Krisensituation erhielten die verschiedenen vom
JDC unterstützten Agenturen nicht die Mittel, die sie
gemäss ihren Vorstellungen hätten erhalten sollen. Das OSE
und das ORT versuchten immer wieder, vom JDC zusätzliche
Gelder zu erhalten, indem sie (S.53)
Freunde oder Kontakte in Amerika benutzten, die in
einflussreichen Positionen sassen. Das OSE war nicht stark
genug, um sich durchzusetzen, aber das ORT hatte ein
amerikanisches Komitee; einige der Mitglieder der
JDC-Exekutive wie Alexander Kahn, einer der grossen
amerikanisch-jüdischen Arbeiterführer, und Henry
Moskowitz, waren auch beim Amerikanischen Komitee der ORT
Mitglied. Das ORT hatte vom JDC beträchtliche
Unterstützungsleistungen erhalten.
(Endnote 30: Das ORT erhielt im Jahr 1926 46.000 $, 1927
154.000 $, im Jahr 1928 80.200, und im Jahr 1929 49.800
$).
[1931: Das ORT bekommt
Gelder vom JDC für die Maschinen- und
Werkzeugs-Versorgungsfirma (Machine Tool Supply
Company)]
Das ORT hatte auch eine neue
Gesellschaft zur Versorgung mit
Maschinenwerkzeugen gegründet ("Machine Tool
Supply Company"), um europäische Zweigte des ORT mit
Werkzeugen und Maschinen zu versorgen. Das JDC benutzte
diese Dienste auf für seine Operationen in Russland. Als
die Depression kam, bekam die Gesellschaft grosse
Schwierigkeiten und wurde mit einer immer sich
vergrössernden Schuldenlast konfrontiert. Da das ORT nur
wenig eigene Reserven hatte, so beantragte es beim JDC
mehr Geld. Nach einer grossen Druckphase wurde ihm 7 % des
Budgets von 1931 (68.000 $) zugeteilt, zu einer Zeit, als
alle JDC-Löhne gekürzt wurden, als Teile des Personals
entlassen wurden, und als das JDC generell alle
Aktivitäten zusammenstrich.
Dies soll aufzeigen, dass das JDC gegenüber dem Druck
seiner Spender und Mitglieder seiner eigenen Komitees, die
ausserhalb Vertretungsaufgaben erfüllten und Einfluss
hatten, durchaus verletzlich war. Kahn und Hyman, speziell
letzterer, waren keinesfalls glücklich über diesen Stand
der Dinge. Bei einer Gelegenheit schrieb Hyman dem ORT,
dass
-- "zuerst die Verpflichtungen des JDC an Sie in einem
schriftlichen Abkommen festgehalten werden;
-- zweitens sind wir dem Abkommen mit Ihnen gerecht
geworden;
-- und drittens haben wir kein Geld."
(original:
-- "first, the obligations of JDC to you were embodied in
a written agreement;
-- second, we have lived up to our agreement;
-- and third, we have no money.")
(Endnote 31: File 13, 21. August 1931)
Aber für einmal hatte er keine andere Wahl. Das ORT bekam
seine Zuwendungen, und die waren höher, als was es
normalerweise hätte erhalten sollen.